Jörn Boewe, Der Freitag, 22. Dez. 2016
Die „Affäre Holm“ stellt die Glaubwürdigkeit des neuen, rot-rot-grünen Berliner Senats in Frage – so ähnlich kann man es in den letzten zwei Wochen in zahlreichen Artikeln der Berliner Lokalpresse lesen. Das ist richtig, wenn auch anders, als es die meisten Kommentatoren meinen. Denn ihre Glaubwürdigkeit würde die Koalition nicht verlieren, wenn sie an Holm festhielte, sondern wenn sie ihn fallen ließe. Abgesehen vom verständlichen Wunsch einflussreicher immobilienwirtschaftlicher Kreise und des dazugehörigen konservativen politischen Milieus gibt es dafür keinen Grund.
Checken wir die Fakten. Zunächst wurde gegen Holm ins Feld geführt, dass er 1989 für einige Monate Offiziersschüler beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR war. „Inzwischen hat sich die Debatte verlagert“, schreibt der Tagesspiegel. Eine hübsche Formulierung, die an den berüchtigten Stasi-Satzbaustein „es wurden Maßnahmen ergriffen“ erinnert. Passivkonstruktionen haben den Vorteil, dass man seine eigene Verantwortlichkeit so schön dahinter verstecken kann. Jetzt heißt es: Die paar Wochen Grundausbildung im Handgranatenwerfen und Kalaschnikowschießen beim Stasiwachregiment seien nicht das Problem. Aber Holm habe 2005 seinen künftigen Arbeitgeber, die Humboldt-Universität getäuscht, als er auf einem Einstellungsfragebogen die Frage nach einer früheren hauptamtlichen Tätigkeit für das MfS verneinte. Er hat also gelogen und ist deshalb für ein öffentliches Amt nicht geeignet.
Lebenslanges Berufsverbot
Das klingt irgendwie ganz plausibel. Aber ist es das wirklich? Bislang ist nicht mal klar, ob Holm bewusst falsche Angaben gemacht hat. Ob fünf Monate Wehrdienst bei der Stasi in der Wendezeit 1989/90 eine hauptamtliche Tätigkeit beim MfS bedeuteten, ist auch unter Historikern umstritten. Aber nehmen wir für einen Moment zuungunsten Holms an, er hätte den Fragebogen vorsätzlich falsch angekreuzt.
Nach der üblichen Einstellungspraxis im öffentlichen Dienst hätte ein simples „Ja“ bei der Frage nach hauptamtlicher Stasitätigkeit für ihn nicht nur bedeutet, dass man ihm die Stelle als Lehrbeauftragter an der Humboldt-Uni verweigert hätte. Nein: eine wissenschaftliche Laufbahn an jeder deutschen Universität wäre ihm auf Dauer verbaut gewesen. Holm hätte keine Gelegenheit bekommen, die Umstände seines persönlichen Falls zu erörtern: Ich war 18, nur fünf Monate dabei, bin dort auch wegen meiner Familie gelandet und habe im Übrigen hauptsächlich langweilige Berichte aus volkseigenen Betrieben ausgewertet.
Nun, man mag dagegenhalten: so sind die Vorschriften nun mal und wer in Deutschland Formulare falsch ausfüllt, den soll die ganze Härte des Gesetzes treffen. Aber Hand aufs Herz: Ein lebenslanges Berufsverbot als Strafe für eine fünfmonatige Episode als junger Erwachsener, ohne Beweis irgendeiner besonderen persönlichen Schuld? Hält das irgendjemand für verhältnismäßig?
Im Visier der AKG
Es ist ein Armutszeugnis für all jene, die Holm jetzt im Brustton selbstgerechter moralischer Überlegenheit anprangern, dass keiner von ihnen den Arsch in der Hose hat zu sagen: Hoppla – vielleicht sollten wir diese Art der Verwaltungspraxis, diese merkwürdig undifferenzierte Art der Auslegung des deutsch-deutschen Einigungsvertrages mal überprüfen? Lebenslanges Berufsverbot – das ist immerhin ein schwerer Eingriff in Artikel 12 des Grundgesetzes. Kann das sein – ohne Gerichtsverfahren, ohne Würdigung einer konkreten persönlichen Schuld, ohne Würdigung auch von entlastenden Momenten? Lebenslanges Berufsverbot, weil einer als junger Mensch fünf Monate Offiziersschüler beim MfS war?
Die Debatte hat bislang wenig Erhellendes über Holm ans Licht gebracht, aber umso mehr über den geistig-moralischen Zustand jener, die die veröffentlichte Meinung in dieser Stadt und dieser Republik dominieren. Seine Ausbildung beim MfS hatte Holm bereits 2007 in einem Interview mit der taz öffentlich gemacht – ohne dass ihn jemand „enttarnt“ hätte, ohne Not, aus freien Stücken. Das nenne ich Charakterstärke, die ich bei jenen, die ihn heute einen Lügner und Feigling nennen, nicht erkennen kann.
Zwei Monate bevor Andrej Holm am 1. September 1989 seine Grundausbildung beim Wachregiment Feliks Dzierzynski begann, um sich auf eine Karriere bei der „Auswertungs- und Kontrollgruppe“ (AKG) in Berlin vorzubereiten, war ich ins Visier der AKG der Stasi-Bezirksverwaltung Rostock geraten. Die Akte über die „Operativinformation: Negative Tätigkeiten eines Studenten der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock in Verbindung mit einer Organisation der BRD“ kannte ich noch nicht, als ich Anfang Dezember 1989 mit ein paar hundert Leuten aus der Bürgerbewegung vor der Stasizentrale in Rostock stand. Wir hatten mitbekommen, dass sie drinnen angefangen hatten, Akten zu verbrennen. Wir wollten verhindern, dass Beweismittel vernichtet werden. Wir wollten, dass die Funktionsweise dieses monströsen Überwachungsapparates öffentlich gemacht wird und dass Täter für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Es ging nicht um Rache, und schon gar nicht an Rache an irgendwelchen kleinen Lichtern. Tatsächlich konnten wir einen Großteil der Akten retten, und ähnlich war es in den anderen Bezirkshauptstädten der DDR und in der Stasizentrale in Berlin.
Instrumente zur Ausschaltung
Ich habe damals nicht geahnt, wie diese Akten in den kommenden Jahrzehnten benutzt werden würden. Wenn mir jemand prophezeit hätte, dass diese Akten im Kern bleiben würden, was sie waren – nämlich Instrumente zur Einschüchterung, Erpressung und Ausschaltung „feindlich-negativer Elemente“ – ich hätte ihn für verrückt erklärt.
Aber so ist es gekommen. Die Mehrheitsgesellschaft des Rechtsstaates Bundesrepublik Deutschland und ein Teil unserer damaligen Bürgerbewegung, der sich mit dieser Situation sehr gut arrangiert hat, ist bis heute nicht reif, einigermaßen fair und demokratisch mit dem gesammelten Stasi-Datenmüll umzugehen. Hätte ich das damals geahnt, ich hätte wahrscheinlich dem Heizer im Keller geholfen, soviel wie möglich von diesem Zeug zu verbrennen. Es wäre das kleinere Übel gewesen.