Eingeflogen, ausgebeutet, infiziert

Der Bundesregierung ist das Wohl der Agrarlobby weiterhin wichtiger als das der Erntehelfer

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, neues Deutschland, 7. April 2021

Der DGB warnt vor »unverantwortbaren Zuständen bei der Ernte«, die IG BAU spricht von »staatlich verordnetem Sozialdumping«. Wer dieser Tage aufmerksam die Zeitung liest, fühlt sich unweigerlich an das letzte Jahr erinnert. Wie nie zuvor waren die katastrophalen Bedingungen der ausländischen Saisonarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft in die mediale Öffentlichkeit geraten.

Um die pandemiebedingten Einschränkungen des Personenverkehrs zu den Nachbarländern zu umgehen, wurden im April und Mai 2020 Zehntausende osteuropäische Erntehelfer per Luftbrücke eingeflogen – zur »Sicherstellung der Ernährungs- und Versorgungssicherheit in Deutschland«, wie der Bauernverband dramatisch formulierte. Die landwirtschaftlichen Betriebe profitierten zudem von zahlreichen Sonderregelungen, wie der Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf zwölf Stunden. Da trotz aller staatlichen Anstrengungen nicht ausreichend ausländische Saisonarbeiter bereit waren, zu den hiesigen Bedingungen hierher zu kommen, erwarteten diejenigen, die es taten, ein erhöhter Arbeitsdruck und vielfach rechtswidrige Akkordregelungen. Auf zahlreichen Höfen kam es nachweislich zu Corona-Ausbrüchen.

Das ist kein Wunder. Nach außen hermetisch abgeschirmt, durften auch im Corona-Jahr 2020 noch bis zu 20 Personen in einer Unterkunft wohnen. Mindestens 300 landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte sollen sich nach einer Zählung der IG BAU zwischen April und Juli 2020 mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert haben. Ein trauriger Höhepunkt war der Tod eines 57-jährigen Erntehelfers auf einem Spargelhof in Baden-Württemberg am Osterwochenende. Wenn die letztjährige Erntesaison etwas Gutes hatte, dann, dass sie deutlich machte, wie abhängig die deutsche Landwirtschaft vom Import billiger Arbeitskraft ist.

Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten haupt- und nebenberuflich in landwirtschaftlichen Betrieben – knapp ein Drittel davon, etwa 300 000 – sind Saisonkräfte. Ohne sie wäre die Erntezeit nicht zu bewältigen – vom Spargelstechen im April bis zur Weinlese, die Mitte Oktober endet. Drei Viertel dieser Saisonkräfte kommen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Aufbauend auf dem Mindestlohngesetz, das zum 1. Januar 2015 in Kraft trat, gibt es für die Landwirtschaft einen Mindestentgelt-Tarifvertrag. Für 2021 liegt die Untergrenze bei 9,50 Euro die Stunde. Wenngleich diese in der Praxis häufig unterlaufen wird: So etwa im Mai vergangenen Jahres, als etwa 100 rumänische Saisonarbeiter auf einem Hof im rheinländischen Bornheim in einen wilden Streik traten, um die Auszahlung von vorenthaltenen Löhnen einzufordern.

Doch so stark das mediale Interesse am Leid der Erntehelfer auch war, es hielt nur einige Monate an. Bereits im Sommer wandte sich die überregionale Berichterstattung wieder anderen Themen zu. Anders die Lobbyisten der Bauernverbände. Nur so ist es zu erklären, dass die Politik trotz der skandalösen Verstöße gegen Hygiene- und Arbeitsschutzstandards nichts bis wenig unternimmt, um gesetzlich festgeschriebene Betriebskontrollen tatsächlich flächendeckend und konsequent umzusetzen. Auch viele der im Jahr 2020 eingeführten Ausnahmeregelungen wurden nicht oder nur unzureichend behoben.

