Eine Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen hatte die SPD versprochen. Stattdessen wird es bei kleinen Korrekturen bleiben – ein Kniefall vor den Arbeitgebern
Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, der Freitag 44/2015
Nach dem Mindestlohn hätte es der zweite große Wurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles werden können: „Den Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit werden wir verhindern“, steht im vor zwei Jahren zwischen Union und SPD geschlossenen Koalitionsvertrag. Einen lange angekündigten Gesetzentwurf dazu will Nahles in diesem Herbst endlich vorlegen. Doch alles spricht dafür, dass der Entwurf sogar noch hinter die ohnehin zaghaften Eckpunkte des Koalitionsvertrages zurückfallen wird.
Die darin für Leiharbeiter angekündigte gesetzliche „Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten“ etwa klingt zunächst gut. In den darauffolgenden Zeilen jedoch sind Ausnahmen vorprogrammiert, die Nahles unter dem Druck der Arbeitgeber nun im Sommer als neue Marschrichtung ausgegeben hat: „Wo es Tarifverträge gibt, gibt es Spielräume.“ Arbeitgeber und Gewerkschaften sollen also im Einzelfall tariflich vereinbaren können, dass Arbeiter für mehr als 18 Monate verliehen werden dürfen. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen kommt dies einer Einladung an die Arbeitgeber gleich, Gefälligkeitstarifverträge mit sogenannten gelben, unternehmerfreundlichen Gewerkschaften zu schließen.
Außerdem hatten die Koalitionsparteien vor zwei Jahren vereinbart, den Einsatz von Leiharbeitskräften als Streikbrecher zu verbieten. Zuletzt hatte die Deutsche Post im Frühjahr den vierwöchigen Zustellerstreik mit Hilfe osteuropäischer Leiharbeitsfirmen wirkungsvoll unterlaufen. Alle Versuche der Gewerkschaft Verdi, dies gerichtlich stoppen zu lassen, blieben ohne Erfolg. Das ist Wasser auf die Mühlen der Arbeitgeber. Angeführt von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft kämpfen sie derzeit erbittert gegen die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen.
Risiken auslagern
Der Missbrauch letzterer ist die größte Baustelle, an der sich Nahles versucht – und absehbar scheitern wird. Werkverträge waren ursprünglich für die Gestaltung kurzfristiger Lieferanten- und Dienstleistungsaufträge gedacht, haben sich aber zu einer Umgehungsstrategie für die von vielen Unternehmen als zu teuer empfundene Leiharbeit entwickelt. Dies dürfte sich verschärfen, wenn Nahles tatsächlich eine weitere Vorgabe des Koalitionsvertrags umsetzt: Leiharbeiter sollen nach spätestens neun Monaten den gleichen Lohn erhalten wie die Stammbelegschaft.
Früher wurden Werkverträge eingesetzt, wenn es etwa darum ging, eine Handwerksfirma mit einer Reparatur oder ein Ingenieurbüro mit einem zeitlich und inhaltlich klar begrenzten Projekt zu beauftragen. Seit ein paar Jahren heißt das Zauberwort „On-Site-Outsourcing“. Dabei geht es um die Auslagerung aller unternehmerischen Risiken an meist nicht tarifgebundene Drittfirmen, die in der Regel auf dem Betriebsgelände des Auftraggebers tätig sind und einen „Betrieb im Betrieb“ bilden. Der Auftraggeber spart dabei nicht nur Personalkosten, sondern entledigt sich jeglicher Verantwortung und Fürsorgepflichten für die betreffenden Arbeitnehmer. So ist er beispielsweise nicht mehr für die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen oder Arbeitszeit- und Pausenvorschriften verantwortlich zu machen. Ob die Beschäftigten angemessene Arbeitsbekleidung zur Verfügung gestellt bekommen, muss ihn ebenso wenig kümmern wie die Frage, ob das beauftragte Werkvertragsunternehmen den gesetzlichen Mindestlohn zahlt und Sozialversicherungsbeiträge abführt.
