Pragmatische Radikale

Podemos’ Antwort auf die Krise in Europa

Von Johannes Schulten und Jörn Boewe, Sozialismus, Heft 01/2015

»Wir müssen bescheiden bleiben und einen Schritt nach dem anderen setzen, statt in Jubel ausbrechen«, sagte Pablo Iglesias, Kopf der neuen spanischen Linkspartei Podemos Anfang Dezember im Interview mit »Luxemburg online«, dem Internetmagazin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. »Aber die Tendenz zeigt Richtung Wechsel.« In der Tat ist Podemos (»Wir können«) momentan eines der interessantesten – und aus linker Sicht hoffnungsvollsten – Phänomene im Europa der Krise. Bei den Europawahlen im Mai 2014 erreichte sie praktisch aus dem Stand 8%. Laut den letzten Umfragen würden ihr 28,3% der spanischen WählerInnen ihre Stimme geben.

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Versammlung von Podemos in Valecncia, August 2014 / Podem Cuitat Valencia https://www.flickr.com/photos/podemvlc/

Damit ist die aus der Protestbewegung »15-M« hervorgegangene Partei nur elf Monate nach ihrer Gründung nicht nur die beliebteste politische Kraft im Land. Sie hat auch gute Chancen, sich im parlamentarischen System Spaniens zu etablieren. Denn schon im Mai 2015 stehen Kommunalwahlen an, und im Herbst wird ein neues Parlament gewählt.

Doch Podemos ist nicht nur für Spanien, sondern auch für die europäische Linke wichtig. Die junge Partei hat bewiesen, dass es im Europa der Krise möglich ist, mit linken Positionen Wahlerfolge einzufahren. Mit Ausnahme der griechischen Syriza waren es bisher vor allem rechte und rassistische Parteien, die aus der Legitimationskrise der etablierten Politik Profit schlagen konnten. Der Linken dagegen gelingt es bisher nicht ansatzweise, überzeugende – und nicht weniger wichtig: verständliche – Alternativen zur aktuellen (EU-)Krisenpolitik zu präsentieren.

Nun ist bei Meinungsumfragen – vor allem, wenn von interessierter Seite Erwartungen daran geknüpft werden – immer Vorsicht geboten. Wie schnell sich hoffnungsvolle linke Projekte zerschlagen können, hat zuletzt die französische NPA (Neue Antikapitalistische Partei) leidlich unter Beweis gestellt. Auf ihrem Höhepunkt 2008 ließ der »neue Star der Linken«, Besancenot, in Beliebtheitsumfragen sogar den damaligen Präsidenten Sarkozy hinter sich. Doch bei den EU-Wahlen 2009 kam die NPA lediglich auf 4,88%. Heute ist sie bedeutungslos.

Ob es Podemos ähnlich ergehen wird, gehört wohl ins Reich der Spekulation. Immerhin: Die junge Partei verfügt bereits elf Monate nach ihrer Gründung über eine quantitaitiv beeindruckende und allem Anschein nach äußerst agile Basis: 211.000 Menschen sind ihr seit Januar beigetreten, damit hat sie mehr Mitglieder als die PSOE. Rund 900 Basisgruppen sollen sich im Land gebildet haben.

Polarisierte Debatte

Umso erstaunlicherweise ist, dass in Deutschland bisher nur wenig über Podemos bekannt ist, was über vage Forderungen nach »wirklicher Demokratie«, die Verbindung mit den spanischen Protestbewegungen oder ein paar biografische Notizen zum Generalsekretär und medialen Gesicht der Partei, Pablo Iglesias, hinausgeht. (1) Über die Hintergründe der Parteigründung, strategische Konzeptionen, die Zusammensetzung ihres Spitzenpersonals und vor allem das wirtschaftspolitische Programm findet sich erstaunlich wenig.

