»Wir wollen, dass Hillary gewinnt«

Scott Courtney, Vize der Gewerkschaft SEIU, über 15 Dollar Mindestlohn und die US-Wahl

Interview: Jörn Boewe, neues deutschland, 4. Nov. 2016
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Scott Courtney, SEIU, 13. Okt. 2016 in Berlin

Scott Courtney ist Vizepräsident der Service Employees International Union. Mit zwei Millionen Mitgliedern ist sie die größte Beschäfigtenorganisation in den USA und Kanada. Als Cheforganizer der SEIU hat Courtney seit 2012 maßgeblich am Aufbau der Bewegung »Fight for 15« mitgewirkt, die sich für einen gesetzlichen Mindestlohn von 15 Dollar in der Stunde einsetzt und vom Internetmagazin Slate als das »sowohl praktisch als auch philosophisch erfolgreichste progressive politische Projekt der späten Obama-Ära« bezeichnet wurde. Mitte Oktober war Courtney als Referent bei einem von der IG Metall organisierten »Transatlantischen Arbeitnehmerdialog« in Berlin.

Vor vier Jahren streikten Beschäftigte in einer New Yorker McDonald’s-Filiale, sie forderten einen Stundenlohn von 15 Dollar. Heute ist daraus eine landesweite Massenbewegung geworden, in mehreren Großstädten und Bundesstaaten gilt ein gesetzlicher Mindestlohn von 15 Dollar. Wie haben Sie das geschafft?

Am 29. November 2012 streikten 180 Beschäftigte nicht nur von McDonalds, sondern in diversen Fast-Food-Restaurants in ganz New York City. 180 von 180 000 Fast-Food-Beschäftigten in New York City. Ich betone das, weil man den Mut dieser Kolleginnen und Kollegen gar nicht hoch genug einschätzen kann. Sie hatten damals zwei Forderungen: Einen Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde und das Recht auf gewerkschaftliche Betätigung. Das war der Startschuss der Bewegung »Fight for 15«. Neun Monate später gab es Streiks in mehr als 100 Städten in den ganzen USA. Inzwischen haben 20 Millionen Beschäftigte durch diese Bewegung Lohnerhöhungen erkämpft, elf Millionen konnten ihren Stundenlohn von 7,25 auf 15 Dollar steigern.

Also eine Erfolgsgeschichte?

Klar. Aber immer noch arbeiten 42 Prozent der Beschäftigten in den USA für weniger als 15 Dollar die Stunde, was bedeutet: Sie können am Ende des Monats ihre Rechnungen nicht bezahlen. Wir haben also noch viel zu tun.

In Deutschland wird der gesetzliche Mindestlohn zum nächsten Jahr von 8,50 Euro auf 8,84 Euro erhöht, also um 34 Cent. Bei Ihnen lag der gesetzliche Mindestlohn 2012 bei 7,25 Dollar und Sie haben mehr als das Doppelte gefordert. Hat man Sie nicht ausgelacht?

Wir haben das nicht am grünen Tisch entschieden, sondern hatten lange Diskussionen mit den Beschäftigten: Was braucht ihr zum Leben? Wie hoch muss der Lohn zum Leben sein, wenn du 40 Stunden in der Woche arbeitest? Und wir haben das durchgerechnet, Lebensmittel, Wohnung, Steuern usw. und sind auf diese Zahl gekommen – als absolutes Minimum. Viele fanden das anfangs utopisch, ja lächerlich, auch in unserer eigenen Organisation. Aber nach dem ersten Streik im November 2012 haben sich nach ein paar Monaten Kolleginnen und Kollegen in sechs weiteren Städten dieser Forderung angeschlossen. Wenn wir gefordert hätten, den Mindestlohn von 7, 25 auf acht Dollar anzuheben, wäre gar nichts passiert, denn eine solche vermeintlich »realistische« Forderung hätte in den Augen der Kolleginnen und Kollegen buchstäblich nicht an ihrer Situation geändert. Ich meine, diese Leute riskieren dabei ihren Job – warum sollten sie streiken, wenn dabei fast nichts dabei herauskommt?

Was ist die Rolle der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU bei »Fight for 15«?

»Fight for 15« ist heute keine rein gewerkschaftliche Kampagne mehr, sondern eine soziale Bewegung, die von einer breiten Koalition von Kräften getragen wird. Es ging los mit ein paar McDonald’s-Beschäftigten in New York, zu denen wir als Gewerkschaft Kontakt hatten. Wir halfen ihnen, mit anderen Fast-Food-Beschäftigten in anderen Unternehmen und Städten in Verbindung zu treten. Wir unterstützten sie, indem wir unsere Erfahrungen und Infrastruktur bereitstellten. Mittlerweile ist daraus eine US-weite Koordination von Fast-Food-Beschäftigten geworden, die sich monatlich über Telefonkonferenzen austauschen. Und so wie sich die Sache ausweitete, kamen andere Themen auf die Tagesordnung. Im der Fast-Food-Sektor arbeiten viele Frauen und Immigranten. Die Leute haben angefangen, ihre Fragen aufzuwerfen. Für sie gehört das alles zusammen, sie sagen: Ich bin Fast-Food-Arbeiter, aber ich bin auch eine Frau, bin schwarz oder Latino. Und das hat wiederum in den Gewerkschaften dazu geführt, dass heute viel mehr als früher über Immigrantenrechte, die Situation von Frauen und rassistische Polizeigewalt diskutiert wird. Und das ist natürlich nichts, was wir strategisch geplant haben. So etwas kann man nicht planen. Es passiert, weil das Leben so ist.

Die Gewerkschaft SEIU hat sich frühzeitig auf eine Unterstützung für Hillary Clinton im Wahlkampf festgelegt. Warum nicht für Bernie Sanders?

Bernie Sanders hat sehr viel für die »Fight for 15«-Bewegung getan, aber er hat sie nicht erfunden. Im Jahr 2012, als wir mit den Streiks angefangen haben, waren weder Sanders noch Clinton für einen 15-Dollar-Mindestlohn. Inzwischen sind beide dafür, und das liegt an uns. Ich glaube, genau das ist unser Job: Das Zentrum der Politik verschieben und dann schauen, wie die Sachen umgesetzt werden können. Und da haben wir nach langen und kontroversen Diskussion entschieden, dass Hillary Clinton bessere Chancen hat, die Sachen umzusetzen als jeder andere Kandidat. Unsere Perspektive ist, dass Donald Trump die Wahl verliert und den Rechtspopulismus in den Abgrund reißt. Wir wollen, dass Clinton die Präsidentschaft gewinnt und hoffentlich eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses. Das wäre eine gute Basis für eine Debatte, wie wie der Reichtum in der weltgrößten Ökonomie künftig verteilt werden soll.