Berichte über Kolonnen osteuropäischer Wanderarbeiter, die für drei Euro in der Stunde in niedersächsischen Schlachthöfen Schweine im Akkord zerlegten, verstörten vor zwei, drei Jahren die Republik. Seit der Einführung eines Branchenmindestlohns im Sommer 2014 – zunächst 7,75 Euro, heute 8,60 Euro – verschwand das Thema aus den Medien. Tatsächlich geht der Werkvertragsmissbrauch nach Einschätzung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) munter weiter.
Doch längst ist er nicht mehr auf die Schmuddelbranche Massentierhaltung beschränkt. Im Sommer 2013 brach in einer überfüllten Unterkunft im norddeutschen Papenburg ein Brand aus. Zwei rumänische Arbeiter kamen ums Leben. Erstmals nahm die Öffentlichkeit davon Kenntnis, dass der Handel mit Arbeitssklaven längst in hochregulierten und tarifgebundenen Kernbereichen der deutschen Exportindustrie angekommen war: Denn die verunglückten Arbeiter hatten beim Emdener Industriedienstleister SDS für 3,50 bis 5,50 Euro pro Stunde auf der Meyer Werft gearbeitet. Sie waren keine Einzelfälle.
Wie man auf vermeintlich zivilisiertem Niveau Löhne und Arbeitsbedingungen unter Druck bringt, machte der Hamburger Flugzeugbauer Airbus vor. Im Frühjahr 2014 berichtete die lokale Presse über Pläne des Unternehmens, sich von etwa 1.000 der damals rund 2.800 Leiharbeiter zu trennen. Schlagzeilen machte der Fall eines Technikers, der seit neun Jahren als Leiharbeiter in der Entwicklung des Langstreckenjets A350 beschäftigt war. Im Sommer 2014 änderte sich plötzlich sein arbeitsrechtlicher Status: Zwar saß er immer noch mit denselben Kollegen zusammen und bekam seine Anweisungen vom selben Airbus-Teamleiter, verdiente aber 30 Prozent weniger. Eine umfangreiche Recherche der IG Metall Küste zeigte, dass das Vorgehen des Flugzeugbauers System hatte.
In der Metall- und Elektroindustrie werden in drei Vierteln aller Betriebe Arbeiten auf Grundlage von Werkverträgen ausgelagert, ergab eine Anfang Oktober veröffentlichte Betriebsrätebefragung der IG Metall. Dies gilt auch für Kernbereiche der Wertschöpfungskette wie Produktion, Montage sowie Forschung und Entwicklung. Der Anteil der Unternehmen, in denen Werkverträge Stammarbeitsplätze ersetzen, ist der Studie zufolge seit 2012 von sechs auf 18 Prozent gestiegen.
Seit Monaten versucht die IG Metall, die mit knapp 2,3 Millionen Mitgliedern die meisten der 6,1 Millionen im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Organisierten stellt, mit öffentlichen Aktionen auf das Thema aufmerksam zu machen. Andere DGB-Gewerkschaften sind weniger präsent. Ihre Ressourcen sind eben begrenzter – ihre Probleme eher nicht. Denn quer durch alle Branchen gehört der Werkvertragsmissbrauch mittlerweile zum Repertoire moderner Personalplanung, die im Managersprech „Human Resources“ heißt.
Selbst der öffentliche Dienst ist keine Ausnahme, wie das Beispiel der Berliner Zentral- und Landesbibliothek zeigt. Unter Federführung einer sozialdemokratischen Kulturverwaltung wurde im Juni 2014 begonnen, den Büchereinstelldienst an ein externes Unternehmen auszulagern. Die Maßnahme diene der „Entlastung der eigenen Mitarbeiter“ und der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, hieß es. Doch die nun zuständige Firma beschäftigt zu schlechteren Bedingungen und zahlt statt Tarif- nur den Mindestlohn.
Ähnlich sieht es im Einzelhandel und in vielen Dienstleistungsbranchen aus. Die Beschäftigten von Werkvertragsfirmen räumen Supermarktregale ein, putzen Hotelzimmer, betreiben Kantinen und Callcenter, be- und entladen Lastwagen und fahren Pakete aus. Bezahlt wird pro „Werk“: für das volle Regal, das geführte Kundengespräch oder das gelieferte Paket.