Tatsächlich gestaltet sich eine Annäherung an das Phänomen Podemos gar nicht so einfach. Denn auch in Spanien fokussiert sich die massenmediale Berichterstattung maßgeblich auf Pablo Iglesias, der bereits als Spitzenkandidat bei den EU-Wahlen antrat. Hinzu kommt, dass die Debatte extrem polarisiert ist: Vertreter von PP und PSOE sowie ein Großteil der Medien geißeln die Organisation wahlweise als von der venezolanischen Regierung finanzierte ETA-Symphatisanten oder als populistische Bauernfänger. Differenzierte Stimmen und Einschätzungen bilden die Ausnahme.

Die Unklarheit über die genauen Ziele der Partei ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass sich Podemos noch immer in der Gründungsphase befindet und erst in den letzten Monaten Konturen annimmt: Zwischen September und November hat sich die Partei auf Grundlage einer Befragung von über 100.000 Mitgliedern eine Art Grundsatzprogramm gegeben und Gremien wie den Parteivorstand gewählt. Zudem wird sich bemüht, verstärkt andere Gesichter als Iglesias in der Öffentlichkeit präsentieren. Auf viel Beachtung stieß ein Ende November vorgestelltes wirtschaftspolitisches Sofortprogramm zur Bewältigung der Krise. Damit präsentierte die Partei erstmals eine Art kohärente Konzeption ihrer wirtschaftspolitischen Ziele.

Darin präsentiert sich Podemos nicht als utopische Erlösungsbewegung, sondern als praktisch-politische Alternative. Auf Forderungen wie eine Rente mit 60 Jahren oder ein allgemeines Grundeinkommen, wie sie noch im Parteiprogramm auftauchen, wurde verzichtet. Auch Punkte wie (Re-)Verstaatlichungen oder eine Stärkung der gewerkschaftlichen Mitbestimmung in der Wirtschaft werden nicht thematisiert. Stattdessen setzt die Partei auf keynesianisch geprägte Ansätze. Im Zentrum stehen Konzepte zur Erhöhung und »gerechteren« Verteilung der
Staatseinnahmen, die von Steuererhöhungen für Reiche bis zu einer Abkehr der staatlichen Förderung von Großprojekten reichen – »Kindergärten und Schulen statt Schnellzüge und Flughäfen«. »Wir glauben, dass in einer Krise, die so ernst und schwer ist, wie diese, mit einer großen Dosis Pragmatismus gearbeitet werden muss«, heißt es.

Die Wurzeln

Podemos kommt nicht aus dem Nichts. Die Partei wäre ohne die verschiedenen neuen Protestbewegungen, die Spanien seit 2010 in Atem hielten, nicht denkbar. Die Platzbesetzer von »15 M« oder die darauf folgende Bewegung gegen Zwangsräumungen (»Plataforma de Afectados por la Hipoteca«) haben nicht nur erstmals seit Jahrzehnten Themen wie Prekarisierung, Korruption oder Arbeitslosigkeit als Massenprotest auf die Straße gebracht. Durch sie haben auch Hunderttausende vor allem junge Menschen deutlich gemacht, dass politische Entscheidungen nicht hingenommen werden müssen und politische Artikulation außerhalb des etablierten Parteienspektrums möglich ist, ja sogar Spaß machen kann. Sie haben den Raum geschaffen, in dem Podemos jetzt arbeitet.

Nicht nur inhaltlich, sondern direkt personell, biografisch schließt Podemos an die Protestbewegung an. Kaum jemand in der aktuellen Parteiführung ist älter als 40 Jahre. Damit gehören sie zu einer Alterskohorte, deren Mitglieder zu jung waren, um die Armut unter Franco gekannt zu haben, gleichzeitig aber alt genug sind, um die Wohlstandsperiode der 1990er und 2000er Jahre und deren Versprechen von sozialem Aufstieg miterlebt zu haben. Nur hat sich dieses Versprechen für sie nicht erfüllt.

