Von Ryanair bis Lufthansa: Die Beschäftigten der Luftfahrtindustrie leiden unter 25 Jahren Sozialdumping. Jörn Boewe, der Freitag, 47/2016
Welche Arbeitsbedingungen bei Ryanair herrschten, erklärte Hessens grüner Verkehrsminister Tarek Al-Wazir Anfang November verblüfften Abgeordneten der Opposition, gehöre nun wirklich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Mit Sonderrabatten bei den Airportgebühren hatte die mehrheitlich im Landesbesitz befindliche Flughafengesellschaft Fraport gerade Europas größten Billigflieger nach Frankfurt geholt. „Bis heute war es für mich nicht vorstellbar“, sagte SPD-Fraktionschef Thorsten Schäfer-Gümbel, „dass ausgerechnet der Grüne Tarek Al-Wazir einem Gebührenmodell für Frankfurts Flughafen zustimmt, das dafür sorgt, dass man künftig für 9,99 Euro nach Mallorca fliegen kann.“
Die Episode zeigt auf, was sich in 25 Jahren verändert hat: im Luftverkehr, bei den Grünen, im ordnungspolitischen Selbstverständnis der öffentlichen Hand. Der Triumph der Billigflieger ist dabei nur eine, aber die auffälligste von tiefgreifenden Verschiebungen, die die zivile Luftfahrt von einer weitgehend staatlich organisierten Angelegenheit zu einem durch und durch kapitalistischen Business machten. Letzteres wird dieser Tage etwa durch Tarifauseinandersetzungen und Streiks wie bei der Lufthansa und ihren Tochterfirmen sichtbar.
Nirgends ist der Flugverkehr zuletzt so schnell gewachsen wie in Europa. Starteten 1990 noch 24,2 Millionen Fluggäste von deutschen Flughäfen, waren es 2014 schon 81,6 Millionen. Überdurchschnittlich stieg der Anteil innereuropäischer Flüge: der Wochenendtrip nach Berlin oder Barcelona als fester Bestandteil des Lifestyles einer neuen Konsumentengeneration.
Es wird immer dreckiger
Trotz schadstoffärmerer Triebwerke haben sich die Treibhausgasemissionen der zivilen Luftfahrt in diesem Zeitraum praktisch verdoppelt. Zwar liegt die Fliegerei mit EU-weit derzeit drei Prozent als Klimakiller immer noch deutlich hinter Industrie, Kraftwerken und Autoverkehr. Doch ihre Emissionen wachsen schneller als die jeder anderen Branche. Auf absehbare Zeit rechnet das Umweltbundesamt mit einem Anstieg des flugbedingten CO2-Ausstoßes um drei bis vier Prozent jährlich. Dazu kommen weitere Klimaeffekte in großer Flughöhe durch Stickoxide und Wolkenbildung, die mindestens noch einmal so gravierend sind wie die Folgen des CO2.
Wachstumsmotor ist fast ausschließlich die Billigfliegerei. 20 Jahre nachdem das Modell in den USA von Southwest Airlines entwickelt worden war, kopierte es die bis dahin eher unbedeutende irische Regionalfluggesellschaft Ryanair und eroberte in den späten 1990ern den europäischen Markt. „No frills“, kein Schnickschnack, ist die Devise. Gespart wird nicht nur bei „Extras“ wie Bordverpflegung, Beinfreiheit, Tageszeitungen oder Freigepäck. Ryanair ist berüchtigt für seine Niedriglohn- und Sozialdumpingstrategie: Ein in Deutschland lebender und arbeitender Vollzeit-Flugbegleiter erhält nach Angaben der Gewerkschaft UFO ein Bruttojahresgehalt zwischen 11.000 und maximal 18.000 Euro, hat aufgrund seines irischen Arbeitsvertrags keine deutsche Krankenversicherung, erwirbt keine deutschen Rentenansprüche und bekommt bei Entlassung nicht einmal Arbeitslosengeld – „no frills“ eben.
Nur rund jeder zweite Pilot bei Ryanair fliegt mit Festanstellung, zeigte 2014 eine EU-Studie. Nicht besser sei es beim Mitbewerber Norwegian Air Shuttle, 1993 in Oslo gestartet. Ryanair definierte Trends und Maßstäbe, andere zogen nach. 1998 kam die britische Easyjet als zweiter erfolgreicher Low-Cost-Carrier nach Deutschland, 2002 drängten die deutschen Billigfluggesellschaften Hapag-Lloyd Express, heute TUIfly, und Germanwings nach.
Die Lufthansa, die damals schon 24,9 Prozent der Germanwings-Aktien hielt, spielte frühzeitig mit im Billigfluggeschäft. Deutschlands ehemaliger „Flag Carrier“, der
seine Sparprogramme für Personal und Kunden heute unter dem Label Eurowings bündelt, war bis 1997 komplett privatisiert worden. So ging es früher oder später fast allen staatlichen Fluggesellschaften in Europa: British Airways 1984, KLM 1986/87, Air France 1998, Iberia 2001, Swissair 2001/02. Parallel dazu wurden Flughäfen privatisiert, Sicherheitsdienste, Gepäckabfertigung, sogar die Flugsicherung.
