Debatte um Verbrenneraus: Warum die deutsche Autoindustrie den Anschluss verliert

Die Debatte ums Verbrenneraus ist populistischer Quatsch, ganz im Kommunikationsstil von Merz: ein Streit, der vorgibt, Zukunft zu planen, während er in Wahrheit nur alte Interessen mit Argumenten von vorgestern sichert. Von Jörn Boewe, Freitag 50/2025

Es ist einer der großen politischen Meilensteine unserer Zeit: Ab 2035 soll in der EU der Verkauf neuer Autos mit Verbrennungsmotor enden. Ein Datum, ein Gesetz, ein Schnitt – so zumindest die normative Erzählung. Doch in Wahrheit tobt eine viel tiefere Auseinandersetzung: nicht zwischen Benzin und Strom, sondern zwischen zwei industriellen Welten – und um die Frage, ob Europa in Zukunft noch dazugehört.

In Deutschland und Europa argumentieren Hersteller, Zulieferer und Lobbyverbände: Das Verbrenner-Aus dürfe man nicht überhasten, man brauche Ausnahmen für „hocheffiziente Verbrenner“, Hybride und E-Fuels. Projekte müssten weiterlaufen, gebundenes Kapital gesichert bleiben, Arbeitsplätze gerettet werden. Man dürfe den Standort nicht riskieren. Und kaum ein Morgen vergeht, ohne dass jemand einen Brief nach Brüssel schreibt, in dem er um „Technologieoffenheit“ wirbt.

Doch jenseits dieser Debatten über Daten, Fristen, Übergänge liegt ein Bruch. Die alte industrielle Grammatik Europas beruhte auf Motoren, Getrieben, Gusswerken, Abgassystemen – komplexe, über Jahrzehnte optimierte Fertigungsketten, zigtausende Arbeitsplätze, Zulieferernetze, Exporterfolge. Der Verbrenner war nicht nur Antrieb, sondern Taktgeber einer ganzen Produktionswelt.

Ein fahrender Rechner, nicht: ein Auto plus Software

Das neue Auto hat andere Gene. Es lebt von Batteriezellen, Leistungssoftware, Halbleitern, Datenplattformen. Künftig wird nicht mehr der Karosseriebauer die Margen kontrollieren, sondern der Zellhersteller, der Softwareentwickler, die Datenmanager. Und in diesen Feldern hat Europa weitgehend aufgehört, ernsthaft mitzuspielen.

Die Marktentwicklung zeigt: Der Wandel läuft. In Deutschland erreichten im November 2025 reine Elektroautos erstmals einen Anteil von 22,2 Prozent an allen Pkw-Neuwagen – Plug-in-Hybride zusammen mit reinen E-Autos bringen den Anteil elektrifizierter Fahrzeuge bereits auf über ein Drittel. Auch in der EU insgesamt steigt der Anteil der batteriebetriebenen Neuwagen: Bis Oktober 2025 lag der Anteil bei etwa 16,4 Prozent.

Diese Dynamik spricht für einen – wenn auch langsamen – Strukturwandel. Aber sie ist kein Beweis, dass alles in Ordnung ist. Denn: Man muss fragen: Wer profitiert? Und wer baut das neue Wertschöpfungsmodell auf?

China macht Industriepolitik aus einem Guss

Während in Asien (vor allem in China) der Wandel strategisch organisiert wurde – inklusive Rohstoffsicherung, Zellfertigung, vertikaler Integration – bleibt der europäische Ansatz diffus: pedantisch in den Regeln, schwach in der strategischen Substanz.

Manche Batteriefabriken entstehen, oft in Kooperation mit asiatischen Partnern – aber ob sie jemals das Rückgrat einer echten europäischen Batterieindustrie werden, ist offen. Software, Betriebssysteme, Plattformarchitekturen sind fast vollständig außerhalb Europas angesiedelt.

Das hat Folgen. Wenn Europa die vertikale Wertschöpfung verliert, bleibt irgendwann nur noch Montage und Markenzeichen übrig. Jene, die Batterien, Elektronik und Software kontrollieren, sitzen in Übersee. Es kommt aber noch deutlicher: Der ganze Konflikt um das Verbrenner-Aus richtet sich fast ausschließlich auf Technik, Daten und Übergangsfristen. Die eigentliche verkehrspolitische Frage – welchen Platz das Auto in einem zukunftsfähigen Verkehrsmodell des 21. Jahrhunderts einnehmen soll – wird kaum gestellt.

Wir sprechen über Antrieb, nicht über Mobilität. Wir verhandeln Motor gegen Batterie, nicht aber über Städte ohne Stau, über öffentliche Verkehrssysteme, über Radwege, über Shared Mobility, über Energieeffizienz und Ressourcenschonung. Selbst wenn der Verbrenner verschwände – das Auto bliebe. Und das bedeutet: Wir würden nur das alte Antriebssystem austauschen, nicht aber die autozentrierte Verkehrslogik hinterfragen.

