Fluchthilfe für den Boss

Karlsruhe verhandelt über das Tarifeinheitsgesetz. Diese Regelung ist grotesk – und kann gefährlich werden. Jörn Boewe, Der Freitag, 04/2017

Seit diesem Dienstag überprüft das Bundesverfassungsgericht eines der merkwürdigsten Gesetze der Großen Koalition: die 2015 vom Bundestag beschlossene Regelung zur so genannten Tarifeinheit. Ihre Befürworter wollen vor allem die Streikfreudigkeit kleiner, aber  kampfstarker Spartengewerkschaften wie der der Lokführer, Klinikärzte und Flugbegleiter  dämpfen.

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Lokführerstreik 2014. Foto: Jörn Boewe/work in progress

Im Kern funktioniert das Gesetz so: Überschneiden sich in einem Betrieb verschiedene Tarifverträge, gilt nur noch der Vertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern. Ausgeheckt hatten die Idee 2010 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände  (BDA) und Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB). Sie gingen davon aus, dass die  berechenbaren DGB-Mitgliedsverbände immer und überall in der Mehrheit sein würden und ein solches Gesetz ihnen ein Monopol auf Tarifverträge sichern würde.  Gewerkschaften von „Funktionseliten“ wie Lokführern oder Klinikärzten sollte das vom Streiken abhalten.

Das ist die Theorie, von der bislang nichts in der Praxis angekommen ist. Mittlerweile gilt das Gesetz seit gut anderthalb Jahren, in Anspruch genommen wurde es kein einziges Mal. Ausgerechnet in dem Unternehmen, für das es maßgeschneidert wurde – bei der Deutschen Bahn –, vereinbarten Vorstand und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, es mindestens bis 2020 nicht anzuwenden.

Es gibt lediglich einen Fall, in dem darüber spekuliert wird, einer der beteiligten Akteure  könnte die Tarifeinheitskarte ausspielen: Im seit Herbst schwelenden Tarifkonflikt bei der Lufthansa-Billigtochter Eurowings beanspruchen die beiden involvierten Gewerkschaften Verdi und UFO jeweils für sich, die mitgliederstärkste Organisation zu sein. Verdi hat im Dezember einen Tarifvertrag abgeschlossen. UFO aber will den nicht übernehmen und strebt einen eigenen an. Ob es eine der beiden Gewerkschaften aber tatsächlich darauf anlegt, gerichtlich klären zu lassen, wer mehr Mitglieder hat, ist fraglich. Das Verfahren
würde mit Sicherheit durch zwei Instanzen gehen und wäre vermutlich erst beendet,
wenn die strittigen Tarifverträge schon wieder gekündigt oder ausgelaufen sind.

Ziemlich weltfremd

Das Ganze ist also ziemlich weltfremd und unpraktikabel – aber ist es darüber hinaus auch noch grundgesetzwidrig? „Man kann einer Gewerkschaft nicht das Recht nehmen,
Tarifverträge abzuschließen“, sagt der Arbeitsrechts-Professor Wolfgang Däubler,
der den Beamtenbund dbb in Karlsruhe vertritt. „Das gehört zum Grundrecht auf
Koalitionsfreiheit, Artikel 9 Grundgesetz.“ Verschiedene Spartengewerkschaften, darunter
die GDL und der Marburger Bund, aber auch die zweitgrößte DGB-Gewerkschaft Verdi, hatten Verfassungsbeschwerden eingelegt. Eine Entscheidung wird nicht vor dem Frühjahr erwartet.

Gingen viele Kritiker nach Verabschiedung des Gesetzes 2015 noch davon aus, Karlsruhe würde die Regelung kippen, rechnet man inzwischen eher damit, dass sie durchkommt – allerdings in entschärfter Form. Für das Verfassungsgericht hätt dies den Charme, dass es sich nicht gegen ein mit großer Mehrheit beschlossenes Gesetz der Großen Koalition stellen müsste. Am Ende stünde eine Regelung, die zwar nicht viel regelt, mit der aber alle mehr oder weniger leben könnten.

