aufrecht gehen (1): Aufstand in der Komfortzone

Nach dem Dampfablassen hätten jetzt Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung folgen können, mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen. InteressenvertreterInnen hätten mit Managern nach einem irgendwie vertretbaren Kompromiss gesucht, hätten externe Sachverständige hinzugezogen und nach zähen Sitzungen ein Ergebnis vorgelegt, für das sie, wie auch immer es ausgesehen hätte, mehr Prügel als Beifall bekommen hätten. Eigentlich hätte es so laufen müssen.

»Es gibt beim Bosch so ein Bild von Betriebsräten und Gewerkschaftern«, sagt Tobias. »Die treffen sich ständig zu irgendwelchen Sitzungen, trinken Kaffee und handeln irgendetwas mit dem Management aus. Zur Tarifrunde stehen sie mit der roten Fahne vorm Tor. Und meistens machen sie ihren Job auch ganz gut. Etwas anderes als Stellvertreterpolitik wird deshalb gar nicht erwartet.« In normalen Zeiten war das bequem und funktionierte, aber die Zeiten waren nicht mehr normal. »Diesmal mussten wir es anders angehen.«

Die Szene aus unserem Buch »aufrecht gehen« beschreibt die Situation im Juni 2015: Die Robert Bosch GmbH hatte beschlossen, einen ihrer traditionellen Kernbereiche, die Starter- und Generatorensparte zu verkaufen.1300 Beschäftigte in Stuttgart und Hildesheim wissen nicht, wie es weitergehen würde. Ihre Arbeitsbedingungen und Sozialstandards sind auch für deutsche Verhältnisse hervorragend – aber würde das so bleiben, wenn die chinesischen Investoren einsteigen? Klar ist: Der Verkauf ist nicht mehr zu verhindern. Also muss es darum gehen, die Standards für die Beschäftigten zu sichern – von der Kantine bis zur Betriebsrente.

Wie eine Handvoll Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in dieser Situation mit Organizing-Methoden die Belegschaft mobilisieren, wie sich Leute, die über Jahrzehnte nichts anderes als Stellvertreterpolitik gewohnt waren, plötzlich in ihre eigenen Belange einmischen – davon berichten wir in der Reportage »Aufstand in der Komfortzone« im Buch »aufrecht gehen. Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen«.

Betriebsrat und »A-Team« informierten in wöchentlichen Versammlungen über den laufenden Verhandlungsprozess. »Wir haben zusätzlich zur Betriebsratssprechstunde Inforunden organisiert, teilweise im Hof, teils in verschiedenen Abteilungen«, erinnert sich Anna. »An manchen Tagen hatten wir fünf, sechs, sieben Meetings an einem Tag.« Tatsächlich waren die Versammlungen nicht nur reine Informationsveranstaltungen: »Leute haben gesagt: Gib mir eine Aufgabe, sag mir, was ich machen soll.« Einige Aktive bildeten eine »Hintergrundkommission«, die die Betriebsräte bei den Verhandlungen begleitete und unterstützte. Die Entscheidung für 1.300 Kolleginnen und Kollegen in Deutschland und 7.000 weltweit sollten nicht zwei, drei Betriebsräte allein treffen.

Das Angebot einer zunächst kleinen Gruppe an die Vielen, sich an einem Konflikt zu beteiligen, der zwar hart, aber im Prinzip gewinnbar war, verhindert, dass die Leute in Apathie verfallen:

Nach dem Schock vom Juni, nach der spontanen Empörung und dem großen Dampfablassen war etwas geblieben: die Bereitschaft, sich gemeinsam mit anderen zu bewegen, um zu retten, was zu retten war. Und diese Bereitschaft ging weit über den Bereich der IG Metall-Mitglieder hinaus: Auch zahlreiche Ingenieure und andere technische Angestellte gingen auf einmal zu Versammlungen und beteiligten sich an Aktionen. Viele von ihnen hatten sich jahrelang lustig gemacht über die Deppen, die ein Prozent ihres Einkommens an die Gewerkschaft abführen, für etwas, was doch ohnehin alle bekamen – die tariflichen Leistungen, die betrieblichen Sozialstandards.

Wie sie am Ende erfolgreich sind und was, über das materielle Ergebnis hinaus, vielleicht bestehen bleibt und als neue betriebspolitische Kultur fortwirkt, könnt ihr nachlesen ab Seite 76 ff. in:

IG Metall Bezirk Baden-Württemberg (Hrsg.)
aufrecht gehen
Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen
VSA-Verlag Hamburg, 2018
160 Seiten | Hardcover | EUR 16.80
ISBN 978-3-89965-781-4

 

 

„Ökonomie jenseits der schwäbischen Hausfrau“

Wir möchten auf eine interessante Veranstaltung hinweisen:

„Ökonomie jenseits der schwäbischen Hausfrau“: Prof. Heiner Flassbeck zur Situation der Eurokrise

Donnerstag, 14. Juni 2018, 19:00 bis 21:00 Uhr in Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Seminarraum 1, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Heiner Flassbeck (Foto: Wikipedia)

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The Amazon strikes: Laboratory of resistance

Amazon, the No. 1 online retailer in the world is one of the most important trendsetter for work place organization and labour relations in the 21st century. And so the perspectives of industrial action, unionization and collective bargaining at that company are a crucial issue for the labour movement of today and tomorrow.

