Spanien Im Herbst wird ein neues Parlament gewählt. Die Podemos-Bewegung hat eine wirtschaftspolitische Agenda vorgelegt und liegt derzeit in allen Umfragen vorn
Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Der Freitag, 05/2015
Auf Griechenland folgt Spanien. Das gilt zumindest für die Wahltermine: Im November wählen die Spanier ein neues Parlament. Und wenn es nach den letzten Umfragen geht, dann werden die iberischen Wähler ebenfalls für einen Linksruck sorgen: Die erst vor einem Jahr gegründete Podemos-Bewegung liegt mit etwa 28 Prozent, je nach Umfrage, mindestens drei Prozentpunkte vor Konservativen (PP) und Sozialisten (PSOE).Ob das, wie in Griechenland bei Syriza, mit einer gewissen Mäßigung der linken Agenda zu tun hat? Im November hatte Podemos, dessen Mitglieder selten älter als 40 sind, unter großem Medieninteresse einen „wirtschaftspolitischen Entwurf“ vorgelegt. Die knapp 70 Seiten enthalten viele Vorschläge, im Kern geht es um vier strategische Forderungen: Neuverhandlung von Auslandschulden und Kürzungsvorgaben, Stärkung der Binnenkonjunktur durch aktive Sozial-, Wirtschafts- und Kreditpolitik, höhere Steuern auf große Vermögen und Finanzmarktgeschäfte.
Obwohl es in den Reihen der Partei kompetente Ökonomen gibt, wurde der Auftrag für das Strategiepapier extern vergeben: an die beiden keynesianisch orientierten Wirtschaftsprofessoren Vincenç Navarro und Juan Torres. Letzterer lehrt in Sevilla, Navarro ist in Barcelona und an der renommierten Johns Hopkins University in Baltimore tätig, er gilt als einer der meistzitierten Wissenschaftler Spaniens.
Während die Strategen von PP und PSOE Podemos als angebliche Bedrohung insbesondere für die Mittelschicht darstellen, betont die neue Partei ihren „Pragmatismus“. „Es handelt sich um Maßnahmen, die auf kurze Sicht auch realisierbar sind“, sagte Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias bei der Vorstellung des Papiers. Die Botschaft: Wer Podemos wählt, soll wissen, worauf er sich einlässt; radikale Experimente wird es nicht geben. Aus der Forderung nach einem Grundeinkommen für alle wird das Ziel, allen ohne Job ein Einkommensminimum zu garantieren.
Eine neue Sensibilität
Der Madrider Soziologieprofessor Armando Fernández Steinko wertet Podemos Kurs als „neue politische Sensibilität“. Einen solchen „Versuch insgesamt die Probleme mit Realismus anzupacken und die verarmten Mittelklassen nicht zu beunruhigen“, habe es seitens der spanische Linken noch nie gegeben. Der Titel des Programmentwurfs weist den Weg: „Realistisch handeln, ohne die Träume aufzugeben.“
Allerdings spielen die „Träume“ in dem Papier kaum eine Rolle. Und auch für ein pragmatisches Sofortprogramm fallen die Vorschläge recht vage aus. So etwa der Plan, ein demokratisch organisiertes und transparentes Kreditwesen in öffentlicher Hand zu schaffen. Welche Mechanismen dafür sorgen sollen, dass eine solche „Bürgerbank“ weniger korruptionsanfällig ist als die öffentlichen und genossenschaftlichen Kreditinstitute heute, bleibt unklar.
