Online-Handel: Die Streiks bei Amazon haben zentrale Bedeutung für die Zukunft der Arbeiterrechte im digitalen Kapitalismus
Jörn Boewe, Johannes Schulten, der Freitag, 47/2017
Seit viereinhalb Jahren kämpfen Amazon-Beschäftigte mit ihrer Gewerkschaft Verdi in den deutschen Versandzentren des größten Onlinehändlers der Welt für einen Tarifvertrag. Zählt man die Streiktage zusammen, kommt man auf mehr als ein halbes Jahr. In diesen Tagen, da das Weihnachtsgeschäft an Fahrt aufnimmt, türmt sich schon die nächste Streikwelle auf. Seit Ende September legten in den meisten deutschen Versandzentren Hunderte Beschäftigte die Arbeit nieder. Und das, obwohl Amazon die Stundenlöhne gerade erst um 26 Cent angehoben hat. Offenkundig ein unmittelbarer Effekt des Arbeitskampfes, der – so viel steht jetzt schon fest – als einer der zähsten und langwierigsten in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen wird.
Dabei ist der Ausgang der Auseinandersetzung nach wie vor völlig ungewiss. Das liegt daran, dass es sich eben nicht in erster Linie um einen Lohnkonflikt handelt, und um die Frage, ob Amazon den Flächentarifvertrag des Einzel- und Versandhandels oder jenen der Logistikwirtschaft anwenden soll. Ginge es im Kern tatsächlich darum, wäre der Streit wohl längst beendet.
Zeitenwende in Bad Hersfeld
In Wahrheit dreht sich der Kampf aber eben nicht um ein paar hundert Euro mehr oder weniger im Jahr: Der Weltmarktführer des Onlinehandels weigert sich prinzipiell, mit Gewerkschaften Tarifverträge abzuschließen. Werden bei Amazon auch künftig die Arbeitsbedingungen einseitig durch das zentrale Management festgelegt? Oder sollen sie Ergebnis eines Aushandlungsprozesses sein, an dem die Beschäftigten durch eine kollektive, gewerkschaftliche Vertretung beteiligt sind?
Als im Frühjahr 2013 hunderte Amazon-Beschäftigte im hessischen Bad Hersfeld die Arbeit niederlegten, handelte es sich nicht nur um den ersten Streik bei Amazon in Deutschland, sondern weltweit um den ersten Arbeitskampf in der Geschichte des 1994 gegründeten Unternehmens. Nirgendwo auf der Welt war der Onlinehändler bis dahin je bestreikt worden, nirgends hatte er sich je auf Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften eingelassen oder gar einen Kollektivvertrag abgeschlossen. Das ist bis heute so und soll aus Sicht des Unternehmens so bleiben. Die Auseinandersetzung mit Verdi ist daher von fundamentaler Bedeutung. Ein Tarifvertrag in Deutschland hätte Signalwirkung auch für andere Länder. Amazon will einen Präzedenzfall deshalb unbedingt vermeiden.
Das Unternehmen reagiert aggressiv auf jegliche Form von gewerkschaftlichem Einfluss, und sieht Gewerkschaften durch eine sehr US-amerikanische Brille: Verdi besteht demnach nicht aus den dort organisierten Beschäftigten, ist nicht etwa Teil der eigenen Belegschaft, sondern eine „dritte Partei“, die sich von außen zwischen Management und Mitarbeiter drängt.
Genau das ist aber nicht der Fall. Wer einmal einen Streik in Bad Hersfeld oder Leipzig miterlebt, wird auf lebendiges gewerkschaftliches Leben stoßen, wie es häufig nicht einmal in vielen deutschen gewerkschaftlichen Hochburgen zu finden ist – und das trotz widriger Bedingungen, massiver Angriffe und Einschüchterungen.
Sicher, die gewerkschaftlich organisierten und regelmäßig an Streiks beteiligten Beschäftigten sind im Unternehmen eine Minderheit und stehen unter enormem Druck. Dennoch sind über Jahre hinweg an vielen Standorten selbstbewusste und erfahrene Verdi-Betriebsgruppen gewachsen, die deutlich mehr sind als Hilfstruppen des hauptamtlichen Verdi-Apparats. Nicht dieser prägt bei Amazon das Gesicht der Gewerkschaft, sondern die zahlreichen aktiven Beschäftigten und die gewerkschaftlichen Vertrauensleute. Sie werben Mitglieder, stehen Kollegen bei Problemen mit Rat und Tat zur Seite, sind als Streikleitung maßgeblich für die Organisation, Durchführung und Planung der Arbeitskämpfe zuständig und vernetzen sich betriebsübergreifend, auch mit Kolleginnen und Kollegen im Ausland.
