Freie Tage sind der Renner

Tarifabschluss Metall: Viele Schichtarbeiter wollen lieber weniger arbeiten als zusätzliches Geld

Von Jörn Boewe, neues deutschland, 5. Okt. 2018

Weniger arbeiten statt mehr Geld – bei den Schichtbeschäftigten im Geltungsbereich des Flächentarifvertrags der Metall- und Elektroindustrie scheint die Idee gut anzukommen. Wie Gewerkschafter aus verschiedenen Regionen und Betrieben übereinstimmend berichten, gibt es einen regelrechten Run auf die Option, im nächsten Jahr bis zu acht zusätzliche freie Tage in Anspruch zu nehmen und dafür auf einen Teil des sogenannten »Tariflichen Zusatzgelds« (T-ZUG) zu verzichten.

In ihrem im Februar vereinbarten Tarifabschluss hatte die IG Metall erstmals seit vielen Jahren wieder zwei Regelungen zu Arbeitszeitthemen vereinbart: das Recht auf »verkürzte Vollzeit« mit Rückkehrrecht zur »Normal-Vollzeit« und die Wahloption für Schichtarbeiter, Beschäftigte mit bis zu acht Jahre alten Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, einen Teil des ab 2019 anstehenden »Tariflichen Zusatzgeldes« (T-ZUG) in acht zusätzliche freie Tage umzuwandeln.

Anders als bei früheren arbeitszeitpolitischen Forderungen – etwa die 35-Stunden-Woche – geht es bei den aktuellen Vereinbarungen nicht um kollektive Arbeitszeitverkürzung, sondern um individuelle Rechtsansprüche. Wer für bis zu zwei Jahre statt 35 (im Westen) oder 38 Stunden (im Osten) nur noch 28 Stunden in der Woche arbeiten will, muss das in der Regel mit einem halben Jahr Vorlauf beantragen, wobei in einigen Regionen und Betrieben kürzere Fristen gelten. Wer nächstes Jahr die acht freien Zusatztage haben möchte, muss das bundesweit bis spätestens 31. Oktober anmelden.

Die Frist in Sachen Zusatztage läuft also noch bis Monatsende, weshalb beim IG-Metall-Vorstand noch keine belastbaren Zahlen vorliegen. Allerdings zeichne sich jetzt schon ab, dass das Interesse »sehr hoch« sei, sagt Pressesprecherin Ingrid Gier. Anders dagegen sehe es bei der »kurzen Vollzeit« aus, wo die Nachfrage bislang eher moderat bleibe.

So etwa im Pilotbezirk Baden-Württemberg: »Der große Renner sind die zusätzlichen freien Tage«, sagt Petra Otte, Sprecherin der IG- Metall-Bezirksleitung in Stuttgart. Anträge auf verkürzte Vollzeit würden auch gestellt, seien aber »nicht das ganz große Thema«. Derselbe Trend zeichnet sich im Norden ab: »Es gibt ein sehr großes Interesse an den freien Zusatztagen«, so Heiko Mes-serschmidt von der Bezirksleitung Küste in Hamburg. Nach der »kurzen Vollzeit« bestehe zwar auch eine gewisse Nachfrage, diese sei aber »nicht annähernd so groß«.

Offenbar hat die IG Metall zumindest mit den freien Zusatztagen einen Nerv getroffen, denn – wo man auch nachfragt – das Phänomen scheint ziemlich flächendeckend zu sein. So auch bei BMW in Leipzig: Täglich gehen hier neue Anträge ein, berichtet Betriebsratsvorsitzender Jörg Köhler. Und: »Wir gehen davon aus, dass bei uns fast jeder Anspruchsberechtigte davon Gebrauch machen wird.«

Allein von den rund 5300 Beschäftigten der Stammbelegschaft arbeiten an die 80 Prozent in Schichtsystemen. Den Grund für das große Interesse sieht Köhler »ganz klar« im Arbeitsstress: »Die Leute brauchen die freien Tage zur Erholung.« Für Köhler kommt der Run deshalb »nicht unerwartet«. Auch dass er stärker ist als in den bayerischen BMW-Werken, ist für ihn nur folgerichtig: »Dort gilt die 35-Stunden-Woche, bei uns immer noch die 38-Stunden-Woche – dadurch ist die Arbeitsbelastung im Osten noch mal höher.«

Aber auch in westdeutschen Automobilfabriken ist das Interesse groß, so etwa im Bremer Mercedes-Werk, mit 12 500 Beschäftigten eines der größten im Konzern. Wie der »Weser-Kurier« Anfang September berichtete, lagen dort rund zwei Monate vor Fristende bereits 2600 Anträge vor, was nach Schätzung des Bremer Ersten Bevollmächtigten der IG Metall Volker Stahmann etwa 100 Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Und auch bei Volkswagen, wo anstelle des Flächentarifs ein Haustarifvertrag gilt, der nur sechs freie Zusatztage vorsieht, ist das Interesse überwältigend: »Es dürften sich wohl bis zu 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen für die sechs zusätzlichen freien Tage entscheiden«, zitiert die aktuelle Ausgabe der Betriebszeitung »Mitbestimmen« den Wolfsburger Betriebsrats-Koordinator und Tarifexperten Guido Mehlhop. Dass sich das Interesse an der »kurzen Vollzeit« offenbar eher in Grenzen hält, hat nach Einschätzung aller Befragten schlichtweg finanzielle Gründe. »Das geht eben ins Geld«, meint BMW-Betriebsratsvorsitzender Köhler knapp.

Nach der jetzigen Regelung haben alle Vollzeit-Tarifbeschäftigten die Möglichkeit, ihre persönliche Wochenarbeitszeit bis zu zwei Jahre lang auf 28 Stunden zu reduzieren. Die Einkommensverluste müssen sie allerdings selber tragen – einen teilweisen Lohnausgleich durch den Arbeitgeber, wie ihn die IG Metall ursprünglich für bestimmte Beschäftigtengruppen mit besonderen Arbeitsbelastungen gefordert hatte, gibt es nicht. Die freien Zusatztage sind zwar auch nicht umsonst, werden mit Verzicht auf zusätzliches Geld erkauft – nicht aber mit Einkommenseinbußen.


Hebel für Neueinstellungen?

Der im Februar 2018 abgeschlossene Tarifvertrag sieht ab 2019 erstmals ein Tarifliches Zusatzgeld (»T-ZUG«) vor: 400 Euro plus 27,5 Prozent eines Monatslohns. Beschäftigte mit Kindern bis acht Jahre, pflegebedürftigen Angehörigen und Schichtarbeitende können anstelle der prozentualen Komponente acht zusätzliche freie Tage in Anspruch nehmen. Sind die Anspruchsvoraussetzungen gegeben, muss der Antrag bewilligt werden. Betriebsräte und Arbeitgeber müssen bis zum 31. Dezember anhand der vorliegenden Anträge zu erörtern, wie das entfallende Arbeitsvolumen ausgeglichen werden kann – durch freiwillige Arbeitszeitverlängerung anderer Beschäftigter, zeitweise Erhöhung der Leiharbeitsquoten oder Neueinstellungen, z. B. durch Übernahme von Leiharbeitern. Gewerkschafter erwarten, dass die Umsetzung nicht konfliktfrei verläuft. Anfang 2021 wollen die Tarifparteien das Modell evaluieren.