Daimler und IBM experimentieren mit internem Crowdsourcing – mit der Ausschreibung von Projekten und Ideenwettbewerben. Manches Tool wird wieder eingestampft, gleichwohl hat Crowdsourcing das Potential, die Arbeitswelt massiv zu verändern.
Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin MItbestimmung, 02/2016
„Great decision!“, brachte ein Softwareentwickler seine Freude im internen IBM-Blog auf den Punkt. „Das ist eine exzellente Wendung, die unsere Produktivität automatisch erhöhen wird“, schrieb ein anderer. „Ich bin begeistert, dass so radikale Schritte unternommen werden“, ein dritter. Binnen kürzester Zeit standen 40 begeisterte Kommentare auf der Seite.
Was war geschehen? Im März 2015 stellte der Softwareriese sein Crowdsourcing-Programm „Liquid“ de facto ein – zur großen Freude vieler Mitarbeiter: „Wir schaffen die Leistungsvorgaben bei ‚Liquid‘ ab“, heißt es in dem Blogeintrag. Der mit dem System verbundene „Aufwand, zu prognostizieren, zu dokumentieren und Ziele zu verwalten“, habe „erhebliche Belastungen“ produziert, häufig größer als der Nutzen. „Liquid“ bleibe zwar als „Kanal“ zur Lieferung von Arbeitsergebnissen erhalten, solle aber nur noch verwendet werden, „wo es angemessen ist“.
Gute Nachrichten für die IBM-Entwickler gab es auch zu einem zweiten Crowdsourcing-Tool: „Wir beerdigen die ‚Blue-Cards‘-Anwendung.“ So hieß das Leistungsbewertungsprogramm, mit dem die Entwickler ihre Arbeitsschritte detailliert erfassen mussten. Wer schnell war, konnte Punkte sammeln. „Jetzt glauben wir, dass wir reif genug sind, dass die Praktiker nicht mehr jedes Ergebnis dokumentieren müssen“, hieß es nun ganz nüchtern und: „Konzentrieren Sie sich stattdessen darauf, die Arbeit zu erledigen.“
Stolperfalle Kontrollwahn
Das war ein drastischer Kursschwenk, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit und der IT-Fachpresse. Als der Softwareriese sein internes Crowdsourcing-Programm „Liquid“ ein paar Jahre zuvor eingeführt hatte, sah das Presseecho noch ganz anders aus: Von einer „Revolution in der Arbeitswelt“ (Der Spiegel) war die Rede, „IBM erfindet sich neu“, schrieb das Branchen-Onlinemagazin IT-Zoom. Beobachter waren je nach Standpunkt wahlweise begeistert über die unermesslichen Möglichkeiten der „Verflüssigung“ von Unternehmensprozessen oder befürchteten den Vernichtungsschlag gegen das europäische Modell geregelter Arbeitsbeziehungen.
Worum ging es? Ende des letzten Jahrzehnts hatte IBM begonnen, weltweit Wettbewerbe zur Softwareentwicklung über eine Internetplattform namens „Liquid“ auszuschreiben – intern und extern. IBM-Angestellte konkurrierten plötzlich mit Freelancern. „Liquid“ und „Blue Cards“ waren Teil eines Konzepts, das IBM-Vizepräsident Patrick Howard 2010 in seinem Aufsatz „Working in the open“ unter dem Namen „Generation Open“ bekannt gemacht hatte: „GenO“ sei „ein neues Paradigma für die Lieferung von Unternehmensanwendungen über ein offenes weltweites Talentnetzwerk, unterstützt von Technologien der neuen Generation“, hieß es darin. Neben blumigem Marketing-Sprech enthielt das Papier knallharte betriebswirtschaftliche Zielvorgaben: 30 Prozent schnellere Auslieferung, 20 Prozent höhere Qualität und Kostensenkung um 33 Prozent jährlich.
Bei den „Liquid“-Ausschreibungen sicherte sich IBM das Recht, alle eingereichten Arbeitsergebnisse zu verwerten, bezahlt wurden aber nur die Erstplatzierten, alle anderen gingen leer aus. Nun steckt kein Entwickler monatelang Arbeit in ein Projekt, wenn die Aussicht verschwindend ist, überhaupt eine Vergütung zu bekommen. Auch deshalb konnten über „Liquid“ keine komplexen Projekte ausgeschrieben werden, sondern nur stark fragmentierte Teilaufgaben mit überschaubarem Arbeitsaufwand – von einer halben Stunde bis höchstens zwei Wochen. Das Problem war nur: IBM-Produkte sind in der Regel komplex. Die Dinge einfach zu machen erwies sich in der Praxis als kompliziert.