Das Verhältnis zu Verdi ist solidarisch, während zugleich die eigene Unabhängigkeit betont wird. Das führt auch zu Konflikten. Denn die aktive Basis fordert manchmal mehr Beteiligung ein, als es die eingespielte Gewerkschaftskultur normalerweise vorsieht. Ein zuständiger Gewerkschaftssekretär bringt diesen Widerspruch auf den Punkt: „Wir haben als Verdi bei Amazon bewusst auf Organizing gesetzt. Die Folge ist, dass wir jetzt eine Belegschaft haben, die manchmal mehr möchte als die Gewerkschaft. Das ist für uns nicht immer einfach.“ Insgesamt hat sich der Arbeitskampf auf hohem Niveau stabilisiert: Wurde im ersten Jahr des Konflikts an 18 Tagen gestreikt, waren es 2014 schon rund 25 Tage. Im Jahr 2016 wurde an 51 Tagen die Arbeit niedergelegt, ein Trend, der in diesem Jahr anhalten dürfte.
So beeindruckend die Fortschritte auch sind, sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Verdi mit enormen Problemen konfrontiert ist. Amazon hat sich in den vergangenen Jahren als lernfähiges Unternehmen erwiesen und begonnen, die Widerstände, auf die Verdi stößt, gezielt zu instrumentalisieren und zum eigenen Vorteil in der Auseinandersetzung zu nutzen.
Amazon rekrutiert Personal in strukturschwachen Regionen. Viele Beschäftigte kommen aus der Arbeitslosigkeit oder hatten vorher andere prekäre Jobs, etwa in der Logistik, dem Einzelhandel oder auf dem Bau. Im Vergleich dazu hat die Arbeit bei Amazon Vorteile: Die Löhne befinden sich meist über dem regionalen Durchschnitt für vergleichbare Tätigkeiten und kommen pünktlich. Es handelt sich um Vollzeitarbeitsverhältnisse, anders als etwa im Einzelhandel, wo der Anteil der Minijobs und unfreiwilligen Teilzeitarbeitsverhältnisse inzwischen bei fast 50 Prozent liegt.
Osteuropa als Packtisch
Ein Jahr nach Beginn der Streiks in Deutschland begann Amazon seine Expansion nach Osteuropa. 2014 wurden in Polen drei Zentren eröffnet, in steuerbegünstigten Sonderwirtschaftszonen in Nähe zur deutschen Grenze und in großem Stil von der EU subventioniert. In der Tschechischen Republik gibt es seit 2013 ein Retourenzentrum in der Nähe des Prager Flughafens. Im Herbst 2015 wurde in unmittelbarer Nähe ein weiteres Versandzentrum eröffnet, der Bau eines weiteren bei Brno ist in Planung. Entgelte und Arbeitszeiten liegen weit unter den deutschen Standards, die Stundenlöhne bei rund einem Viertel der deutschen. Auf die nationalen Märkte in Polen und Tschechien hat es Amazon dabei nicht primär abgesehen. Osteuropa dient praktisch ausschließlich als verlängerter Packtisch für den deutschen und österreichischen Markt.
Gemeinsam mit Google, Facebook, Apple und Microsoft gehört Amazon zu den „Big Five“, die heute das Internet beherrschen. Aber vielleicht mehr noch als die anderen versucht das Vorzeigeunternehmen aus Seattle, die Arbeitsbedingungen im digitalen Kapitalismus neu zu definieren. Amazon denkt dabei strategisch, langfristig und konsequent. Genau das muss auch Verdi tun, und zwar im Verbund mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung.
Amazon ist nicht irgendein Unternehmen, sondern einer der wichtigsten transnationalen Konzerne unserer Zeit und Trendsetter für Arbeits- und Fabrikorganisation im digitalen Kapitalismus. Der Streik der Amazon-Beschäftigten für ihr Recht auf Tarifverträge ist von zentraler Bedeutung für die Frage, welche Standards in den Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital im 21. Jahrhundert als normal gelten werden. Dringend bräuchte es auf Seiten der Gewerkschaft deshalb branchenübergreifende strategische Planung: Amazon ist längst nicht mehr nur Versandhändler, sondern auch Logistiker, Medienunternehmen, IT-Dienstleister, Hersteller von Hard- und Software und demnächst mit einer eigenen Luft- und Schiffsflotte unterwegs. Mindestens 6 der 13 Fachbereiche von Verdi sind von den Aktivitäten des Konzerns betroffen.
Es gehört wenig dazu, sich vorzustellen, wie bald auch Logistikunternehmen, bei denen noch tarifliche Standards gelten, unter Druck gesetzt werden. Bei DHL, wo bisher ein Großteil der Amazon-Bestellungen abgewickelt wird, bekommt man schon kalte Füße. Doch eine Koordination der verschiedenen Verdi-Fachbereiche findet bisher praktisch nicht statt. Ideen und Wissen sind durchaus vorhanden – nicht zuletzt bei den Verdi-Vertrauensleuten in den Versandzentren, die in den vergangenen Jahren wertvolle Erfahrungen gesammelt haben. Die Gewerkschaft hat durchaus noch Trümpfe auf der Hand. Sie muss sie nur klug ausspielen.