»Die Demokratisierung der Wirtschaft ist überfällig«

Über Bespitzelung, Willkür und Respektlosigkeit im Einzelhandel und ein neues Buch zum »Fall Schlecker«: Ein Gespräch mit Achim Neumann und Katrin Wegener.

Johannes Schulten, junge Welt, 1. Feb. 2014

Achim Neumann (67) ist Politischer Sekretär bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und betreute jahrelang die Beschäftigten der Drogeriemarktkette Schlecker


Katrin Wegener (42) hat fast 20 Jahre bei Schlecker gearbeitet. Sie war Mitglied des Gesamtbetriebsrats und dort Sprecherin des Wirtschaftsausschusses

Die Schlecker-Insolvenz hat sich gerade zum zweiten Mal gejährt. Warum veröffentlichen Sie nun ein Buch über den Fall, Herr Neumann? Sollte ver.di die Energie nicht in aktuelle Auseinandersetzungen stecken?

Achim Neumann: Sowohl als auch. Natürlich sind wir momentan in neuen Kämpfen engagiert, etwa bei Amazon. Aber der Fall Schlecker ist besonders in der Rückschau und der Aufarbeitung sehr wichtig für die gesamte Gewerkschaftsbewegung. Die Erfahrungen, die Kraft und die Solidarität, die die Frauen aus ihren Kämpfen gewonnen haben, wird uns allen bleiben, weit über den Tag hinaus. Über 27000 Beschäftigte haben durch die Insolvenz ihren Job verloren, darunter rund 25000 Filialmitarbeiterinnen. Das rechtfertigt auf jeden Fall ein Buch, wenn nicht sogar mehrere.

Sie rechnen also mit Anton Schlecker ab?

Neumann: Es ist keine Abrechnung. Uns geht es vor allem darum aufzuklären, wie in Deutschland Discounter funktionieren.

Schlecker ist also »überall«, wie es im Buch heißt …

Neumann: Schlecker hat zwar im Umgang mit Betriebsräten, Beschäftigten und der Gewerkschaft ganz besonders harsche Methoden angewendet. Doch man findet ähnliche Vorgehensweisen auch bei Aldi, Norma oder Kik. Insbesondere die Discounter sind ein Paradebeispiel für eine Branche, in der mitbestimmte und geregelte Arbeitsbeziehungen nicht gewünscht sind.

Frau Wegener, Sie haben seit 1994 bei dem Drogeriemarkt in Berlin gearbeitet. Wie sind Sie dahin gekommen, und wie haben Sie die Zeit erlebt?

Katrin Wegener: Als ich als Aushilfe angefangen habe, war ich erst mal froh, überhaupt einen Job zu haben. Ich war gelernte Unterstufenlehrerin und hatte einen Abschluß aus der DDR. Der wurde in der Bundesrepublik allerdings nicht anerkannt. Als es dann um eine volle Stelle ging, hat Schlecker versichert, wir würden nach Tarif bezahlt. Doch das war nicht der Fall. Man hat uns mit falschen Versprechungen hereingeholt, weshalb Anton Schlecker im übrigen 1998 vom Stuttgarter Landgericht wegen »vollendetem und versuchtem Betrug« verurteilt wurde.

Doch es war nicht nur die falsche Bezahlung, die uns gestört hat, es waren auch die Arbeitszeiten. Wir hatten eine Sechs-Tage-Woche, Überstunden wurden nicht bezahlt, und wenn die Mitarbeiter nicht gespurt haben, gab es Abmahnungen bis hin zu Kündigungen.

Im Buch wird insbesondere der Mißbrauch der von Anton Schlecker genutzten Gesellschaftsform des e. K., des »eingetragenen Kaufmanns« angeprangert. Ist das nicht ein Einzelfall?

Neumann: Das gibt es auch bei anderen. Dieses Konstrukt ist seinerzeit vom Gesetzgeber für klein- und mittelständische Betriebe erfunden worden. Es war nie für Großbetriebe wie Schlecker gedacht. Das Problem an der Rechtsform des e.K., ist, daß die betriebliche Mitbestimmung in wesentlichen Dingen eingeschränkt ist. So hat etwa der Wirtschaftsausschuß des Gesamtbetriebsrats keine Möglichkeit der Kontrolle der finanziellen und wirtschaftlichen Entwicklung des Unternehmens, wie es etwa bei einer GmbH oder AG der Fall ist. Es gibt keine überprüfbare Gewinn- und Verlustrechnung. Das ist ein gravierendes Problem. Es kann nicht angehen, daß die Beschäftigten eines Betriebes einer bestimmten Größenordnung die Entscheidungen eines einsamen Kapitalisten nicht überprüfen können, wie sich diese auf den Laden und damit die Arbeitsverhältnisse auswirken. Am Ende bezahlen die Beschäftigten mit dem Verlust der finanziellen Absicherung ihrer Existenz.