We will discuss these points at this year’s conference of the journal Historical Materialism: Research in Critical Marxist Theory, at the SOAS University in London on Friday, 2 p. m. re (look here for conference timetable).

For all who cannot attend or may be interested in a brief overview, here’s our presentation for download.

„The long struggle of the Amazon employees“ at this year’s Historical Materialism conference in London

We are proud to present our study on „The long struggle of the Amazon employees“ at this year’s Historical Materialism conference at the SOAS university in London, Friday 2 p. m. If you’re near by come around and participate.

Brave New Europe: Expertise with a radical face

Brave New Europe (www.braveneweurope.com) – ein wirklich lesenswerter Polit-Blog – geht heute an den Start. Das englischsprachige Online-Magazin, das „den neoliberalen Diskurs herausfordern“ will, bietet „Fachwissen mit einem radikalen Antlitz“, schreiben die Initiatoren in einer Pressemitteilung.
Zu den Autoren zählen u. a. Ann Pettifor, Heiner Flassbeck, Yanis Varoufakis, Wolfgang Streeck. Herausgeber ist die Genossenschaft European Democratic Media eG, eine Non-profit-Organisation, die nach einenen Anfgaben „den freien Fluss von Informationen und Diskussionen befördern (…) und die Europäischen Bürger auf diese Weise bestärken will, eine aktivere und besser informierte Rolle in der EU zu spielen“. In der Redaktion von Brave New Europe sitzen mit Mathew D. Rose, Rüdiger Rossig, Nick Shaxson und David Shirreff vier journalistische Profis, die etwas von investigativer Recherche und Wirtschaft verstehen.

Press release

BRAVE NEW EUROPE, the first trans-European website exclusively challenging the neo-liberal discourse, was launched today: www.braveneweurope.com
The website disseminates expertise with a radical face concerning European politics, finance, economics, and sustainability. Its goal is to be an interface between experts, activists and citizens, connecting theory and experience with practical politics.
A broad range of 120 eminent authors, including academics, NGOs, and activists are contributing to this unique European project. These include economists Ann Pettifor, Guy Standing, Mark Blyth, Heiner Flassbeck, Yanis Varoufakis, Steve Keen and John Weeks; activists Srećko Horvat, Tamara Ehs, and Olivier Tonneau; as well as Bhutan’s Programme Director for its Gross National Happiness Centre, Ha Vinh Tho, the philosopher Michel Feher, and the sociologist Wolfgang Streeck.
BRAVE NEW EUROPE will not only be presenting articles by its authors, but also its own podcasts and book reviews. Additionally there will be links to current information in other media and films. Its commentary section will enable a European wide debate among its readers concerning the creation of a democratic, sustainable and just Europe.
Facebook: www.facebook.com/BraveNewEurope

Nicht überall ist Bosch …

… ist die Überschrift eines Beitrags von Jörn Boewe im aktuellen express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit (1-2/2017) über die geplante Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes. Als Referenzmodell wird dabei eine Konzernbetriebsvereinbarung von Bosch zur Mobilarbeit angeführt. Hier ist seit 2014 geregelt, dass Beschäftigte, deren Arbeitsaufgabe dies sachlich zulässt, einen Rechtsanspruch haben, gelegentlich zu Hause zu arbeiten, sofern sie es wünschen. Diese Mobilarbeit ist grundsätzlich freiwillig und kann nicht angeordnet werden. Beschäftigte entscheiden, wann sie erreichbar sind und hinterlassen die Zeiten im Büro. Arbeit an Sonn- und Feiertagen ist verboten. Die Arbeitszeiten werden durch die Beschäftigten selbständig erfasst und als normale Arbeitszeit vergütet. Zuschläge für genehmigungspflichtige Mehrarbeit werden bezahlt, nicht aber für Spät- oder Nachtarbeit, sofern diese nicht explizit angeordnet wird.

Offenbar kommt die Regelung bei den Beschäftigten gut an, während sie für viele Führungskräfte eher gewöhnungsbedürftig ist. Man kann sie durchaus als Beispiel für eine gelungene betriebliche Regelung diskutieren, aus der sich lernen lässt. Ob sie als Blaupause für neue gesetzliche Standards dienen kann, steht auf einem anderen Blatt. Deutschland ist eben nicht Bosch: Was im baden-württembergischen Technologiekonzern mit seiner hohen tariflichen Absicherung, ausgeprägten Mitbestimmungstradition und gewerkschaftlich gut organisierten Belegschaft funktioniert, kann andernorts, wo Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung längst fragil geworden sind, wo Gewerkschaften schwach und Betriebsräte allenfalls Erfüllungsgehilfen von Geschäftsführungen sind, einen Dammbruch bei elementaren Schutzbestimmungen auslösen.

„The long struggle of the Amazon employees“ – published in English

Our investigation on „The long struggle of the Amazon employees“ has been published in English. Thanks to the Rosa-Luxemburg-Stiftung, Brussels office for the support.

https://www.dropbox.com/s/o0iqvwk8ozky6to/Long-struggle-of-Amazon-employees.pdf?dl=0