Gewerkschaften in Frankreich und Deutschland könnten unterschiedlicher kaum sein. Von Jörn Boewe, der Freitag, 23/2016
Ein Anführer mit Stalin-Schnauz, Philippe Martinez, Chef der französischen Gewerkschaft CGT, ist zum Herausforderer François Hollandes avanciert. Kürzlich ließ sich Martinez fotografieren, als er einen Autoreifen in die brennende Barrikade vor einem blockierten Treibstoffdepot warf. Wer derzeit in deutschen Gewerkschaftskreisen unterwegs ist, stößt angesichts solch symbolisch aufgeladener Tatkraft auf eine paradoxe Ambivalenz. Während ihre französischen Kollegen in einer Entscheidungsschlacht stehen, haben sich die Spitzen von DGB, IG Metall und Verdi bislang nicht einmal per Presseerklärung solidarisiert. Das ist bemerkenswert, denn immerhin sind sie Teil desselben internationalen Dachverbands. Zudem geht es mit der umstrittenen Arbeitsrechtsreform um einen Frontalangriff auf Arbeitnehmerrechte. Doch relativiert sich das Bild, wenn man mit „normalen“ Gewerkschaftssekretären und betrieblichen Vertrauensleuten spricht. Sympathie und Bewunderung für die rebellischen Franzosen sind dann zu spüren, auch Neid. Es ist eben nicht immer leicht, Gewerkschafter in einem Land zu sein, in dem „aktive Mittagspausen“ als Vorstufe eines politischen Streiks gelten.
Keine Frage, ein bisschen französischer Esprit täte dem biederen deutschen Syndikalismus gut. Jedoch wäre einzuräumen, dass der Blick vieler linker und betrieblicher Aktivisten auf die Arbeiterbewegung in der Nachbarschaft zum idealisierenden Urteil neigt. Die französischen Verbände haben nicht nur Stärken, die in Zeiten wie diesen ins Auge fallen, sondern auch gravierende Schwächen. Genauso wie die deutschen, nur eben andere.
„Bossnapping“
Ein kurzer Blick zurück: Vor sechs, sieben Jahren gab es im Sog der Wirtschafts- und Finanzkrise ähnlich heftige Proteste in Frankreich wie heute. Von Schließung oder Verkauf bedrohte Betriebe wurden besetzt, Chefs kurzerhand übers Wochenende in ihren Büros eingesperrt („Bossnapping“). Es brannten Barrikaden. Damals wie heute schauten die Deutschen mit einer Mischung aus Faszination und Unverständnis auf dieses resolute Aufbegehren.
Unterm Strich war der Ertrag der Massenproteste indes bescheiden. Weder Betriebsschließungen noch die neoliberale Rentenreform konnten verhindert werden. Die Verursacher der Krise sahen sich genauso wenig zur Kasse gebeten wie in Deutschland. Was erreicht wurde, waren in vielen Fällen Abfindungen für entlassene Beschäftigte. Nicht zu unterschätzen, aber im Kern war es das, was in Deutschland meist auf dem weniger spektakulären Weg von Verhandlungen über Sozialpläne durchgesetzt wird.
Trotz ihres Vermögens, Massen zu mobilisieren, haben die französischen Gewerkschaften erstaunlich wenig Mitglieder. Nur acht Prozent der abhängig Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert – der niedrigste Organisationsgrad in Westeuropa. In Deutschland liegt die entsprechende Quote bei 18, in Spanien bei 17 und in Großbritannien bei 25 Prozent. Außerhalb des öffentlichen Sektors oder mittlerweile privatisierter Staatsbetriebe sind in Frankreich Gewerkschaften kaum mehr existent.
Man kann diesen Trend auch anders deuten: Die französischen Arbeiter und Angestellten haben ein sehr pragmatisches Verhältnis zu ihren Interessenvertretungen. Was nachvollziehbar ist, da eine formelle Mitgliedschaft mit geringen Vorteilen verbunden ist. Es gibt kein Streikgeld, Flächentarifverträge bieten nur niedrige Mindeststandards. Kommt es zu Firmentarifverträgen, dann gelten sie für alle Beschäftigten des betreffenden Unternehmens. Jene Stärke, die eine Gewerkschaft braucht, um sie auszuhandeln, zieht sie nicht aus ihrer Mitgliederzahl, sondern aus den bei Betriebsratswahlen gewonnenen Stimmen.
Hier ist landesweit immer noch die ehemals kommunistische, nach dem Mitgliederstand nur noch zweitgrößte Gewerkschaft CGT die unangefochtetene Nummer eins. Offiziell zwar mehr Mitglieder, aber weniger Einfluss hat die Gewerkschaft CFDT – die in der aktuellen Auseinandersetzung die „Reformpläne“ der Regierung unterstützt.
Insgesamt sind in Frankreich auf nationaler Ebene acht Gewerkschaften präsent, die zusammen auf zwei Millionen Mitglieder kommen – in etwa die Größenordnung, die in Deutschland Verdi oder die IG Metall nur für sich allein beanspruchen können.
Im Rückblick betrachtet, geht in Frankreich die Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit übrigens weniger von den Gewerkschaften als von den Unternehmern aus. Noch Anfang des 21. Jahrhunderts hätte der Konzern Peugeot/Citroën antigewerkschaftliche Milizen gegen streikende Arbeiter eingesetzt, betont der Soziologe Jean-Marie Pernot in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung.
In der vergleichenden Gewerkschaftsforschung heißt es oft: Während in Frankreich nahezu jeder soziale Fortschritt durch Massenmobilisierungen erkämpft werden musste, sei dies in Deutschland in der Regel auf dem Verhandlungswege gelungen. Dieser Eindruck ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Bezahlten Urlaub, Betriebsräte, anerkannte Gewerkschaften, Streikrecht – all das haben die Franzosen 1936 dank der Volksfront durchgesetzt. Nur was die Deutschen gern vergessen: Betriebsräte, ein Arbeitsrecht und der Acht-Stunden-Tag sind – wenn auch keine direkten Ergebnisse – so doch Konsequenzen der Novemberrevolution von 1918.
Es erscheint müßig, darüber zu streiten, welche Art des Umgangs mit sozialen Antagonismen auf lange Sicht „besser“ ist. Voneinander lernen lässt sich unbedingt. Vielleicht gelingt es den französischen Gewerkschaftern, ihr „Hartz IV“ zu stoppen, vielleicht auch nicht – die deutschen haben es nicht einmal versucht.