Der Prozess war kein Naturereignis, sondern durch politische Entscheidungen in Gang gesetzt: für die USA durch den Airline Deregulation Act von 1978, in Europa durch diverse Liberalisierungsrichtlinien der EU seit 1987, die durch nationale Gesetze und Strategiepläne ergänzt und umgesetzt wurden. Weniger staatliche Regulation bei Zulassung, Streckenführung, Marktzutritt und Preisbindung würde zu mehr Effizienz und Wettbewerb, weniger staatlichen Subventionen und sinkenden Ticketpreisen sowie mehr Kundenfreundlichkeit führen – so die Erzählung, gegen die in jenen Jahren kaum jemand ankam.
Wie weit die handelnden Politiker sich nur vom neoliberalen Zeitgeist hatten anstecken lassen und welche Richtungsentscheidungen direkte Resultate konzertierter Lobbyarbeit waren, ist bemerkenswert wenig erforscht. Fest steht, dass mit dem Abflauen des industriellen Nachkriegsbooms in den 70ern jede Menge frei flottierendes Kapital weltweit nach neuen Anlagemöglichkeiten suchte und seine Lobby eine breite und strategisch angelegte Privatisierungsdebatte initiierte, die die kommenden Jahrzehnte prägen sollte.
Die Unterstützung der Politik beschränkte und beschränkt sich aber nicht darauf, marktfreundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Wie das aktuelle Beispiel Ryanair in Frankfurt zeigt, wird ganz praktisch und handfest ins „freie Spiel der Kräfte“ eingegriffen, wo immer es vertretbar scheint. Nun erwartet man von Union und FDP
nichts anderes. Aber auch Grüne, Linke, SPD und Gewerkschaften spielten das Spiel mehr oder weniger mit: Um den Flughafen Berlin-Schönefeld für Easyjet attraktiv zu machen, gründete der damals noch mehrheitlich im öffentlichen Besitz befindliche Abfertiger Globeground 2003 auf Druck des rot-roten Senats die Billiglohntochter Ground Service International aus. Betriebsrat und Verdi stimmten zu. 2007 wurde Globeground mitsamt der Billigtochter an den privaten Frankfurter Dienstleistungskonzern Wisag, einen der aggressivsten Player der Branche, verkauft. Vorher verzichteten die Beschäftigten mit einem Absenkungstarifvertrag noch auf ein Fünftel ihres Einkommens. Hätte man Easyjet erst einmal nach Berlin gelockt, könnte man das Niveau wieder anheben, so Verdis „Plan“. Er schlug völlig fehl. Nicht einmal zehn Jahre nach dem Startschuss für die Dumpinglohnstrategie bei Globeground arbeiteten 40 Prozent aller Bodenverkehrsbeschäftigten an deutschen Flughäfen im Niedriglohnsektor, oft zu Stundenlöhnen
von weniger als acht Euro, mit Leiharbeitsquoten um 50 Prozent, schätzte 2012 der damalige Verdi-Fachgruppenleiter Luftverkehr, Ingo Kronsfoth.
Unselige Gewerkschafter
Zwei Jahre später wechselte Kronsfoth die Seiten und wurde Geschäftsführer bei der Wisag. Der Fall erinnert an den früheren ÖTV-Vorsitzenden Herbert Mai, der nach seiner Gewerkschaftskarriere 2001 für ein Jahrzehnt Arbeitsdirektor bei der gerade teilprivatisierten Fraport AG wurde. Beide stehen für eine unselige „Mauschel-Tradition“, eine Altlast, die Verdi aus der alten ÖTV geerbt hat. Schon immer fragwürdig, wurde sie in der Ära des finanzgetriebenen Kapitalismus völlig dysfunktional – jedenfalls aus Beschäftigtensicht.
Wenig verwunderlich ist es da, dass die Branche heute wohl die mit der höchsten Anzahl teilweise konkurrierender Gewerkschaften ist: Seit 1969 gibt es die Pilotenvereinigung Cockpit. Als eigenständige Gewerkschaft tritt sie allerdings erst seit der Jahrtausendwende auf. 1992 entstand die Unabhängige Flugbegleiter Organisation
UFO aus einer ÖTV-Abspaltung. Nach eigenen Angaben ist sie beim Kabinenpersonal seit Jahren stärker als Verdi. 2004 gründeten die Lotsen der inzwischen voll auf Privatisierungskurs befindlichen Deutschen Flugsicherung ihre eigene Gewerkschaft GdF. Vorausgegangen war ein schlechter, von Verdi ausgehandelter Tarifvertrag.
Allerdings hat sich mittlerweile auch Verdi verändert. Mit harten Bandagen und mit Organizing an der Basis konnte die Gewerkschaft in den vergangenen Jahren beachtliche Lohnerhöhungen beim Sicherheitspersonal durchsetzen. Diesen Weg will man nun auch bei der Bodenabfertigung gehen. Mit einer Kampagne für einen Flächentarifvertrag aller deutschen Großflughäfen will Verdi den Unterbietungswettbewerb bei den Löhnen stoppen.