Zeit zum Umlenken

Tarifflucht und Dumpinglöhne: Droht auch bei uns ein Lkw-Fahrermangel wie in England?

Von Jörn Boewe der Freitag, 43/2021, 22. Okt. 2021

Auf Brummionline.com gibt es Diskussionen und jede Menge praktische Tipps. Hinweise zum „Parken in Industriegebieten“ liest man da, und über Supermärkte, auf deren Parkplätze auch ein Sattelschlepper passt. Man tauscht sich aus über elektrische Lkw-Modelle von Daimler und Volvo und die Vorzüge von Abbiegeassistenten. Doch dazwischen herrscht Aufregung: „Lkw-Fahrer am Limit“, heißt es da, und „Transportbranche schlägt Alarm: Kollaps der Lieferketten droht.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Bilder aus Großbritannien sind da nur wenige Wochen alt. Leere Supermarktregale, lange Schlangen vor Tankstellen, Einsätze der Armee, um die Grundversorgung zu garantieren: All das nur, weil es zu wenig Lkw-Fahrer gibt. Der Brexit und die darauf folgenden politischen Entscheidungen mögen das Problem dort verschärft haben, doch vor allem lag die Zuspitzung daran, dass den britischen Truckern der Nachwuchs fehlt: Zigtausende Brummifahrer gehen in Rente oder hängen ihren Lkw-Führerschein an den Nagel, weil sie einen anderen Job annehmen, nicht genug junge rücken nach. Das könnte auch hierzulande passieren. Weiterlesen

Eingeflogen, ausgebeutet, infiziert

Der Bundesregierung ist das Wohl der Agrarlobby weiterhin wichtiger als das der Erntehelfer

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, neues Deutschland, 7. April 2021

Der DGB warnt vor »unverantwortbaren Zuständen bei der Ernte«, die IG BAU spricht von »staatlich verordnetem Sozialdumping«. Wer dieser Tage aufmerksam die Zeitung liest, fühlt sich unweigerlich an das letzte Jahr erinnert. Wie nie zuvor waren die katastrophalen Bedingungen der ausländischen Saisonarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft in die mediale Öffentlichkeit geraten.

Um die pandemiebedingten Einschränkungen des Personenverkehrs zu den Nachbarländern zu umgehen, wurden im April und Mai 2020 Zehntausende osteuropäische Erntehelfer per Luftbrücke eingeflogen – zur »Sicherstellung der Ernährungs- und Versorgungssicherheit in Deutschland«, wie der Bauernverband dramatisch formulierte. Die landwirtschaftlichen Betriebe profitierten zudem von zahlreichen Sonderregelungen, wie der Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf zwölf Stunden. Da trotz aller staatlichen Anstrengungen nicht ausreichend ausländische Saisonarbeiter bereit waren, zu den hiesigen Bedingungen hierher zu kommen, erwarteten diejenigen, die es taten, ein erhöhter Arbeitsdruck und vielfach rechtswidrige Akkordregelungen. Auf zahlreichen Höfen kam es nachweislich zu Corona-Ausbrüchen.

Das ist kein Wunder. Nach außen hermetisch abgeschirmt, durften auch im Corona-Jahr 2020 noch bis zu 20 Personen in einer Unterkunft wohnen. Mindestens 300 landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte sollen sich nach einer Zählung der IG BAU zwischen April und Juli 2020 mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert haben. Ein trauriger Höhepunkt war der Tod eines 57-jährigen Erntehelfers auf einem Spargelhof in Baden-Württemberg am Osterwochenende. Wenn die letztjährige Erntesaison etwas Gutes hatte, dann, dass sie deutlich machte, wie abhängig die deutsche Landwirtschaft vom Import billiger Arbeitskraft ist.

Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten haupt- und nebenberuflich in landwirtschaftlichen Betrieben – knapp ein Drittel davon, etwa 300 000 – sind Saisonkräfte. Ohne sie wäre die Erntezeit nicht zu bewältigen – vom Spargelstechen im April bis zur Weinlese, die Mitte Oktober endet. Drei Viertel dieser Saisonkräfte kommen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Aufbauend auf dem Mindestlohngesetz, das zum 1. Januar 2015 in Kraft trat, gibt es für die Landwirtschaft einen Mindestentgelt-Tarifvertrag. Für 2021 liegt die Untergrenze bei 9,50 Euro die Stunde. Wenngleich diese in der Praxis häufig unterlaufen wird: So etwa im Mai vergangenen Jahres, als etwa 100 rumänische Saisonarbeiter auf einem Hof im rheinländischen Bornheim in einen wilden Streik traten, um die Auszahlung von vorenthaltenen Löhnen einzufordern.

Doch so stark das mediale Interesse am Leid der Erntehelfer auch war, es hielt nur einige Monate an. Bereits im Sommer wandte sich die überregionale Berichterstattung wieder anderen Themen zu. Anders die Lobbyisten der Bauernverbände. Nur so ist es zu erklären, dass die Politik trotz der skandalösen Verstöße gegen Hygiene- und Arbeitsschutzstandards nichts bis wenig unternimmt, um gesetzlich festgeschriebene Betriebskontrollen tatsächlich flächendeckend und konsequent umzusetzen. Auch viele der im Jahr 2020 eingeführten Ausnahmeregelungen wurden nicht oder nur unzureichend behoben.