Viele der heutigen Podemos-Akteure waren aber nicht nur Teil der Protestbewegungen der letzten Jahre, sie lieferten auch eine Art Begleitmusik für diese. So war Iglesias neben seiner Arbeit als Wissenschaftler an der Universität Complutense in Madrid an verschiedenen alternativen Medienprojekten mit teilweise beachtlicher Reichweite beteiligt. Bestes Beispiel ist die politische Nachrichtensendung »La Tuerka« (soviel wie »Die Schraubenmutter«), in der vor allem Gäste aus dem linken Spektrum mit viel Witz und Humor Tagespolitik  kommentierten und Alternativen aufzeigten. 2008 bei einem kleinen Madrider TV-Sender gestartet, läuft »La Tuerka« heute im Online-Angebot der linken Tageszeitung »Público«. Die Sendung hat nicht nur zur Popularisierung linker Kritik an der spanischen Krisenpolitik beigetragen. »La Tuerka« war auch zentrales Instrument, die Anliegen der Partei sichtbar zu machen.

Krise geht weiter

An der Unzufriedenheit der Spanier mit der wirtschaftlichen Situation hat sich bisher wenig geändert, auch wenn die Proteste nicht mehr so erruptiv ausbrechen wie noch vor einigen Jahren. Medien und Politik setzen momentan alles daran, das Ende der Krise auszurufen. Die harten Strukturreformen, Kürzungen und Arbeitsmarktflexibilisierungen, so wird suggeriert, würden sich endlich bezahlt machen. Tatsächlich wuchs die Wirtschaft 2014 um 1,2%, für 2015 wird sogar mit einem Plus von 1,7% gerechnet – nach jahrelangem Rückgang ist das jedoch wenig verwunderlich. Ohnehin merkt die Bevölkerung davon wenig, denn die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 23,5% und damit weit über EU-Durchschnitt. Nur die Hälfte der Arbeitslosen bezieht staatliche Sozialleistungen. Auch die Staatsverschuldung steigt unvermindert an und dürfte im kommenden Jahr 100% des BIP erreichen.

Vor allem aber hat sich an der grassierenden Korruption nichts geändert, im Gegenteil: Der Krisenausbruch scheint geradezu eine Welle an Enthüllungen quer über alle Parteigrenzen hinweg freigesetzt zu haben. Anfang 2014 wurde Kronprinzessin Cristina wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche angeklagt, der Schatzmeister der PP sitzt bereits im Gefängnis, während sich aktuell die halbe Parteiführung verschiedenen Anklagen aussetzen muss. Vor Gericht steht auch der ehemalige Wirtschaftsminister der Regierung von José María Aznars und Expräsident des IWF (2004-2007), Rodrigo Rato. Er soll während seiner Zeit als Präsident der Großbank Caja Madrid und später Bankia ein System »schwarzer Kreditkarten« verantwortet haben – Mitglieder der Aufsichts- und Verwaltungsgremien, Politiker und Gewerkschafter bereicherten sich damit um Millionen.

Bei den Sozialisten sieht es nicht viel besser aus als bei den Rechten. Im sogenannten »ERE-Fall« steht die komplette PSOE-Regierung der Autonomen Gemeinschaft Andalusiens im Verdacht, über Jahre die staatliche Arbeitslosenversicherung veruntreut zu haben. Erst im Oktober wurde bekannt, dass Fernández Villa, ein historischer Anführer der Minenarbeitergewerkschaft SOMA und PSOE-Mitglied, vorgeworfen wird, 1,4 Mio. Euro auf Auslandskonten versteckt zu haben. Wie selbstverständlich »schwarze Kassen« in den letzten Jahrzehnten für die politische Elite geworden sind, zeigt auch der Fall Jordi Pujol, von 1980 bis 2003 Regierungschef Kataloniens. Pujol, der unter Franco als Oppositioneller im Gefängnis gesessen hatte, gestand 2014, dass er den Steuerbehörden jahrzehntelang ein Millionenvermögen im Ausland verschwiegen hatte. Lange nicht mehr war die Repräsentationskrise der politischen Klasse Spaniens so groß wie heute. Und Podemos ist momentan die einzige Kraft, der es gelingt, diese Lücke zu füllen. Das unterscheidet sie auch von der traditionellen Linken wie dem Zusammenschluss Izquierda Unida, an dem auch die Kommunistische Partei Spaniens beteiligt ist.

