Tuchfühlung mit Energiewende

Der Klimawandel ist längst da, die Medizin auch. Doch noch immer weigert sich der Patient, die Pillen auch zu schlucken. Zwei aktuelle Bücher leisten Überzeugungshilfe. 

Von Jörn Boewe, Magazin Mitbestimmung 12/2013

Die Sache könnte so einfach sein. Öl, Gas und Kohle sind endlich. Wenn man sie verbrennt, verursachen sie Treibhausgase und die gefährden das Klima. Mit erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne stehen, trotz ihrer Schwächen, brauchbare Alternativen zur Verfügung. Doch die Sache ist nicht so einfach, wie ein Blick in die Tageszeitungen der letzten Monate zeigt. Dass EU-Energiekommissar Günther Oettinger den Ausbau von Solar und Wind als Antreiber einer »Deindustrialisierung« diffamiert, möchte man noch als populistisches Geschwätz abtun. Wenn aber dem Großteil der Medien zur Energiewende wenig anderes einfällt als »Luxusstrom« (Spiegel), »gigantische Umverteilung« und »Öko-Planwirtschaft« (beides FAZ), gibt das schon zu denken.

Denjenigen, die beim Lesen solcher Diagnosen skeptisch werden, aber längst den Überblick über das Zustandekommen ihrer gestiegenen Stromrechnung verloren haben, sei die Lektüre von Claudia Kemferts Buch »Kampf um Strom« ans Herz gelegt. Für die an der Hertie School of Governance lehrende Energieökonomin befinden wir uns tatsächlich in einem solchen Kampf, einer »Fehde« zwischen Politik, Wirtschaftslobbyisten und »Ökologen« um die zukünftige Energiepolitik Deutschlands, die allerdings mit sehr ungleichen Waffen und haufenweise falschen Argumenten ausgetragen wird. Diese »Mythen« greift Kemfert auf, überprüft, rechnet nach, widerlegt und erklärt. Das geschieht vor allem nüchtern, bisweilen bissig, aber immer äußerst kenntnisreich und differenziert.

Beispiel »explodierende Strompreise«: Seit 2001 ist der Strompreis von 14,23 Cent pro Kilowattstunde auf 28 gestiegen. Daran lässt sich wenig drehen. Wer die Energiewende will, so Kemfert, müsse auch bezahlen.

Allerdings könnte es weniger sein: Denn 2011 sind die Preise an der Strombörse EEX in Leipzig um zehn bis 20 Prozent gefallen. Beim Verbraucher kam davon allerdings nichts an. Zwei Cent billiger könnte der Strom sein, so Kemfert, hätten die Energiemultis diese Effekte weitergegeben. Ähnliches gilt für die Befreiung zahlreicher Unternehmen von der EEG-Umlage. Dass einige energieintensive Industrien geschont werden, ist für sie durchaus vertretbar. Allerdings handele es sich dabei um eine klassische Subvention. Und Subventionen seien Aufgabe des Staates und nicht der Verbraucher. Kemfert: »Hier wird der Bürger betrogen.«

Auch die garantierten Vergütungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes werden anders als in anderen Ländern direkt von den Verbrauchern gezahlt. Die konventionelle Energieversorgung und ihre Folgekosten (Kohleverstromung, Atomkraft inklusive Sicherheits-, Entsorgungs- und Rückbauproblemen) wurde dagegen jahrzehntelang aus Steuermitteln gefördert.