Die Entwicklung maßgeschneiderter Werkvertragskonstruktionen samt Arbeitsorganisation, Personalbeschaffung und -führung ist inzwischen ein boomendes Geschäftsfeld von Unternehmensberatungen und Personaldienstleistern. Was plant Nahles zur Eindämmung dieses ausufernden Unwesens?
Im Koalitionsvertrag heißt es lapidar: „Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden.“ Damit ist klar, dass es nicht um eine Verschärfung geltenden Rechts gehen wird, sondern allenfalls darum, ein über die letzten Jahre zur Normalität gewordenes Rechtsstaatsversagen ein bisschen zu korrigieren.
Einem Recht auf Mitbestimmung bei Werkverträgen für Arbeitnehmervertreter hat Nahles bereits eine Absage erteilt. Stattdessen sollen Unternehmen verpflichtet werden, ihre Betriebsräte vierteljährlich über den Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten zu informieren. Zwar haben die Betriebsräte bereits jetzt einen Anspruch auf diese Informationen – aber nur, wenn sie gezielt danach fragen. Dazu brauchen sie konkrete Anhaltspunkte, dass „etwas nicht stimmt“. Doch gerade in Großunternehmen, wo ständig Lieferanten, Reparatur- und Wartungsdienste und Installateure auf dem Betriebsgelände unterwegs sind, fällt solch ein „On-site-Outsourcing“ oft erst nach einiger Zeit auf.
Gute und schlechte Verträge
Weiter soll das Gesetz definieren, was ein guter und was ein schlechter Werkvertrag ist, und damit eine rechtssichere Unterscheidung zur Arbeitnehmerüberlassung erleichtern. Das ist nicht ganz neu. Schon heute gilt: Beschäftigte einer Werkvertragsfirma dürfen keine Weisungen vom Auftraggeber erhalten. Geschieht dies doch, handelt es sich in Wirklichkeit um Leiharbeit. Das klingt simpel. In der Praxis führt es jedoch zu kreativen Umgehungsstrategien – etwa der, dass einfach ein Vorarbeiter der Fremdfirma zwischengeschaltet wird. So empfehlen die Berufsgenossenschaften in einem Leitfaden für Unternehmen, Auftraggeber sollten „darauf achten, dass Weisungen jeglicher Art grundsätzlich nur an den Aufsichtführenden der Fremdfirma zu richten sind, der sie dann an seine Mitarbeiter weitergibt“.
Ferner sollen künftig die Auftraggeber für den Arbeitsschutz der Beschäftigten von Werkvertragsfirmen auf ihrem Betriebsgelände verantwortlich sein. Eine derartige Regelung ist überfällig. Diverse Studien zeigen, dass Beschäftigte mit unterschiedlichem arbeitsrechtlichen Status unterschiedlichen Gefährdungsrisiken ausgesetzt sind. Für Leiharbeiter ist das Risiko höher als für Stammbeschäftigte, weil sie kürzer im Betrieb bleiben und die Fluktuation hoch ist. Am gefährlichsten leben Werkvertragsbeschäftigte – eben genau deshalb, weil der Auftraggeber die Verantwortung fast komplett abwälzen kann.
All das wären im Vergleich zum Status quo bescheidene Verbesserungen. Den Werkvertragsmissbrauch werden sie allerdings nicht wirksam eindämmen können. Dazu wären weitergehende Maßnahmen nötig. Vorschläge dazu lagen bereits auf dem Tisch – und sind wieder in der Schublade verschwunden. 2014 erarbeiteten die Arbeitsrechtler Christiane Brors und Peter Schüren im Auftrag des nordrhein-westfälischen Arbeitsministeriums ein Gutachten, in dem sie eine Umkehr der Beweislast vorschlagen: Wenn betroffene Beschäftigte vorbringen, dass sie in den Betriebsablauf eines Auftraggebers eingebunden sind, müsste dieser das Gegenteil beweisen. Kann er nicht überzeugend darlegen, dass der Einsatz im Rahmen eines echten Werkvertrages stattfindet, würde automatisch von illegaler Arbeitnehmerüberlassung ausgegangen werden. Der Beschäftigte müsste eine Festanstellung erhalten.
Doch an einem solchen Modell hat die Große Koalition kein Interesse. Dazu sind neue politische Konstellationen nötig.