»Einige Arbeitgeber wollen Dinosaurier zum Leben erwecken«

Die aktuelle Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie, der Gesetzentwurf zu Werkverträgen und Leiharbeit oder das Thema Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf den Alltag der Beschäftigten – im Interview mit der Freitag steht Christiane Benner Rede und Antwort.

Nur wenige Sekunden dauert die Fahrt mit dem Aufzug in die 15. Etage der IG-Metall-Zentrale. Christiane Benners Büro liegt 80 Meter über den Dächern von Frankfurt am Main. Manche spotten, am 2003 fertiggestellten Hochhaus erinnere lediglich die rote Fassade daran, dass hier eine Gewerkschaft zu Hause ist. Für andere ist gerade die Größe Ausdruck neu gewonnener Stärke. Fakt ist: Die Jahrzehnte der Mitgliederverluste sind vorbei. Die IG Metall wächst wieder, 2015 das fünfte Jahr in Folge. Neue Mitglieder kommen längst nicht mehr nur aus der traditionellen Industriearbeiterschaft. Immer häufiger finden auch Ingenieure, Studierende, Monteure von Windkraftanlagen und Informatiker zur Gewerkschaft, freut sich Benner, die als zweite Vorsitzende die erste Frau an der Spitze der IG Metall ist.

der Freitag: Frau Benner, warum ist die IG Metall so bescheiden? Sie fordern in der aktuellen Tarifrunde fünf Prozent mehr Lohn, weniger als Verdi im Dienstleistungssektor!

Christiane Benner: Die Forderung ist das Ergebnis der Diskussionen in unseren regionalen Tarifkommissionen, der Vorstand hat 4,5 bis fünf Prozent vorgeschlagen. Mit fünf Prozent über zwölf Monate liegen wir am oberen Ende davon. Das ist von den Unternehmen finanzierbar und sichert den Beschäftigten einen fairen und verdienten Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung.

Aber die Exporte der Industrie florieren. Bei Daimler soll es im April für die Beschäftigten einen Bonus von 5.650 Euro geben – die höchste Gewinnbeteiligung in der Firmengeschichte. Doch dafür drücken die Unternehmen ihre Kosten mit Leiharbeitern und Werkverträglern. Muss sich die IG Metall mit Parallelwelten wie diesen abfinden?

Sicher nicht. Gerade läuft ja das Gesetzgebungsverfahren, um die Entwicklung bei Werkverträgen einzudämmen und da engagieren wir uns lautstark. Für fast alle Leiharbeiter gelten Tarifverträge. Außerdem gibt es betriebliche Vereinbarungen, wonach Leiharbeiter 100 Prozent des Lohns Festangestellter erhalten. Wir fahren eine Doppelstrategie und versuchen zudem, Kolleginnen und Kollegen in feste Arbeitsverhältnisse zu bringen. Bei BMW zum Beispiel haben wir das im vierstelligen Bereich schon geschafft.

In den Stammbelegschaften der großen Autohersteller ist die IG Metall gut organisiert. Anders sieht das bei vielen Zulieferern und Dienstleistern aus.

Wir haben in den letzten Jahren viel unternommen, um mit diesen Beschäftigten ins Gespräch zu kommen, sie zu organisieren und gute Regelungen durchzusetzen. Wir unterstützen sie bei der Gründung von Betriebsräten. Das gelingt uns immer besser – im Facility Management, bei den Entwicklungsdienstleistern, wo sich Ingenieure verstärkt der IG Metall zuwenden, oder auch bei den sogenannten Kontraktlogistikern.

Was sind Kontraktlogistiker?

Unternehmen, die als feste Vertragspartner mit einem Auftraggeber – etwa einem Automobilhersteller – bestimmte produktionsnahe Dienstleistungen erbringen. Das kann der An- und Abtransport von Material und Werkzeugen sein. Diese Dienstleister arbeiten überwiegend auf dem Betriebsgelände des Auftraggebers. Solche Tätigkeiten sind heute just in time in Produktionsabläufe eingetaktet, umfassen auch Vormontagen. Allerdings sind die Löhne niedriger als die der Stammbelegschaften.

