Übermächtig

Amazon — Der Internet-Gigant ist längst mehr als ein Online-Händler. Amazon ist auf dem Weg zur digitalen Supermacht. Darauf müssen sich auch die Gewerkschaften einrichten

Von Jörn Boewe, ver.di publik,  4. November 2021

Das Ding sieht aus wie ein Staubsauger, kann aber nicht staubsaugen. Amazons neuestes Produkt „Astro“ wird als Haushaltsroboter vermarktet. Tatsächlich aber ist es eine wandelnde Überwachungskamera.

„Astro“ steht exemplarisch für das übergriffige Geschäftsmodell des Internet-Giganten aus Seattle: Amazon ist eine riesige Datenkrake, die es geschafft hat, mit einer Mixtur aus teils funktionalen und teils völlig sinnlosen und gefährlichen Produkten und Dienstleistungen immer tiefer in den Alltag von Millionen Menschen einzudringen. 300 Millionen Nutzeraccounts hat das Unternehmen weltweit, allein die deutschsprachige Website verzeichnet rund eine halbe Milliarde Kundenzugriffe jeden Monat.

ABSOLUTER CORONA-GEWINNER

Durch die Corona-Pandemie hat Amazons Expansion nochmal enormen Schwung bekommen. 2020 war das bislang erfolgreichste Geschäftsjahr in der Geschichte des Unternehmens. Der Umsatz des Online-Riesen steigerte sich um sagenhafte 31 Prozent und liegt mit 386 Milliarden US-Dollar mittlerweile auf dem Niveau des Bruttoinlandsprodukts kleiner hochentwickelter Volkswirtschaften wie Israel oder Irland. Damit rückte Amazon von Platz 9 auf 3 in der vom Fortune-Magazin erstellten Liste der umsatzstärksten Unternehmen weltweit – weit vor Apple, Toyota und VW.
Hierzulande – Deutschland ist für Amazon der wichtigste Markt
außerhalb von Nordamerika – betreibt Amazon inzwischen an 16 Standorten Versandlager. Zuletzt wurden die im Firmenjargon genannten „Fullfillment Center“ in Gera und Achim bei Bremen eröffnet, nächstes Jahr soll ein weiteres bei Hof folgen. Während viele stationäre Händler 2020 ums Überleben kämpften, war der Lockdown für Amazon ein Konjunkturprogramm: Seit vergangenem Jahr liegt sein Marktanteil im Onlinehandel bei über 50 Prozent, der Umsatz kletterte um fast ein Drittel auf 25,9 Milliarden Euro. Der Otto-Konzern aus Hamburg liegt weit abgeschlagen mit 6,9 Milliarden Euro auf Platz Zwei.

Der Abstand zur Konkurrenz wird immer größer. In der Studie „Amazonisierung des Konsums“ mahnte das auf Einzelhandel spezialisierte Marktforschungsunternehmen IFH Köln schon 2018, „dass der Weg zum Kunden für andere Anbieter regelrecht abgeschnitten wird“. Mittlerweile landet jeder zweite im Netz ausgegebene Euro bei Amazon. Wie hat Amazon das geschafft?

VOM WOHNZIMMER BIS INS PENTAGON

Am Anfang, 1994, war Amazon nichts weiter als ein Buchversand. Gerade mal ein Vierteljahrhundert später ist daraus jener „everything store“ geworden, von dem sein Gründer Jeff Bezos schon frühzeitig geträumt hatte. Schritt für Schritt erweiterte Amazon sein Angebot: Zu den Büchern kamen CDs und DVDs, später Spielzeug, Elektronik und schließlich alles Mögliche, was sich verkaufen und in einem Paket verschicken lässt.

Es blieb aber nicht beim Online-Handel. 2002 gründete das Unternehmen die Tochterfirma Amazon Web Services (AWS), die 2006 groß ins Cloud-Geschäft einstieg. Mittlerweile ist AWS der weltweit führende Webspace-Anbieter. Auf AWS-Servern liegen die Daten von Netflix, Disney, Dropbox und General Electric, aber auch der NASA, der CIA und des Pentagons. Und während Amazon im Online-Handel mit riesigen Investitionen in die logistische Infrastruktur lange Zeit nur geringe Gewinnmargen erzielte oder sogar Verluste in Kauf nahm, wurde und wird mit AWS der größte Teil des Konzerngewinns erzielt. Praktisch wird die weltweite Expansion als Onlinehändler durch das Cloud-Geschäft finanziert.