Es ginge eigentlich um eine andere Verkehrspolitik

Dabei wäre das Moment der E-Mobilität eine Gelegenheit für mehr: für eine Verkehrspolitik, die nicht rund ums Auto gebaut ist, sondern um Erreichbarkeit, Nachhaltigkeit, gleichberechtigte Teilhabe – um Mobilität als Dienstleistung, nicht als Besitzstand. Stattdessen erleben wir eine Debatte, die so tut, als sei das Verbrenner-Aus bereits Industriepolitik. Nein – das ist populistischer Quatsch im Typ-Merz-Ton: ein Streit, der vorgibt, Zukunft zu planen, während er in Wahrheit nur alte Interessen mit Argumenten von vorgestern sichert.

Man redet über Ausnahmen, Abschreibungen, Förderprogramme. Man forciert Hybride, E-Fuels, Übergangstechnologien. Aber kaum jemand fragt: Was bedeutet es für Europa, wenn der Akku aus China, die Software aus Kalifornien kommt, die Rohstoffe aus Übersee stammen – und wir nur noch zusammenschrauben?

Wer den Wandel politisch und strategisch ernst nimmt, müsste heute zwei Schritte weiterdenken:

  • Eine echte europäische Batterie- und Zellwertschöpfungsstrategie. Nicht Projektförderungen, sondern garantierte Rahmenbedingungen: Rohstoffsicherung, Technologieentwicklung, ambitionierte Investitionsprogramme.
  • Ein europäisches Ökosystem für Fahrzeugsoftware und Datenplattformen – eine Alternative zu US- und chinesischen Tech-Giganten. Wer das nicht will, gibt Europa auf.

Bis diese Debatte geführt wird, bleibt das aktuelle Ringen eine reine Stellvertreterdebatte: zwischen Verbrenner-Lobby und E-Auto-Marketing, zwischen Industrie-Ängsten und Klimawunschdenken – aber nicht zwischen echten Entwürfen für eine nachhaltige, souveräne Mobilitätszukunft Europas.

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SZENARIEN: Drei mögliche Zukünfte der europäischen Autoindustrie

1. Die modulare Abhängigkeit (realistisch)

Europa baut auch 2040 noch Autos – gute, teure, exportstarke. Doch das elektrische Herz der Fahrzeuge stammt von anderswo. Batteriezellen kommen überwiegend aus China und Korea, die Software aus den USA, zentrale Halbleiter aus Ostasien. Die großen Marken existieren weiter, aber sie kontrollieren nicht mehr die Schlüsseltechnologien. Die Beschäftigung geht spürbar zurück, vor allem bei klassischen Zulieferern. Neue Jobs entstehen in IT, Wartung, Ladeinfrastruktur – oft schlechter bezahlt, schwächer organisiert. Das Auto bleibt wichtig, verliert in den Städten an Bedeutung. Europa ist industriell präsent, aber strategisch abhängig.

2. Die europäische Mobilitätsökonomie (wünschbar)

Europa nutzt das Verbrenner-Ende als industriepolitische Zäsur. Öffentliche Kapitalbeteiligungen sichern eigene Batterie- und Zellproduktion, eine quelloffene europäische Fahrzeug-Softwareplattform wird Standard, Recyclingketten schließen Rohstoffkreisläufe. Die Beschäftigung stabilisiert sich durch groß angelegte Transformationsprogramme mit öffentlicher Beteiligung unter demokratischer Einflussnahme. Der Pkw-Bestand sinkt deutlich, öffentlicher Verkehr, Sharing und integrierte Mobilitätsdienste wachsen. Das Auto bleibt Teil des Systems – aber nicht mehr dessen Zentrum. Europa ist kein globaler Hegemon, aber ein eigenständiger industrieller Pol.

3. Der kontrollierte Abstieg (pessimistisch)

Die europäische Verbrennerproduktion ist weitgehend verschwunden, aber die industrielle Kompetenz gleich mit. Fahrzeuge werden zunehmend auf fremden Plattformen gebaut, europäische Hersteller verlieren Marktanteile oder werden übernommen. Die Autoregionen Osteuropas geraten in eine neue Deindustrialisierung, in Westeuropa schrumpfen Wertschöpfung und Tarifbindung. Das Auto bleibt dominant, aber sozial gespalten: Premium für wenige, alte Verbrenner und neue Billigstromer für viele. Öffentlicher Verkehr bleibt unterfinanziert. Europa wird Absatzmarkt, nicht mehr Gestaltungsmacht.