Die mangelnden Kontrollmöglichkei­ten beziehen sich jedoch nicht nur auf den Betriebsrat, es fehlt auch jegliche gesellschaftliche Kontrolle. Denn falsche wirtschaftliche Entscheidungen haben oft katastrophale Folgen. Schlecker war die größte Firmenpleite im Handel in der Nachkriegsgeschichte. Von den 27000 Kolleginnen und Kollegen, die ihren Job verloren haben, sind zirka 9000 bis heute nicht vermittelt. Die Folgen der Fehlentscheidungen von Anton Schlecker wurden der Gesellschaft übergeholfen. Die hatte aber keine Möglichkeit, ihn beizeiten zur Räson zu bringen. Allein die Schulden bei der Bundesanstalt für Arbeit dürften zwischen 150 und 200 Millionen Euro liegen.

Im Buch ist oft vom »System Schlecker« die Rede, was ist das?

Neumann: Anton Schlecker hat expandiert wie ein Weltmeister. Es war ein Schneeballsystem. Dabei durften sich die Hersteller der Drogeriewaren, die Lieferanten, sozusagen als Finanzierer dieser Form der Expansion betrachten. Die Erstausstattung der neuen Märkte wurde quasi zum Nulltarif geliefert. Hinzu kam, daß die Industrie lange Zahlungsziele gewährte. Obwohl die von Schlecker versprochenen 1000 Neueröffnungen pro Jahr nie wirklich umgesetzt wurden – bis 2004/2005 gab es durchschnittlich zirka 500 Neueröffnungen jährlich –, schien das für die Lieferanten dennoch, wegen der erhofften Umsatzperspektiven, attraktiv. Sie machten das Spiel mit. Die Zahl der Märkte stieg, der Umsatz wuchs. 2004 hatte Schlecker deutschlandweit 11060 Filialen mit 40400 Beschäftigten. Bis dahin funktionierte das Schneeballsystem. Schlecker hatte die Ware längst verkauft, wenn er Wochen oder Monate später die Rechnungen bezahlen mußte. In der Zwischenzeit konnte er das Geld anderweitig investieren. Das war auch einer der Gründe dafür, daß Schlecker bis zur Insolvenz keine Bankkredite aufgenommen hatte.

Wegener: Hinzu kommt, es wurden ja keine neuen Filialen gebaut, sondern alte Immobilien übernommen. Oft waren das sogar umgebaute Wohnungen, vom Trottoir nur über Treppen erreichbar. Im Osten zog Schlecker auch in die Räume der Sero, der Sekundärrohstoff-Annahmestellen, ein. Da wurden früher Altpapier oder Gläser abgegeben. Auch hier wurde natürlich praktisch nichts investiert. Im Grunde genommen hat Schlecker nur ein paar Regale reingestellt.

Neumann: Ab 2005/2006 begann das Wachstum abzunehmen, 2007 ging es gegen null. Der Schneeball begann zu schmelzen. Und ohne Wachstum wurden auch die Lieferanten vorsichtiger mit der Gewährung ihrer Rabatte und schraubten die Zahlungsfristen herunter. Das war der Anfang vom Ende.

Wie steht es um die 27000 Entlassenen? Offizielle Zahlen liegen nicht mehr vor.

Neumann: Die Bundesanstalt für Arbeit hat im März 2013 ihre Erhebungen eingestellt. Wir wissen auf Basis ihrer letzten Zahlen, aber auch aus unseren eigenen Umfragen, daß viele der Vermittelten keinen adäquaten Arbeitsplatz gefunden haben. 9000 bis 9500 Beschäftigte sind noch immer nicht vermittelt. Große Probleme hatten vor allem die Kolleginnen über 50.

Wegener: Genau. Die Beschäftigten haben nicht nur von heute auf morgen ihre bisherige Existenz verloren. Viele kamen in Jobs unter, in denen sie heute erheblich weniger verdienen. Denn bei Schlecker hat ver.di im Jahr 2000 die Tarifbindung durchgesetzt. Genauso schlimm ist, daß sie für die 20 bis 30 Jahre harte Buckelarbeit nicht einmal eine Abfindung bekommen haben.

Wer ist nun schuld an der ganzen Misere?