Von den 14,5 Milliarden US-Dollar Gewinn, die Amazon im vergangenen Jahr weltweit machte, kamen allein 9,2 Milliarden von AWS. Im Onlinehandel außerhalb Nordamerikas schloss der Konzern sogar mit einem Verlust von 1,7 Milliarden Dollar ab. Sieht man diese Zahlen, wird klar, warum Amazon nicht nur in der Lage ist, mit seinem weltweiten Online-Handelsimperium über Jahre zu expandieren, ohne damit einen Dollar zu verdienen, aber auch, warum der Konzern Arbeitskämpfe, die auf einige große Versandlager beschränkt bleiben, über lange Zeit einfach aussitzen kann.

Amazon ist heute zugleich Logistiker, Treiber der Plattformökonomie, Anbieter von Musik- und Videostreaming-Diensten, Entwickler und Produzent von IT-Hard- und Software und vieles mehr. Der Tech-Gigant ist als Film- und Serienproduzent einer der großen Player der Kulturindustrie und unterhält mit Ring ein auf Smarthome-, Sicherheits- und Überwachungstechnik spezialisiertes Tochterunternehmen. Amazon ist Großinvestor bei Deliveroo und seit dem Kauf der US-Bio-Supermarktkette Whole-Foods 2017 auch der größte Biolebensmittelhändler der Welt.

DAS GESCHÄFT MIT DER GESUNDHEIT

Ein weiteres Aktionsfeld des Konzerns hat durch die Corona-Pandemie einen neuen Schub bekommen: Amazons Einstieg ins digitale Gesundheitsgeschäft, insbesondere in die Entwicklung von KI-gestützten Tools für Diagnose, ärztliche Versorgung und Medizinforschung. Bereits 2018 war das Unternehmen in den USA mit dem personalisierten Medikamentenversand Pill Pack an den Start gegangen, 2019 folgte eine Kooperation mit dem britischen National Health Service, die Amazon Zugriff auf Patientendaten ermöglicht.

Auch ins Versicherungsgeschäft ist Amazon eingestiegen. Eine gemeinsam mit JP Morgan und Berkshire Hathaway in den USA auf den Weg gebrachte Krankenversicherung floppte zwar. Inzwischen bietet Amazon aber Haftpflichtversicherungen an: Händler, die über die Plattform Artikel verkaufen wollen, müssen eine solche abschließen – natürlich bei Amazon selbst.

KAMPFFELD LOGISTIK

Waren an Kunden zu bringen, bleibt dennoch Amazons zentrales Geschäft. Um unabhängig von anderen Unternehmen zu sein, baut sich der Konzern zunehmend eigene Logistikketten auf. Und das nicht nur zu Land. Amazon betreibt Containerschiffe zwischen China und den USA, und die eigene Luftfracht-Fluglinie Amazon Prime Air ist mittlerweile die viertgrößte der Welt. Zudem eröffnet der Konzern in immer mehr Großstädten in den USA, Großbritannien, Italien, Frankreich, Spanien, Japan und Deutschland Expressauslieferungsstationen („Prime Now Hubs“).

50 Sortier- und Verteilzentren brachte Amazon in den letzten vier Jahren bundesweit an den Start. Ausgeliefert werden die Pakete praktisch ausschließlich durch Subunternehmen, bei denen oft katastrophale Arbeitsbedingungen herrschen. Seit 2017 baut der Konzern zudem seine eigene Paketzustell-Logistik („Amazon Logistics“) auf und macht sich damit immer unabhängiger von den großen Paketdienstleistern wie DHL oder Hermes. DHL rechnet bei Amazon-Aufträgen bis 2022 mit einem Rückgang von 30 Prozent.

Amazon ist ein höchst agiler Multibranchenkonzern. Gewerkschaften müssen das berücksichtigen und mehr als in der Vergangenheit über Branchen-, Länder- und Organisationsgrenzen hinausdenken und zusammenarbeiten. Dass man damit Erfolg haben kann, zeigt das Beispiel Italien: Im Frühjahr haben vier Gewerkschaften gemeinsam den ersten landesweiten Streik entlang der kompletten Amazon-Logistikkette organisiert. Im September sah sich der Konzern gezwungen, einen Tarifvertrag abzuschließen. Für das Unternehmen, das sich ansonsten notorisch weigert, überhaupt mit Gewerkschaften zu verhandeln, ist das eine Weltpremiere.

Vom Autor dieses Textes sowie Tina Morgenroth und Johannes Schulten ist unlängst die Studie „Amazons letzte Meile“ erschienen. Sie kann heruntergeladen werden unter