Ein Beispiel ist die im Frühjahr geschaffene Möglichkeit für landwirtschaftliche Betriebe, die Sozialversicherungspflicht für Saisonarbeiter nicht wie bis dahin für 70 Tage auszusetzen, sondern für 115 Tage – in diesem Jahr dürfen es 102 Tage sein. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) wollte die Entscheidung gar als Beitrag zur Pandemiebekämpfung verstanden wissen. Anlässlich der Kabinettsentscheidung betonte sie, dass eine längere Beschäftigung der ausländischen Saisonarbeitskräfte zu weniger Personalfluktuation führe und damit die Mobilität reduziere.

»Eine ursprüngliche Ausnahmeregelung für Ferienjobs soll nun offenbar Standard für die Einstellung von Erntehelfer*innen werden«, kritisierte dagegen DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel, »Wieder einmal wird deutlich, was für Julia Klöckner Vorrang hat: eben nicht das Wohl derer, die für uns die Erntearbeit erledigen, sondern vor allem die Interessen der Agrarlobby.«

Allein die Bereitschaft vieler Süd- und Osteuropäer, sich auf dem deutschen Äckern abzurackern, scheint geringer geworden zu sein. »Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr«, klagt der Verbandsvorsitzende der ostdeutschen Spargelanbauer gegenüber der Tagesschau. Abhilfe schafft die gemeinsame Initiative der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, rund 5000 Erntehelfer aus Georgien nach Deutschland zu holen.

»Es ist immer wieder dasselbe: Die Erntebetriebe versuchen an den Lohnkosten zu sparen, wie es nur geht, um noch höhere Gewinne zu erzielen. Und der Staat hilft auch noch dabei«, kommentiert Harald Schaum, Vize-Chef der IG BAU. Er weist darauf hin, dass die Bundesregierung nach einer EU-Richtlinie die Möglichkeit habe, Agrarbetrieben vorzuschreiben, die Reisekosten für Erntehelfer zu übernehmen. Allerdings werde von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. So müssen die Georgier die Kosten für ihre Hin- und Rückflüge selber zahlen.

Organizing Ryanair

Ryanair ist aus gewerkschaftlicher Sicht der Inbegriff eines beschäftigtenfeindlichen und antigewerkschaftlichen Managements schlechthin. Über mehr als zwei Jahrzehnte war die Airline Taktgeber der Prekarisierung im europäischen Luftverkehr – der Aushöhlung tariflicher Standards und der Erosion von Arbeitermacht unter gezielter Ausnutzung der politisch vorangetriebenen Liberalisierung des Sektors. Lange hatten die europäischen Gewerkschaften wenig Erfolg, diesem race to the bottom etwas entgegenzusetzen. Erst der fast ganz Europa umfassende Arbeitskampf der Ryanair-Beschäftigten 2017/18 markiert hier eine Zäsur. Damit gelang es, Ryanair zur Anerkennung von Gewerkschaften zu zwingen und in verschiedenen Ländern Tarifverträge zu erkämpfen. Verschiedene Faktoren führten dazu, dass sich Ende 2017 ein window of opportunity öffnete. Nicht der einzige, aber ein entscheidender, Faktor war die strategische Entscheidung der Gewerkschaften, in eine systematisch vorbereitete und koordinierte Auseinandersetzung mit Ryanair zu gehen – mit Mut zum Konflikt und über Ländergrenzen und Berufsschranken hinweg.

Jörn Boewe/Florian Butollo/Johannes Schulten
Organizing Ryanair. Die transnationale Gewerkschaftskampagne bei Europas Billigfluglinie Nummer eins
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, März 2021

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Wo liegt Amazons Grenze?