Ein Beispiel ist die im Frühjahr geschaffene Möglichkeit für landwirtschaftliche Betriebe, die Sozialversicherungspflicht für Saisonarbeiter nicht wie bis dahin für 70 Tage auszusetzen, sondern für 115 Tage – in diesem Jahr dürfen es 102 Tage sein. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) wollte die Entscheidung gar als Beitrag zur Pandemiebekämpfung verstanden wissen. Anlässlich der Kabinettsentscheidung betonte sie, dass eine längere Beschäftigung der ausländischen Saisonarbeitskräfte zu weniger Personalfluktuation führe und damit die Mobilität reduziere.

»Eine ursprüngliche Ausnahmeregelung für Ferienjobs soll nun offenbar Standard für die Einstellung von Erntehelfer*innen werden«, kritisierte dagegen DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel, »Wieder einmal wird deutlich, was für Julia Klöckner Vorrang hat: eben nicht das Wohl derer, die für uns die Erntearbeit erledigen, sondern vor allem die Interessen der Agrarlobby.«

Allein die Bereitschaft vieler Süd- und Osteuropäer, sich auf dem deutschen Äckern abzurackern, scheint geringer geworden zu sein. »Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr«, klagt der Verbandsvorsitzende der ostdeutschen Spargelanbauer gegenüber der Tagesschau. Abhilfe schafft die gemeinsame Initiative der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, rund 5000 Erntehelfer aus Georgien nach Deutschland zu holen.

»Es ist immer wieder dasselbe: Die Erntebetriebe versuchen an den Lohnkosten zu sparen, wie es nur geht, um noch höhere Gewinne zu erzielen. Und der Staat hilft auch noch dabei«, kommentiert Harald Schaum, Vize-Chef der IG BAU. Er weist darauf hin, dass die Bundesregierung nach einer EU-Richtlinie die Möglichkeit habe, Agrarbetrieben vorzuschreiben, die Reisekosten für Erntehelfer zu übernehmen. Allerdings werde von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. So müssen die Georgier die Kosten für ihre Hin- und Rückflüge selber zahlen.

“A movement will defeat Amazon”

Agnieszka Mróz has been working in Poland at the Amazon warehouse near Poznan, a city with 550,000 inhabitants, about halfway between Warsaw and Berlin, since 2014. She works as a packer, is a delegate of the grassroots union OZZ Inicjatywa Pracownicza at Amazon and is a member of the Amazon Workers International coordinating committee. She was also a Polish delegate to a workers’ body negotiating an agreement with Amazon to establish a European Works Council. In her union she is also involved in building the feminist movement in the working class, which actively participated in the recent pro-choice mass mobilisations. Jörn Boewe spoke with her. The interview first appeared in German in the weekly newspaper Der Freitag and now, in English, on the blog Brave New Europe.

Vom Après-Ski in den Maschinenraum

„Vom Après-Ski in den Maschinenraum: Die Hotspots der Corona-Pandemie verlagern sich. Fast 1.000 Fälle in Schlachthöfen, 80 in einem Paketzentrum bei Heinsberg, knapp 70 im Amazon-Versandlager bei Hamburg. Während sich die Öffentlichkeit über ihr Freizeitverhalten die Köpfe heißredet, wird langsam klar, dass ein schnell wachsender Teil der Infektionen einen direkten Bezug zu Arbeitsplatz und Wohnsituation hat.“

Jörn Boewe im Freitag 19/2020 über die „Risikogruppe Dienstleistungsproletariat“.

Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten – reloaded

Dieser Tage ist die zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage unserer Analyse „Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten“ (Erstveröffentlichung 2015) erschienen. Seit im Frühjahr 2013 Beschäftigte in den Versandzentren von Bad Hersfeld und Leipzig erstmals die Arbeit niederlegten, ist viel passiert.Längst hat die Auseinandersetzung eine internationale Dimension angenommen, Amazon steht beispielhaft für den Versuch, die Arbeitsbeziehungen im „digitalen Kapitalismus“ neu zu gestalten – frei von Gewerkschaften, mit gläsernen Beschäftigten, die sich den unpersönlichen Benchmarks künstlicher Intelligenz unterordnen sollen.

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„Der Kampf gegen Amazon richtet sich nicht bloß gegen ein einzelnes Unternehmen. Es ist ein Kampf um die Seele unserer Demokratie und die Zukunft unserer Wirtschaft. Wird der reichste Mann der Welt diesen Kampf entscheiden, oder wird der Kampf zu unseren Gunsten ausgehen? Ich bin davon überzeugt, dass wir uns durchsetzen können, wenn wir zusammenhalten.“

(Aus dem Vorwort von Christy Hoffman, Generalsekretärin von UNI Global Union)
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Da das Interesse an unserer Publikation ungebrochen ist – von der ersten Auflage in deutscher und englischer Sprache wurden mehr als 7000 Exemplare vertrieben – haben wir uns gemeinsam mit der Herausgeberin, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, entschlossen, eine gründlich überarbeitete Neuauflage zu veröffentlichen. Die Broschüre kann hier bestellt und als PDF-Dokument heruntergeladen werden.