Für Kemfert ist die Energiewende aber nicht nur ökologisch notwendig. Sie biete auch die Chance, den oligopolisierten Energiemarkt zu demokratisieren: Anders als bei Atom-, Kohle und Gaskraftwerken kann Energie aus Wind und Sonne in kleinen Mengen produziert werden. »Mit den neuen Energieformen drängen daher kleine und mittelständische Unternehmer in den Wettbewerb, die den großen Energieversorgern Marktanteile und Gewinne wegnehmen.« Überflüssig zu sagen, dass sich die Großen wehren, die in den letzten Jahren – Energiewende hin oder her – mehr als gut verdient haben: REW, E.ON und EnBW konnten ihre Gewinne zwischen 2002 und 2010 versiebenfachen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen – hier schreibt keine Ökoaktivistin. Kemfert war Beraterin von EU-Kommissions-Präsidenten José Manuel Barroso, sie gehörte dem Schattenkabinett des geschassten Bundesumweltministers und CDU-Spitzenkandidaten Norbert Röttgen im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2012 an und leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Von der anderen Seite des politischen Spektrums und mit ganz anderem Handwerkszeug gehen die taz-Journalisten Hannes Koch, Bernhard Pötter und Peter Unfried an die Sache heran. »Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen«, heißt ihr 2012 beim Frankfurter Westend Verlag erschienenes Buch. Mit den Mitteln der Reportage versuchen die Autoren zu »erzählen, wie die Energiewende Realität wird, wer sie vorantreibt und wer sie hintertreibt (…), wer sie finanziert und wer von ihr finanziert wird«. Bis 2050 will Deutschland seinen Strom zu 80 Prozent aus regenerativen Energiequellen erzeugen – »kein anderes Industrieland, dessen Fabriken, Krankenhäuser oder Zugverbindungen auf bezahlbare und sichere Stromversorgung angewiesen sind«, habe bislang eine derartige »Operation am offenen Herzen« gewagt.

Man spürt die typische Neugierde und Unbekümmerheit von Tageszeitungsjournalisten, wenn sich die drei Autoren auf die Reise zu den Brennpunkten und Protagonisten der Energiewende machen. Sie besuchen den ehemaligen Atomkraftwerksingenieur Jörg Müller, der als 22-Jähriger in Moskau studierte und dessen geplantes Praktikum im Kernkraftwerk Tschernobyl 1986 wegen der bislang größten zivilen Atomkatastrophe nicht mehr zustande. In den 90er Jahren begann Müller mit Projektierung und Bau von Windparks in Nordostbrandenburg. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 430 Mitarbeiter und überwacht und steuert von seiner Zentrale in der Uckermark 1300 Windkraftanlagen in Deutschland, Polen, Tschechien, Frankreich und Großbritannien.

Die Autoren fahren auf die Nordsee zum Versuchswindpark Alpha Ventus, interviewen den Chef der Deutschen Energieagentur Stephan Kohler und den Vorsitzenden der Solarworld AG Franz Asbeck, treffen sich mit oberschwäbischen Landräten, Energiegenossenschaftlern und Aktivisten einer Bürgerinitiative, die gegen den Bau einer Hochspannungsleitung kämpft, die norddeutschen Windstrom in die süddeutschen Industriegebiete bringen soll. Diese Unmittelbarkeit ist die Stärke des Buches. Koch, Pötter und Unfried gehen auf Tuchfühlung mit der konkreten Energiewende, wie sie sich tatsächlich vollzieht. Und das heißt vor allem: Mit den Akteuren, die sie vorantreiben und mit Forscher- und Unternehmergeist, Ingenieurskunst und politischer Klugheit den Grundstein für die Energieversorgung des 21. und 22. Jahrhunderts legen.

Das Buch hat aber auch Schwächen. So lässt die Begeisterung der Autoren für ihren Gegenstand die Diktion des Buches mitunter in eine Sprache umschlagen, wie man sie eher von einer Werbeagentur erwarten würde. Dass die Beschäftigten in Windkraft- und Solarindustrie ihren Beitrag zur Energiewende oft unter prekären und Niedriglohnkonditionen leisten, fehlt gänzlich. Es passte offenbar nicht ins Bild.

Claudia Kemfert: Kampf um Strom. Mythen, Macht und Monopole.
Hamburg, Murmann Verlag, 7. Auflage 2013. 140 Seiten, 16,90 Euro

Hannes Koch/Bernhard Pötter/Peter Unfried: Stromwechsel . Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen.
Frankfurt, Westend Verlag 2012. 192 Seiten, 12,99 Euro