… fragen wir in unserem Artikel auf der Seite Drei des neuen Freitag (7/2021):
„In 50 Jahren, so eine These des israelischen Historikers Yuval Noah Harari, werden sich die Menschen an die Covid-19-Pandemie erinnern als den „Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde“. Ob die Prognose aufgeht, wer weiß. Doch schon jetzt ist klar: Corona ist ein Transformationsbeschleuniger. Exemplarisch deutlich wird dies an dem Schub, den der Technologiekonzern Amazon durch die Pandemie bekommen hat. Während die Weltwirtschaft im vergangenen Jahr in die tiefste Rezession seit 1929 rutschte, schrieb der Onlinehändler aus Seattle 2020 das erfolgreichste Jahr seiner Geschichte. Amazon steigerte den Umsatz um 38 Prozent auf sagenhafte 386 Milliarden US-Dollar, was in etwa dem Bruttoninlandsprodukt von Israel oder Irland entspricht.“
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Vom Après-Ski in den Maschinenraum

„Vom Après-Ski in den Maschinenraum: Die Hotspots der Corona-Pandemie verlagern sich. Fast 1.000 Fälle in Schlachthöfen, 80 in einem Paketzentrum bei Heinsberg, knapp 70 im Amazon-Versandlager bei Hamburg. Während sich die Öffentlichkeit über ihr Freizeitverhalten die Köpfe heißredet, wird langsam klar, dass ein schnell wachsender Teil der Infektionen einen direkten Bezug zu Arbeitsplatz und Wohnsituation hat.“

Jörn Boewe im Freitag 19/2020 über die „Risikogruppe Dienstleistungsproletariat“.

Billiger Spargel ist zu teuer

Billiger Spargel ist zu teuer erkauft: „Schlaglichtartig macht das Coronavirus doppelte Standards für den Gesundheitsschutz der einheimischen Bevölkerung und ausländischer Saisonarbeitskräfte sichtbar. Aber diese doppelten Standards sind kein Versäumnis – nein, sie liegen in der Logik des Systems, das einen Großteil des Wohlstands der Bundesrepublik Deutschland ausmacht.“ Kommentar von Jörn Boewe im aktuellen Freitag. #spargel #wanderarbeiter #coronavirus #erntehelfer
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-schutz-kommt-zum-schluss

Zu nah an der Null

Dumping: Die Lufthansa will ihr Catering verkaufen. Dessen US-Angestellte arbeiten für Hungerlöhne. Von Jörn Boewe, Der Freitag, 43/2019, 23. Okt. 2019

Tausende Lufthansa-Beschäftigten in den USA arbeiten zu Armutslöhnen und unter Bedingungen, die in Europa unvorstellbar wären. Das geht aus einer Mitte Oktober von der Internationalen Transportarbeiterföderation und der US-Gewerkschaft Unite Here veröffentlichen Studie über die Lufthansa-Catering-Tochter LSG Sky Chefs hervor.

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Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten – reloaded

Dieser Tage ist die zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage unserer Analyse „Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten“ (Erstveröffentlichung 2015) erschienen. Seit im Frühjahr 2013 Beschäftigte in den Versandzentren von Bad Hersfeld und Leipzig erstmals die Arbeit niederlegten, ist viel passiert.Längst hat die Auseinandersetzung eine internationale Dimension angenommen, Amazon steht beispielhaft für den Versuch, die Arbeitsbeziehungen im „digitalen Kapitalismus“ neu zu gestalten – frei von Gewerkschaften, mit gläsernen Beschäftigten, die sich den unpersönlichen Benchmarks künstlicher Intelligenz unterordnen sollen.

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„Der Kampf gegen Amazon richtet sich nicht bloß gegen ein einzelnes Unternehmen. Es ist ein Kampf um die Seele unserer Demokratie und die Zukunft unserer Wirtschaft. Wird der reichste Mann der Welt diesen Kampf entscheiden, oder wird der Kampf zu unseren Gunsten ausgehen? Ich bin davon überzeugt, dass wir uns durchsetzen können, wenn wir zusammenhalten.“

(Aus dem Vorwort von Christy Hoffman, Generalsekretärin von UNI Global Union)
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Da das Interesse an unserer Publikation ungebrochen ist – von der ersten Auflage in deutscher und englischer Sprache wurden mehr als 7000 Exemplare vertrieben – haben wir uns gemeinsam mit der Herausgeberin, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, entschlossen, eine gründlich überarbeitete Neuauflage zu veröffentlichen. Die Broschüre kann hier bestellt und als PDF-Dokument heruntergeladen werden.