Neumann: In erster Linie eindeutig die Familie Schlecker durch ihre einsamen wirtschaftlichen Fehlentscheidungen. Aber auch die Politik, insbesondere die FDP-Wirtschaftsminister in drei Bundesländern. An deren Widerstand ist die Transfergesellschaft, die mit einer Bürgschaft in Höhe von 70 Millionen Euro hätte lediglich abgesichert werden sollen, gescheitert.

Sie sagten gerade, daß das Modell Schlecker bereits 2007 am Ende war. Warum hätte die Politik mit 70 Millionen Euro Bürgschaft, also öffentlichen Mitteln reingehen sollen?

Neumann: Um Jobs zu retten. Der Insolvenzverwalter war ohne Transfergesellschaft nämlich gezwungen, nach der ersten die zweite Welle der Kündigungen auszusprechen. Insgesamt wurden rund 27000 Kündigungen exekutiert. In der Folge wurden mehr als 4000 Kündigungsschutzklagen eingereicht. Die damit entstehenden finanziellen Risiken haben die Lust der Investoren zu investieren maßgeblich beeinträchtigt.

Für die Öffentlichkeit kam die Schlecker-Pleite überraschend. Sahen Betriebsrat und Wirtschaftsausschuß im Vorfeld Anzeichen für die kommende Insolvenz?

Wegener: Der Tag X kam überraschend, sogar für die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses. Wir saßen im Betriebsratsbüro und haben Anrufe von Mitarbeitern bekommen, die die Nachricht im Fernsehen gesehen hatten. Als wir, aufgescheucht und empört, in der Zentrale in Ehingen anriefen, bekamen wir keine Verbindung. Alle Telefone waren besetzt, die ganze Leitung des Unternehmens auf Tauchstation.

Mitte der 90er Jahre war die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) bei Schlecker kaum vertreten. Die Beschäftigten arbeiteten meist allein in einer Filiale, Kontakt untereinander gab es wenig. Zum Schluß war die Drogeriemarktkette eines der am besten organisierten Unternehmen im Einzelhandel, mußte Betriebsräte akzeptieren und den Tarifvertrag unterschreiben. Wie ist HBV und später ver.di das gelungen?

Neumann: 1995 hatten wir zirka 200 Mitglieder – bei etwa 23000 Beschäftigten. Der Ursprung dieser Erfolgsgeschichte liegt im Rhein-Neckar-Gebiet. Dort haben sich Schlecker-Beschäftigte an die HBV gewandt, weil sie nicht ihre arbeitsvertraglich zugesicherten Tarifgehälter bekamen. Das Unternehmen hatte ja behauptet, er würde nach Tarif bezahlen. Die HBV hat dann weiter recherchiert, ob es sich um Einzelfälle handelt oder auch andere Regionen betrifft. Wir haben festgestellt, daß bundesweit sehr viele Beschäftigte betrogen wurden. Und damit war es ein Politikum.

Den Kolleginnen und Kollegen war klar, daß die auch zum System Schlecker gehörenden Probleme wie Bespitzelung, Willkür und Respektlosigkeit nur mit Betriebsrat gelöst werden können. In der Folge sind dann im Rhein-Neckar-Gebiet die ersten Betriebsräte für den Filialbereich gegründet worden. Im Vorfeld kam es zu massiven Behinderungen der Wahlvorstände, Kandidatinnen wurden mit Abmahnungen überzogen oder gar gekündigt.

Wie dort gab es bei fast allen Neugründungen riesige Konflikte. Doch die zunehmende Zahl der Betriebsräte war der Schlüssel dazu, daß auch mehr Beschäftigte in die Gewerkschaft eingetreten sind. Sie haben hier ihre Interessenvertretung gesehen. Deshalb haben zuerst die Baden-Württemberger Kollegen sich entschieden, eine Kampagne zu machen. Nur reichte dafür unser »hauptamtliches« Personal nicht aus, der Betreuungsaufwand bei der kleinteiligen Filialstruktur ist enorm. Wir sind dann mit den Kirchen in Kontakt getreten, aber auch mit dem baden-württembergischen Landtag. Unter anderen war Reinhard Bütikofer von den Grünen einer der »Paten« für die Bildung von Betriebsräten bei Schlecker. Unzählige Anfragen und Anträge wurden gestellt. So kam das Thema in die Medien. In der Folge haben sich dann bundesweit Politiker aller Parteien mit den Schlecker-Beschäftigten solidarisiert. Das ist einer der Gründe für den Erfolg gewesen. Wir sind nicht alleine als Gewerkschaft vorangegangen, sondern im solidarischen Bündnis mit anderen.