Der in Athen geborene und in Barcelona lehrende Post-Wachstums-Ökonom Giorgos Kallis urteilt: „Podemos‘ Strategie führt uns in die richtige Richtung. Aber sie könnte und sollte noch weiter gehen.“ Es sei richtig, fehlgeleitete staatliche Investitionen in Megaflughäfen, Hochgeschwindigkeitstrassen und andere Großprojekte mit einem Moratorium zu belegen und stattdessen erneuerbare Energien, saubere Technolgien, Genossenschaften und den sozialen Sektor zu fördern. Vor allem letzterer entziehe sich der überall sonst vor sich gehenden Automatisierung und erfordere menschliche Arbeit, zudem verteile die von Podemos geforderte 35-Stunden-Woche diese Arbeit auf mehr Schultern. Wie aber die angestrebte Transformation zu „ökologisch nachhaltigem Konsum“ Realität werden soll, bleibe offen. Kallis empfiehlt klare gesetzliche Grenzen für CO2-Emissionen und Rohstoffausbeutung, eine Eindämmung der Werbung im öffentlichen Raum und die Rückkehr zur Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen.
Höhere Löhne, billige Kredite
Statt sozialistisch und marxistisch inspirierte Ideen zu entwickeln und langfristig die Sozialisierung von Schlüsselbranchen ins Auge zu fassen, entwerfen Torres und Navarro das Leitbild einer konsumbasierten Wettbewerbspolitik. Diese soll auf Lohnerhöhungen, der Rücknahme von Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes wie der Lockerung des Kündigungsschutzes und auf einer leichteren Kreditvergabe für kleine und mittelständische Unternehmen wie Privathaushalte fußen. „Das Recht auf Kredit soll Verfassungsrang bekommen“, heißt es. Nach dem Platzen der Immobilienblase 2007/2008 müssen spanische Firmen heute hohe Risikoaufschläge zahlen, die Zinsen sind drei mal so hoch wie für deutsche Unternehmen. Die öffentlichen Einnahmen sollen durch Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen, Finanztransaktionen und Spekulationen steigen.
Zentrales Thema des Navarro-Torres-Papiers ist die Staatsverschuldung: Diese liegt in Spanien aktuell bei 1021,56 Milliarden Euro und damit mehr als doppelt so hoch wie vor Krisenbeginn 2009. Dies sei „unbezahlbar“ und müsse „umstrukturiert“ werden, hierfür will Podemos „den Dialog mit dem Rest der europäischen Länder“ suchen. Viel wird dabei vom Ausgang der Regierungsbildung in Athen abhängen; Syriza und Podemos arbeiten in der Schuldenfrage schon seit längerem eng zusammen.
Einen blinden Fleck sieht der Ökonom Albert Recio von der Autonomen Universität Barcelona bei Podemos: „Viele Vorschläge zielen zwar auf einen antikapitalistischen oder zumindest antineoliberalen Kurs ab. Es fehlt aber der Blick dafür, wie fest die großen kapitalistischen Machtgruppen mittlerweile im Sattel sitzen. Weder die erwartbaren Widerstände des Kapitals noch die Frage, wie man damit umgehen will, werden thematisiert.“
Ist Podemos also nur ein Strohfeuer, das zwar von breitem Unmut über die Auswüchse des Krisenkapitalismus angefacht wird, diesem aber letztendlich nichts anhaben kann?
Ungeachtet der gemäßigten Diktion des wirtschaftspolitischen Entwurfs, wäre dies ein allzu vorschnelles Urteil. Die Partei ist weiterhin eng verbunden mit einer Massenbewegung, die für einen Bruch mit dem politischen System steht. Seit der Besetzung der Puerta del Sol in Madrid 2011 hat sie auf der Straße grundsätzliche Ziele erarbeitet, die wichtiger für den Erfolg von Podemos bleiben werden als jedes Papier.
Demokratie soll demnach nicht ein Synonym für den institutionellen Status quo bleiben, sondern mit realer Beteiligung an Entscheidungsprozessen in Öffentlichkeit wie Unternehmen wieder aufleben. Bürgerinnen und Bürger sollen verstehen können, wie es überhaupt zur Immobilien- und Finanzkrise gekommen ist. Und all das, sagt der Madrider Soziologe Steinko, stehe für die völlig neue, euphorisierende Herangehensweise an politische Fragen, „die den ganzen Podemos-Tsunami miterklärt.“