Wie das genau aussehen könnte, ist im Detail schwer vorherzusehen. Ganz sicher dürfte aber die Option eine Rolle spielen, auf die sich Bahn und GDL bereits 2015 geeinigt hatten: Wenn Tarifparteien vereinbaren, das Gesetz nicht anzuwenden, bleibt alles wie bisher. Denkbar wäre also, dass die Richter die Koalition verpflichten, die Regelung „tarifdispositiv“ zu machen. Kampfstarke Organisationen wie Marburger Bund, GDL oder UFO könnten künftig ihre Tarifforderungen standardmäßig um die Forderung nach  Nichtanwendung des Gesetzes ergänzen. Dass sie das auch durchsetzen könnten, steht außer Zweifel. Die Intention, gerade diesen Organisationen einen Dämpfer zu verpassen, wäre damit gescheitert.

Anders sieht es für weniger streikfähige Gewerkschaften aus – also paradoxerweise jene, die der Gesetzgeber gar nicht treffen wollte. So könnte Verdi etwa in manchen  Krankenhäusern, in denen die Dienstleistungsgewerkschaft weniger Mitglieder hat als der Marburger Bund, Probleme bekommen. Denkbar ist das auch in Gliederungen des  öffentlichen Dienstes, wo Organisationen wie die Gewerkschaft Kommunaler Landesdienst Berlin oder komba die Mehrheit haben, oder in Zeitungsredaktionen, in denen die Deutsche Journalisten-Union in Verdi mit dem Deutschen Journalisten-Verband rivalisiert.

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Fantasie und Kampfkraft: Beschäftige bei Air Berlin und Tuifly haben es vorgemacht. Foto: Tim Reckmann/pixelio

Ein Risiko, das vielleicht nicht die BDA, ganz sicher aber der DGB in seiner Begeisterung für eine Zwangs-Tarifeinheit völlig übersehen hat: Fantasievolle Arbeitgeber bekommen mit dem Gesetz ein elegantes Instrument zum Sofortausstieg aus dem Flächentarifvertrag. Hier könnte auch die IG Metall in Bereichen Probleme bekommen, in denen sie nur  schwach aufgestellt ist. Ein denkbares Szenario: Eine Autoreparaturwerkstatt mit 100 Beschäftigten möchte den Flächentarifvertrag verlassen. Das Unternehmen kann aus  dem Arbeitgeberverband austreten, nur: Der Tarifvertrag gilt weiter. Auch danach muss sich der Betrieb für alle früheren Tarifbeschäftigten an die alten Standards halten. Mit dem Tarifeinheitsgesetz kommt das Unternehmen dort jetzt viel schneller heraus: Ein paar leitende Angestellte treten in die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM) ein, die  Geschäftsführung signalisiert diskret, dass man eine CGM-Mitgliedschaft von Mitarbeitern
wohlwollend betrachtet. Nach ein paar Wochen hat die CGM, sagen wir, 15 Mitglieder. Da die IG Metall nur acht Leute hat, ist die CGM in der Mehrheit. Wenn das Unternehmen nur einen einzigen Tarifvertrag mit der CGM schließt, werden sämtliche IG-Metall-Tarifverträge verdrängt.

Wie auch immer es ausgeht: Solange sie über ein Mindestmaß an Kampfkraft und Fantasie verfügen, müssen Gewerkschaften in der Regel nicht fürchten, auf juristischem Wege kaltgestellt zu werden. Wie man es machen kann, ließ sich im Herbst bei Air Berlin und Tuifly studieren. Als die beiden Airlines einen Teil ihrer Flotte fusionieren und Arbeitsbedingungen massiv verschlechtern wollten, meldeten sich von einem Tag auf den anderen massenhaft Mitarbeiter krank, etliche Flüge fielen aus. Ein Streik gegen die unternehmerische Entscheidung wäre wohl untersagt worden – gegen die Krankmeldungen waren die Unternehmen machtlos. Ergebnis: Die Fusion kommt, die Absenkung nicht. Tarifverträge und Standorte bleiben garantiert für mindestens drei Jahre erhalten.