Entscheidend für den Erfolg von Podemos scheint die Fokussierung auf die Demokratiefrage zu sein – die sie allerdings in einem umfassenden sozialen Sinn interpretiert. »Die Demokratie, die Justiz, das Land und soziale Rechte sind die diskursiv-ideologischen Schlüssel in der Schlacht, in der wir uns gerade befinden«, schreibt Iglesias in seinem im Oktober leider nur auf spanisch erschienenen Buch: »Disputar la Democracia«.

Diese Themen nicht aufzugreifen, hieße, der Rechten das Feld zu überlassen. 80% der Spanier glauben, dass die Krisendemonstranten von 2010 und 2011 Recht hatten mit der Kritik an der politischen Klasse und deren ökonomischer Macht. Und 75% unterstützen die noch immer zahlreichen Proteste gegen anhaltende Zwangsräumungen.
Nur findet diese Meinung keinen institutionellen Ausdruck – weder in den etablierten Parteien noch in den spanischen Gewerkschaften. Aufgabe der Linken sei es daher, diesen Leuten »politische Munition« zu geben, damit sie ihren Unmut auch argumentativ begründen können.

Um diese »Munition« unter die Leute zu bringen, setzt Podemos auf einen positiven, auf Integration breiter Gesellschaftsschichten angelegten Diskurs. (Linke) Reizthemen wie »Patriotismus«, »Stolz« oder »regionale Autonomien« werden nicht umschifft, sondern progressiv gedeutet: »Patriotismus« bedeutet für Podemos, dass auch die Reichen Steuern zahlen – »zum Wohle der Gesellschaft«. Podemos appelliert an den Stolz der »einfachen« Spanier, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten und ein »Recht« haben, von »ehrlichen« und »verantwortungsvollen« Politikern vertreten zu werden. Abgrenzung dagegen erfolgt nur gegenüber wenigen – denen »da oben«, der korrupten und neoliberalen »Kaste«.

Die Einwände liegen auf der Hand: Erst einmal den parlamentarischen Zwängen unterworfen, kann Pragmatismus schnell in eine Politik umschlagen, die den Status quo reproduziert. Gleichwohl bleibt Podemos sich auf ihre Art treu: Die Menschen in Spanien leiden unter der Krise, und Podemos will ihnen Vorschläge machen, die auch unter
parlamentarischen Mehrheiten durchsetzbar sind, heißt die Botschaft. Noch scheint es in Spanien eine potenzielle Mehrheit für anti-neoliberale Politik zu geben. Podemos scheint alles daran zu setzen, dieses Zeitfenster zu nutzen. Denn fest steht auch: Um ihre Vorstellungen durchsetzen zu können, werden Wählerstimmen nicht ausreichen. Es braucht dazu ganz sicher den Druck der Straße.

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(1) Eine verdienstvolle Ausnahme macht der Berliner Publizist Raul Zelik, der Anfang Dezember ein äußerst kenntnisreiches Feature im »neuen deutschland« veröffentlicht hat. (http://www.neues-deutschland.de/m/artikel/954761.die-absolute-mehrheit-anstreben-um-das-regime-zu-stuerzen.html). Auch der Marburger Politikwissenschaftler Nikolai Huke hat für das Institut für Solidarische Moderne eine Reihe interessanter Thesen zu Podemos zusammengestellt: http://nhuke.blogsport.de/2014/12/03/que-si-nos-representan-sieben-thesen-zur-spanischen-partei-podemos/