Enjoy Your Fight!

Ryanair Innerhalb nur eines Jahres haben Crews und Gewerkschaften beim Billigflieger einen Tarifvertrag erkämpft

Von Jörn Boewe, der Freitag, 47/2018

Die Dinge überschlagen sich bei Ryanair: Noch vor einem Jahr galt die irische Billigfluglinie als gewerkschaftsfeindlichstes Unternehmen der Branche in Europa schlechthin. Am 8. November kam die Nachricht, dass sich die Gewerkschaft Verdi und Ryanair auf die Eckpunkte eines Tarifvertrags für die rund 1.000 in Deutschland stationierten Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter geeinigt hatten. Fünf Tage später stimmten die Verdi-Mitglieder bei Ryanair mit großer Mehrheit für den Entwurf. Details sollen bis Dezember ausgehandelt sein.

Ryanair landing at Stansted, July 2016. Foto: Ronnie Macdonald, wikimedia

Nach allem, was bislang bekannt ist, bedeutet die Einigung für das Kabinenpersonal einen Sprung nach vorn: Lohnsteigerungen im dreistelligen Bereich und eine Vertragsgestaltung nach deutschem Arbeitsrecht. Abgesehen von den materiellen Verbesserungen gibt es aber noch einen anderen Aspekt, der die erstaunliche Wendung interessant macht. 129 Millionen Passagiere sind im vergangenen Jahr mit Ryanair geflogen – mehr als mit jeder anderen innereuropäischen Airline. Die meisten von uns saßen schon mal in einer Ryanair-Maschine – auch wenn man vielleicht nicht so gern darüber redet. Ryanair ist Teil der unmittelbaren Lebenswirklichkeit einer großen Zahl von Europäerinnen und Europäern. Wie in einem Zeitraffer hat die Ryanair-Story innerhalb kürzester Zeit Millionen Menschen klargemacht, zu welchen unwürdigen Ausbeutungspraktiken der moderne Kapitalismus selbst in Westeuropa fähig ist. Aber auch: wie sich Verhältnisse grundlegend ändern lassen. Weiterlesen

„Ökonomie jenseits der schwäbischen Hausfrau“

Wir möchten auf eine interessante Veranstaltung hinweisen:

„Ökonomie jenseits der schwäbischen Hausfrau“: Prof. Heiner Flassbeck zur Situation der Eurokrise

Donnerstag, 14. Juni 2018, 19:00 bis 21:00 Uhr in Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Seminarraum 1, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Heiner Flassbeck (Foto: Wikipedia)

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„The long struggle of the Amazon employees“ at this year’s Historical Materialism conference in London

We are proud to present our study on „The long struggle of the Amazon employees“ at this year’s Historical Materialism conference at the SOAS university in London, Friday 2 p. m. If you’re near by come around and participate.

Brave New Europe: Expertise with a radical face

Brave New Europe (www.braveneweurope.com) – ein wirklich lesenswerter Polit-Blog – geht heute an den Start. Das englischsprachige Online-Magazin, das „den neoliberalen Diskurs herausfordern“ will, bietet „Fachwissen mit einem radikalen Antlitz“, schreiben die Initiatoren in einer Pressemitteilung.
Zu den Autoren zählen u. a. Ann Pettifor, Heiner Flassbeck, Yanis Varoufakis, Wolfgang Streeck. Herausgeber ist die Genossenschaft European Democratic Media eG, eine Non-profit-Organisation, die nach einenen Anfgaben „den freien Fluss von Informationen und Diskussionen befördern (…) und die Europäischen Bürger auf diese Weise bestärken will, eine aktivere und besser informierte Rolle in der EU zu spielen“. In der Redaktion von Brave New Europe sitzen mit Mathew D. Rose, Rüdiger Rossig, Nick Shaxson und David Shirreff vier journalistische Profis, die etwas von investigativer Recherche und Wirtschaft verstehen.

Press release

BRAVE NEW EUROPE, the first trans-European website exclusively challenging the neo-liberal discourse, was launched today: www.braveneweurope.com
The website disseminates expertise with a radical face concerning European politics, finance, economics, and sustainability. Its goal is to be an interface between experts, activists and citizens, connecting theory and experience with practical politics.
A broad range of 120 eminent authors, including academics, NGOs, and activists are contributing to this unique European project. These include economists Ann Pettifor, Guy Standing, Mark Blyth, Heiner Flassbeck, Yanis Varoufakis, Steve Keen and John Weeks; activists Srećko Horvat, Tamara Ehs, and Olivier Tonneau; as well as Bhutan’s Programme Director for its Gross National Happiness Centre, Ha Vinh Tho, the philosopher Michel Feher, and the sociologist Wolfgang Streeck.
BRAVE NEW EUROPE will not only be presenting articles by its authors, but also its own podcasts and book reviews. Additionally there will be links to current information in other media and films. Its commentary section will enable a European wide debate among its readers concerning the creation of a democratic, sustainable and just Europe.
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