Enjoy Your Fight!

Ryanair Innerhalb nur eines Jahres haben Crews und Gewerkschaften beim Billigflieger einen Tarifvertrag erkämpft

Von Jörn Boewe, der Freitag, 47/2018

Die Dinge überschlagen sich bei Ryanair: Noch vor einem Jahr galt die irische Billigfluglinie als gewerkschaftsfeindlichstes Unternehmen der Branche in Europa schlechthin. Am 8. November kam die Nachricht, dass sich die Gewerkschaft Verdi und Ryanair auf die Eckpunkte eines Tarifvertrags für die rund 1.000 in Deutschland stationierten Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter geeinigt hatten. Fünf Tage später stimmten die Verdi-Mitglieder bei Ryanair mit großer Mehrheit für den Entwurf. Details sollen bis Dezember ausgehandelt sein.

Ryanair landing at Stansted, July 2016. Foto: Ronnie Macdonald, wikimedia

Nach allem, was bislang bekannt ist, bedeutet die Einigung für das Kabinenpersonal einen Sprung nach vorn: Lohnsteigerungen im dreistelligen Bereich und eine Vertragsgestaltung nach deutschem Arbeitsrecht. Abgesehen von den materiellen Verbesserungen gibt es aber noch einen anderen Aspekt, der die erstaunliche Wendung interessant macht. 129 Millionen Passagiere sind im vergangenen Jahr mit Ryanair geflogen – mehr als mit jeder anderen innereuropäischen Airline. Die meisten von uns saßen schon mal in einer Ryanair-Maschine – auch wenn man vielleicht nicht so gern darüber redet. Ryanair ist Teil der unmittelbaren Lebenswirklichkeit einer großen Zahl von Europäerinnen und Europäern. Wie in einem Zeitraffer hat die Ryanair-Story innerhalb kürzester Zeit Millionen Menschen klargemacht, zu welchen unwürdigen Ausbeutungspraktiken der moderne Kapitalismus selbst in Westeuropa fähig ist. Aber auch: wie sich Verhältnisse grundlegend ändern lassen. Weiterlesen

Organizing oversea: Debatte um Plattformkapitalismus und neue Wege gewerkschaftlicher Organisierung. Buenos Aires, 26. Nov. 2018

„Postkapitalismus oder ‚Rückkehr in die Zukunft‘?“ Unter diesem Motto diskutieren am Montag Hugo Yasky, Generalsekretär des argentinischen Gewerkschaftsbundes CTA,  Roger Rojas von der Gewerkschaft der Plattformbeschäftigten APP, Martín Unzué, Direktor des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften an der Universität von Buenos Aires, Luis Fernández von der Vereinigung der Taxifahrer, Roberto Baradael, Generalsekretär der Lehrergewerkschaft CTERA und Johannes Schulten vom Journalistenbüro work in progress aus Berlin in Buenos Aires.Mo., 26. Nov., 13:30
c/ Bartolomé Mitre 1984, Buenos Aires, Argentina

Billig ist zu teuer

Der Arbeitskampf bei Ryanair zeigt, wer die Zeche für das Geschäft mit den günstigen Flügen zahlt. Von Jörn Boewe, der Freitag 33/2018

Lange war dieser Streik überfällig, und er traf mitten ins Schwarze: Piloten von Europas wichtigster Billigfluggesellschaft Ryanair ließen am 10. August in Deutschland, Belgien, Irland und Schweden die Maschinen am Boden stehen. 400 Flüge von europaweit rund 2.400 wurden gestrichen, 55.000 Passagiere konnten nicht wie geplant befördert werden. Die Ryanair-Aktie brach um 4,2 Prozentpunkte ein. Seit Ende Juli das Flugbegleitpersonal des Billigfliegers in Belgien, Italien, Portugal und Spanien die Arbeit niederlegte, hat das Papier rund ein Fünftel seines Börsenwerts verloren. Ryanair-Chef Michael O’Leary, sonst berühmt für seine großmäuligen Sprüche, war ganz still.
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