Nun ist die Wahl des Betriebsrats der erste Schritt, danach ging die Drangsalierung durch Schlecker jedoch weiter …

Wegener: Ich muß sagen, daß es bei meiner Wahl in Berlin kaum zu Behinderung kam. Als es uns gab, mußten wir allerdings alles, was wir betrieblich regeln wollten und mußten, einklagen. Arbeitszeitvereinbarung? Einigungsstelle. Urlaubsvereinbarung? Einigungsstelle. Ich habe trotzdem immer erst den kommunikativen Weg versucht. Mit manchen Vorgesetzten sind wir auch gut ausgekommen, doch sind die dann immer schnell versetzt worden. Trotzdem war ich immer mit Leidenschaft Betriebsrätin. Für ein gerechtes und respektvolles Umgehen mit uns Schlecker-Frauen.

Wie kam es eigentlich zur Bezeichnung »Schlecker-Frauen«?

Wegener: Wir alle hatten eine starke Identifikation mit dem Unternehmen, aber unsere Filiale war »unsere Filiale«. Die haben wir gehegt und gepflegt, und es waren auch »unsere« Kunden. Der Begriff Schlecker-Frauen bedeutet, daß zwar jede für sich in ihrer Filiale ihren Job gemacht hat, wir aber trotzdem eine Einheit waren. Es ging doch für alle gleichermaßen um Widerstand gegen denselben Anton. Versammelt um die Betriebsräte, im Austausch auf den Betriebsversammlungen, im Gesamtbetriebsrat und in unserer Gewerkschaft. Egal wo wir uns in Deutschland befanden, wir hatten alle das gleiche Ziel: gerechte Entlohnung, gerechte Arbeitszeiten und ein würdevolles Umgehen miteinander. Dafür haben wir 16 Jahre gekämpft. Das hat uns geprägt und zu Schlecker-Frauen gemacht.

Was bedeutet das Ende der Mitgliederhochburg Schlecker organisationspolitisch für ver.di?

Neumann: Innerhalb der Teilbranche Drogeriemärkte ist uns der einzige tarifgebundene Betrieb weggebrochen. DM, Rossmann und Müller sind nicht tarifgebunden. Mehr große existieren nicht – es ist schließlich eine der am stärksten konzentrierten Teilbranchen, die es gibt. Das zweite ist, daß die Schlecker-Beschäftigten jedes Jahr für die Verbesserung der Flächentarifverträge im Einzelhandel mitgekämpft haben. Weil ihre Basis ja der Einzelhandelstarifvertrag war, haben sie sich immer stark eingebracht. Sie sind mit den anderen Kolleginnen und Kollegen auf die Straße gegangen. Es ist also nicht nur ein Verlust in der Teilbranche. Große Teile der 12000 in ver.di organisierten Beschäftigten fehlen jetzt, wenn es in den Tarifrunden des Einzelhandels auf die Straße geht. Der ver.di-Fachbereich Handel hat einen Aderlaß erlitten, bezogen auf unsere Kraft und Durchsetzungsfähigkeit. Wir konnten die Mitgliederverluste dort allerdings durch Bewegungen in anderen Teilbranchen aufgefangen. 2013 konnten wir im Fachbereich Handel einen Rekordzuwachs von 25000 Neumitgliedern verzeichnen.

Was kann man aus dem Fall Schlecker lernen? Stichwort Insolvenzen …

Neumann: Hertie, Quelle, Neckermann, Schlecker, zuletzt Praktiker und Max Bahr – die extrem hohe Zahl der Insolvenzen allein im Handel zeigt, daß offenbar die Unternehmensführung und besonders die Unternehmensentwicklung auf andere Füße gestellt werden müssen. Eine breitere Diskussion darüber, daß eine entwickelte demokratische Gesellschaft auch eine Demokratisierung der Wirtschaft, also des Kernbereichs gesellschaftlicher Macht, erfordert, ist überfällig. Es kann doch nicht angehen, daß wir eine zweigeteilte Gesellschaft haben. Die eine, die parlamentarische, ist demokratisch geordnet, die andere, die der Wirtschaft, nicht. Große Teile des Wirtschaftslebens werden zur Privatsache und für die Demokratie zur Sperrzone erklärt. Hier finden wir ausschließlich einsame Entscheidungen von autokratischen Entscheidern. Auch die Mitbestimmung nach geltendem Recht greift zu kurz. Ohne eine wirklich gleichberechtigte, paritätische Mitbestimmung der Beschäftigten in den Unternehmen bleibt die Demokratie in einer Gesellschaft unvollkommen.


Achim Neumann (Hrsg.): Der Fall Schlecker. Über Knausern, Knüppeln und Kontrollen sowie den Kampf um Respekt und Würde. Die Insider-Story. VSA-Verlag, Hamburg, 2014, 216 Seiten, 14,80 Euro