„Die Leute stöhnten unter diesem System“, erinnert sich Herbert Rehm, ehemaliger IBM-Betriebsrat und Softwareingenieur. „Damit ich am Ende ein brauchbares Ergebnis bekam, mussten die Teilschritte nach einem standardisierten Schema genau spezifiziert und zugeschnitten werden. In der Regel war der Aufwand dafür erheblich höher, als wenn ich die Aufgabe gleich selbst erledigt hätte.“ Und damit nicht genug: Die Erfassung der einzelnen Arbeitsschritte in einem engmaschigen Kontrollsystem steigerte den Anteil unproduktiver Tätigkeiten zusätzlich: „Reporting ohne Ende war das“, so Rehm. „Die Leute sind vor lauter Berichten kaum noch dazu gekommen, ihre Arbeit zu machen.“
Da wird unheimlich viel durchprobiert
Ist das interne Crowdsourcing also tot? „Sicher nicht“, sagt Rehm, der IBM inzwischen verlassen hat und heute als IG-Metall-Sekretär hoch qualifizierte Beschäftigte bei Zeiss in Aalen betreut. Seine Rückschau ist differenziert: „All diese Tools und Methoden haben den Grad der Arbeitsteilung in völlig neue Dimensionen getrieben – unabhängig vom Sourcingkanal.“
„Ganz klar nein“, sagt auch Jan Marco Leimeister, Professor für Wirtschaftsinformatik in Kassel und St. Gallen. „Fragt man in Unternehmen herum, hört man zwar oft: ‚Crowdsourcing ist bei uns kein Thema.‘ Schaut man genauer hin, stellt man aber fest: Da wird unheimlich viel durchprobiert, was de facto Crowdsourcing ist, auch wenn es anders genannt wird.“ In der Regel sind das keine spektakulären Megaprojekte, sondern sehr spezifische Anwendungen, eingebettet in neue Formen der Arbeitsteilung und Projektorganisation. So etwa, wenn IT-Unternehmen Software, die von Montag bis Freitag in sogenannten „Sprints“ entwickelt wurde, übers Wochenende von einer „Crowd“ externer Dienstleister testen lassen. Auf Basis der Testergebnisse startet dann am Montag – wieder im Unternehmen – die nächste „Sprint“-Phase.
Crowdwork hat das Potenzial, die Arbeitswelt massiv zu verändern, ist sich Leimeister sicher. Allerdings gebe es „momentan immer noch wenig belastbare empirische Erkenntnisse, wie tief diese Veränderungen bereits gehen“. Mehr Klarheit schaffen soll das in diesen Tagen gestartete Forschungsprojekt „Crowd und Cloud“ (siehe Randspalte) der Universität Kassel und des Instituts für Sozialforschung München, an dem auch Marco Leimeister beteiligt ist.
„Agiles Arbeiten“ bei Daimler
Dass Crowdsourcing weit über die Softwareentwicklung hinausgeht und durchaus nicht zwangsläufig auf die Ausschreibung genau vorgegebener und fragmentierter Aufgaben hinauslaufen muss, zeigt das Beispiel Daimler: Der Automobilhersteller führte 2008 – ohne Beteiligung des Betriebsrates – sein Tool „Business Innovation“ ein, eine virtuelle Sammelbox für „innovative Ideen“ der Beschäftigten. „Das können völlig unausgereifte und abseitige Sachen sein“, erklärt Bernd Öhrler, Betriebsrat in der Stuttgarter Konzernzentrale den Unterschied zum klassischen betrieblichen Vorschlagswesen, wo es um konkrete Verbesserungen mit betriebswirtschaftlich genau berechenbaren Einspareffekten geht: „Wie kann ich ein Teil, das bislang mit vier Schrauben befestigt wurde, auch mit dreien anschrauben?“
Was dem Betriebsrat nicht gefällt: Im klassischen Vorschlagswesen gibt es für jede angenommene Idee eine Prämie – bei „Business Innovation“ nur ein Dankeschön. Dabei gingen aus dem Projekt durchaus einige erfolgreiche Geschäftsideen hervor: die Carsharing-Tochter car2go, die Smartphone-App moovel oder der Mietwagenservice MB Rent. „Wir sind der Meinung, dass auch hier Vergütung stattfinden sollte, wenn die Idee zu einem Geschäftsmodell und Nutzen für das Unternehmen führt.“
Insgesamt ist „Business Innovation“ – vielleicht auch deshalb? – ein Thema, das bei Daimler „so nebenher läuft“, meint Öhrler. „Es gibt eine Community, vor allem bei Angestellten, die darüber Ideen einreichen, und es gibt andere, die das nicht interessiert.“ Manche betrachten es als karrierefördernd und nutzen die Plattform zur Selbstdarstellung. Doch es gibt keine Vorgaben, sich zu beteiligen, nicht mal moralischen Druck.
Dennoch spielen Crowd-Lösungen durchaus eine Rolle beim Autobauer: vernetzte Arbeitsplätze, Intranet, virtuelle soziale Netze. Doch ist das stärker eingebettet in den Kontext neuer Formen von Arbeitsorganisation, weniger fixiert auf einzelne IT-Tools – „agiles Arbeiten“ heißt das neue Zauberwort. Beispiel: sogenannte „Open-Space-Meetings“ zu bestimmten Themen. „Da wird über das Intranet in die Runde gefragt: Wir wollen dies und das verändern. Wer hat dazu Ideen?“ Dann sitzen 100 Leute ganz unvirtuell und analog in einem Konferenzsaal zusammen und diskutieren. Der Unterschied zur herkömmlichen Besprechung: Sie kommen aus allen Abteilungen, jeder hat dasselbe Rederecht, ob Vorstand oder Praktikant. Hier wie da geht es darum, die Intelligenz und Kreativität der „Crowd“, also der gesamten Belegschaft, optimal zu nutzen, über Ressortgrenzen und Hierarchieebenen hinweg.
Der Betriebsrat verschließt sich dem nicht, meint Öhrler, sieht aber auch Risiken: „Wir schauen schon genau, wo klassische Mitbestimmungsthemen tangiert sind: Arbeitszeit, Leistungsbewertung, Besetzungsprozesse in Projekten.“ Eine Pilot-Betriebsvereinbarung zur „agilen Arbeit“ ist in Vorbereitung. Das Wichtigste sei für den Betriebsrat, auf dem Laufenden zu bleiben über die neuen Prozesse: „Mit dabei sein, zuhören, was aus der Belegschaft kommt, Erfahrungen sammeln – darum geht es im Moment.“