Der Politikjournalist Rainer Balcerowiak zeigt, wie aus einem positiv besetzten Wort ein Synonym für die Zerstörung des Sozialstaats wurde
Jörn Boewe, der Freitag, 21/17
Rente, Gesundheit, Asylrecht – spätestens seit Mitte der 1990er jagt in Deutschland eine Reform die nächste. Je mehr reformiert wird, desto ärger die soziale Schieflage der Republik. Die Folge: „tiefes Misstrauen gegen Reformversprechen aller Art“, konstatiert der Politikjournalist Rainer Balcerowiak in seinem neuen Buch Die Heuchelei von der Reform. Informativ wie kurzweilig schildert er, wie aus einem positiv besetzten Wort in den letzten zwei Jahrzehnten ein Synonym für die Zerstörung des Sozialstaats, die Privatisierung von Gemeingütern und den Abbau von Arbeitnehmerrechten wurde. Jenes daraus erwachsene „Misstrauen zu schüren, ohne eine auf Reformen abzielende Politik pauschal zu verunglimpfen“, sei „eines der wichtigsten Anliegen dieses Buches“, so der Autor.
Kenntnisreich und originell ist der historische Bogen, den Balcerowiak schlägt: von den Gracchischen Landreformen im antiken Rom über die protestantische Reformation, Bismarcks Sozialreformen, die „Lebensreformbewegung“, die Debatte in der SPD um „Reform oder Revolution“ vor dem Ersten Weltkrieg, Agrarreformen im globalen Süden sowie in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die jüngste Geschichte. Dabei besonders lesenswert ist seine Darstellung der Reformen zwischen 1969 und 1974 in Deutschland, das Erbe der sozial-liberalen Koalition also: das BAföG etwa begründete den Anspruch auf eine nicht zurückzuzahlende, staatliche Ausbildungsförderung, wenn das Einkommen der Eltern nicht für den Unterhalt studierender Kinder reichte. Kleinstrenten, wie sie Hausfrauen, die nur wenige Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, bekamen, hob der Staat mittels Zuschüssen auf ein existenzsicherndes Niveau.
Viele jener Maßnahmen muten heute nahezu utopisch an. Nachdem die Reformen bereits Mitte der 1970er unter Helmut Schmidt gestoppt worden waren, ging es in den 80ern mit der „geistig-moralischen Wende“ unter Helmut Kohl wieder rückwärts. Der große Erdrutsch kam unter Rot-Grün. Balcerowiak schafft es, die wichtigsten Eckdaten solcher Meilensteine wie Bahn-, Renten-, Gesundheits- und Hartz-Reformen auf wenigen Seiten anschaulich zusammenzufassen, was das Buch zu einem hilfreichen Nachschlagewerk neoliberaler Reformen in Deutschland macht.
Mit Blick auf die diesjährige Bundestagswahl klopft der Autor die Programme der Parteien ab und fragt: „Gibt es ein Reformlager?“ Seine Antwort ist differenziert: Bleibe es bei einer Großen Koalition, gehe es mit „Formelkompromissen zur Gesichtswahrung“ weiter. Im Falle von Rot-Rot-Grün würden zwar durchaus Verbesserungen für Arbeitnehmer, Rentner, mittlere sowie untere Einkommensgruppen möglich, etwa in der Wohnungspolitik. Einen fundamentalen Schwenk, der die jahrzehntelange Umverteilung von unten nach oben umkehrt, sollte von einem Mitte-Links-Bündnis jedoch niemand erwarten. Im Kapitel „Reformen, die es ganz bestimmt nicht geben wird“ nennt der Autor eine Reihe durchaus plausibler und ernüchternder Beispiele für Maßnahmen, die zwar „einer ökologischen und lebenskulturellen Entwicklung äußerst zuträglich wären, aber unabhängig von der Zusammensetzung der künftigen Bundesregierung keine Realisierungschancen haben“: deutliche Anhebung der Spitzensteuersätze, Lockerung der Schuldenbremse, Verbot von Rüstungsexporten, eine Rentenreform, die Altersarmut verhindert.
„Natürlich braucht diese Gesellschaft tiefgreifende Reformen“, so schließt Rainer Balcerowiak, „aber die wird uns niemand schenken.“
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