Für die schweizerische Unia geht Gewerkschaftsarbeit weit über das Aushandeln von Tarifverträgen hinaus
Von Jörn Boewe, neues deutschland, 15. Nov. 2013
Die Unia, mit 200 000 Mitgliedern größte Gewerkschaft der Schweiz, verbindet erfolgreich Basisarbeit am Arbeitsplatz mit gesellschaftspolitischen Kampagnen.
Eine kantige rote Faust, flankiert von Hammer und Sichel, zerschmettert die kleine Schweiz. »Arbeitsplätze vernichten? Nein!« steht auf dem Plakat, das in einem Stil gestaltet ist, der an die Zeit des Kalten Krieges erinnert. Wer dieser Tage in der Eidgenossenschaft unterwegs ist, kann dieses oder ähnliche Plakate nicht übersehen. Am 24. November stimmen die acht Millionen Wahlberechtigten in dem kleinen Bundesstaat darüber ab, ob künftig eine Höchstgrenze für Managergehälter in der Verfassung verankert wird. »1:12« heißt die Initiative, ihre Idee: Kein Chef soll im Monat mehr verdienen als der schlechtbezahlteste seiner Angestellten in einem ganzen Jahr.
Initiiert wurde die Kampagne von der Jugendorganisation der Schweizer Sozialdemokraten. Richtig Fahrt nahm sie auf, als im Frühsommer 2013 die größte Gewerkschaft des Landes einstieg – die 200 000 Mitglieder zählende Unia. Ihre Aktivisten begannen, in Betrieben und auf der Straße für die Abstimmung zu werben, sie gaben der Kampagne ein radikales, angriffslustiges Gesicht.
Besonders gut kam etwa ihre »Abzockeruhr an«, eine Art Parkscheibe, mit der man im Handumdrehen sein Einkommen mit dem der Vorstandschefs von Schweizer Großkonzernen wie UBS, Novartis und Nestlé vergleichen kann. Wenn ein Facharbeiter für 5000 Schweizer Franken einen Monat arbeiten muss, schafft Brady Dougan, der Chef der Credit Suisse, das in nicht mal sieben Minuten. So einfach kann man soziale Ungerechtigkeit auf den Punkt bringen.
»Wir begnügen wir uns nicht damit, in jedem neuen Jahr die Löhne zu verhandeln und einen Tarifvertrag abzuschließen , sagt Roman Burger, Geschäftsleiter der Unia Zürich-Schaffhausen. »Wir sehen uns als eine Organisation, die in einem weiten Kontext für soziale Gerechtigkeit einsteht, sich in politische Diskussionen einmischt und diese mitprägt.« Das Schweizer System der direkten Demokratie begünstigt diesen Ansatz. So konnte die Gewerkschaft mehrfach Beschlüsse des Parlaments kippen, etwa die Rentenreform 2009, die zu einer rund zehnprozentigen Kürzung der Pensionszahlungen geführt hätte.
Möglich wurde dies auch, weil die 2004 als Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaften der Branchen Bau, Industrie, Handel und Dienstleistung gegründete Unia auf systematische Basisarbeit setzt. »Von einer Gewerkschaft der Hochkonjunktur zur Gewerkschaft für raue Zeiten«, lautet ihr Motto. Dass das mehr ist als ein schöner Werbespruch, konnte die Unia jüngst bei einem Konflikt auf der Großbaustelle des Züricher Hauptbahnhofs beweisen. Ein von der Schweizer Bundesbahn SBB beauftragtes Spezialbauunternehmen hatte 30 polnische Bauarbeiter beim Bau einer Brandschutzanlage monatelang als Scheinselbständige zu Stundenlöhnen zwischen umgerechnet fünf und elf Euro beschäftigt. Nachdem die Unia Generalunternehmer und Auftraggeber im Oktober mit den Vorwürfen konfrontierte, wurden die Arbeiter über Nacht nach Polen zurückgeschickt. Daraufhin legte die Gewerkschaft die Baustelle still, holte die Arbeiter zurück und ließ sie ihre Geschichte auf einer Pressekonferenz berichten. Zwei Tage blieb die Arbeit liegen, dann erklärte sich das Unternehmen bereit, vorenthaltene Löhne in Höhe von 700 000 Franken nachzuzahlen.
»Präsenz an den Arbeitsplätzen« sei seit Jahren eine Stärke seiner Organisation, meint Burger. »Unsere Sekretäre verbringen ihre Arbeitszeit fast ausschließlich draußen bei den Beschäftigten.« Allerdings habe dies noch keine »tiefe Verwurzelung in den Strukturen der Belegschaften« bedeutet, räumt er ein. Deshalb setze die Unia jetzt darauf, in strategisch wichtigen Betrieben, Netzwerke von Vertrauensleuten aufzubauen. »Ziel ist es, dass diese dann am ›Tag X‹ ihre Leute mitnehmen können und dafür sorgen, dass der gesamte Betrieb tatsächlich in den Streik tritt«.