Vor ein paar Jahren hieß es noch, diese Beschäftigtengruppen seien für Gewerkschaften praktisch nicht organisierbar.

Ja, aber heute ist es normal, dass Leiharbeiter an Betriebsversammlungen in den Entleihunternehmen teilnehmen und dass dort ihre Situation diskutiert wird. Das ist Ergebnis dessen, dass wir uns seit ein paar Jahren diese weißen Flecken der gewerkschaftlichen Organisation systematisch vornehmen. Zugleich gibt es Solidarität seitens der Stammbelegschaften, und das ist entscheidend. Klar ist doch, dass unterschiedliche Klassen von Beschäftigten nie gut sind.

Andrea Nahles will den Missbrauch von Werkverträgen stoppen, doch die Koalition streitet über ihren Gesetzentwurf.

Ja, weil vor allem die CSU den Entwurf blockiert – und das ist ein Unding! Aber das Wichtigste am Gesetz ist: Das Umetikettieren von Werkverträgen in Leiharbeit wird künftig nicht mehr erlaubt sein. In der Vergangenheit gab es immer wieder Fälle von Schein-Werkverträgen. Offiziell sollte das beauftragte Unternehmen ein bestimmtes »Werk« abliefern. Aber faktisch waren die Beschäftigten komplett in den Betriebsablauf des Auftraggebers eingegliedert. So etwas war schon immer illegal. Aber wenn es aufgedeckt wurde, zogen Firmen ganz schnell eine Arbeitnehmerüberlassungslizenz aus der Schublade und sagten: Dann ist es eben Leiharbeit. Das soll künftig nicht mehr möglich sein. Für uns wäre das ein Riesenerfolg. Gleiches gilt für die Höchstüberlassungsdauer bei der Leiharbeit.

Glaubt man gewissen Prognosen, dann stehen Sie bald vor einem ganz anderen Problem: Durch die Digitalisierung sollen 40 bis 50 Prozent aller Arbeitsplätze in den Industriestaaten wegfallen oder sich grundlegend verändern. Was halten Sie von diesen Prognosen?

Nicht viel. Ob aus den Prognosen Tatsachen werden, ist fraglich und die Entwicklung ist doch gestaltbar. Natürlich verändern sich die Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten. Es ist aber überhaupt nicht ausgemacht, wie sich das quantitativ auswirkt. Als in den 1980er Jahren das sogenannte »Computer Integrated Manufacturing« eingeführt wurde, haben auch viele befürchtet: Jetzt kommt die menschenleere Fabrik. Doch ganz im Gegenteil hat sich die Industrie als Arbeitgeber stabilisiert.

Alle reden von »Industrie 4.0«. Können Sie erklären, was das ist?

Nicht alles, was unter Industrie 4.0 gefasst wird, ist wirklich neu. Der Begriff steht für vierte industrielle Revolution und bedeutet im Kern, dass entlang der Wertschöpfungskette alles vernetzt wird – von der Produktion bis zur Instandhaltung. Das geschieht durch sogenannte cyber-physische Systeme.

Was heißt das für die alltägliche Arbeit?

Wenn Roboter in die Fertigung einbezogen werden, können bestimmte Tätigkeiten wegfallen. Andere verändern ihren Charakter, besonders wenn sie virtuell unterstützt werden und ein Computerprogramm vorgibt, welche Handgriffe zu tun sind. Wenn die Produktion komplexer wird, wird sie natürlich auch störanfälliger. Beschäftigte brauchen mehr Prozesskompetenz, mehr Verständnis, wie Abläufe entlang einer Fertigungslinie funktionieren.

Digitalisierung bedeutet auch mobiles Arbeiten und ständige Erreichbarkeit. Wie wollen Sie verhindern, dass der Arbeitstag völlig entgrenzt wird?

Wir haben in einigen Betriebsvereinbarungen schon das Recht auf mobile Arbeit festgeschrieben. Mobile Arbeitszeit muss erfasst und entsprechend bezahlt werden. Und wir haben ein Recht auf Abschalten und Nichterreichbarkeit für die Beschäftigten erreicht. Das ermöglich eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben.

Die Unternehmer sagen, smarte Fertigungstechnik sei nicht mit Normalarbeitsverhältnis und Achtstundentag vereinbar.

Einige Arbeitgeber wollen unter dem Deckmantel der Digitalisierung die Dinosaurier der Arbeitswelt wieder zum Leben erwecken. Wir haben in den Unternehmen bereits sehr flexible Arbeitszeitmodelle. Flexibilität ist keine Einbahnstraße. Die Gesundheit der Beschäftigten darf nicht aufs Spiel gesetzt werden: Wie ermögliche ich es ihnen, langfristig ihre Tätigkeit auszuüben und leistungsfähig zu bleiben? Dafür braucht es auch im Digitalzeitalter bestimmte Schutzmechanismen.

Zuletzt haben Sie für Crowd- oder Clickworker einen Mindestlohn ins Spiel gebracht. Das müssen Sie erklären. Wir dachten, es gäbe bereits einen gesetzlichen Mindestlohn …

Der gilt in diesem Bereich nicht. Denn bei der Vergabe von Aufträgen über Crowdsourcing-Plattformen kommt in der Regel kein Arbeitsvertrag mit entsprechenden Arbeitnehmerschutzrechten zustande, obwohl dort Arbeitsleistungen erbracht und dadurch enorme Gewinne erzielt werden. Deshalb müssen bei dieser Art von Arbeitsbeziehung Mindeststandards gelten wie in der analogen Arbeitswelt auch. Wir sind darüber mit Crowdworkern und Plattformbetreibern im Dialog.

Organisieren sich Crowdworker überhaupt in Gewerkschaften?

Wir haben die Online-Plattform faircrowdwork.org aufgebaut. Dort kann man sich über Rechtsfragen informieren und die Arbeitsbedingungen verschiedener Anbieter bewerten. Wir wollen damit Hilfe zur Selbsthilfe leisten und gemeinsam mit Crowdworkern ihre Arbeitsbedingungen verbessern.

Eine andere Gruppe, die bei der IG Metall in der Minderheit ist, sind Frauen …

Moment! Wir Frauen in der IG Metall lassen uns ungern als Minderheit bezeichnen, das ist abwertend.

Okay, jedenfalls waren die IG Metall und deren Vorläufer mehr als ein Jahrhundert lang von Männern geprägt: Maschinenschlosser, Automobilarbeiter, Stahlwerker. Was ändert sich mit Ihnen als erster Frau in der Chefetage?

Der Frauenanteil liegt aktuell bei 17,7 Prozent – Tendenz steigend. Wir haben schon in der Vergangenheit gute Arbeit geleistet und sind konsequent Themen wie Entgeltgerechtigkeit, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben und beruflicher Aufstieg von Frauen angegangen. Damit treffen wir die Bedürfnisse der Beschäftigten in den Betrieben – auch der Männer. Die IG Metall wird vielfältiger, unabhängig von der Geschlechterfrage. Wir organisieren mehr Angestellte, Ingenieure und Studierende und haben auch Mitgliederzuwächse bei Menschen ohne deutschen Pass. Es gelingt uns immer besser, verschiedenen Beschäftigtengruppen eine Heimat zu bieten. Und das muss uns jetzt auch mit der Internetcommunity gelingen.

Das Gespräch führte Johannes Schulten. Das Interview erschien am 24. März 2016 in der Wochenzeitung der Freitag