Gewerkschaften verboten: Tausende Arbeitsmigranten sind beim Bau der WM-Stadien in Katar gestorben. Trotz drakonischen Regeln und dem Verbot von Gewerkschaften, schaffen sie es, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Jörn Boewe, der Freitag digital, 27. Sept. 2022
Ausgerechnet am 20. November, dem Totensonntag, findet das Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2022 in Katar statt. Sicher ein makabrer Zufall, aber irgendwie passend. Denn Tausende migrantischer Bauarbeiter, überwiegend aus Südasien und Ostafrika, haben beim Bau der Stadien und Hotels ihr Leben gelassen. Amnesty International spricht von rund 15.000 Todesfällen im Zusammenhang mit den Bauarbeiten, der Guardian hat 6500 Fälle recherchiert, doch die genaue Zahl kennt niemand – denn die Behörden des Emirats, eine der letzten absolutistischen Monarchien der Welt, verweigern detaillierte Untersuchungen.
Fakt ist: Der Ölstaat Katar ist eines der reichsten Länder der Welt, das Pro-Kopf-Einkommen liegt im Schnitt bei 6.200 Euro. Nicht in diese Berechnung gehen die praktisch rechtlosen Arbeitsmigranten ein, die nahezu 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Hunderttausenden von Bauarbeitern, die aus Nepal, Indien, Bangladesch und Kenia angeworben wurden, um das Land für die FIFA-WM startklar zu machen, erhalten einen Monatslohn um die 230 Euro – bei Zwölfstundenschichten unter einer gleißenden Sonne und Temperaturen, die nicht selten auf 50 Grad und mehr ansteigen.
Malcom Bidali bloggte über die Zustände und wurde festgenommen
„Sportswashing“ – Imageverbesserung durch pompöse Großveranstaltungen – nennt man im Fachjargon das, was Katar mit der WM versucht. Wie vor ein paar Jahren herauskam, hat der Wüstenstaat dafür nicht nur bei den Investitionen in die Infrastruktur tief in die Tasche gegriffen – auch für eine Reihe höchster FIFA-Funktionäre fielen großzügige Zuwendungen ab. Klar, dass dann irgendwo gespart werden muss, und wo geht das besser als bei Löhnen und Arbeitsschutz? Möglicherweise hat Katar den Bogen aber ein bisschen überspannt: Immer wieder dringen Berichte über das feudal-kapitalistische Ausbeutungssystem am Golf durch und sorgen zumindest in Teilen der Weltöffentlichkeit für Irritationen. Vielleicht funktioniert das „Sportswashing“ im Fall von Katar am Ende doch nicht.
Denn obwohl die Emirat-Dynastie weder unabhängige Medien noch Gewerkschaften duldet, flackert immer wieder Protest unter den Bauarbeitern auf: Beschäftigte organisieren sich, machen in Blogs und Social-Media-Plattformen auf ihre Lage aufmerksam. Einer von ihnen ist der Kenianer Malcom Bidali, der zurzeit gemeinsam mit einer Gruppe anderer Arbeitsmigranten und Gewerkschafter auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung durch Deutschland tourt. „Für diese WM sind Menschen gestorben“, sagt Bidali. „Darüber wollen wir sprechen.“
Bidalis Geschichte ist haarsträubend, aber sie ist stellvertretend für viele. Weil er in Kenia keine Arbeit fand, kam er 2016 zum ersten Mal nach Katar. 1200 Euro zahlte er als Vermittlungsgebühr an eine private Agentur, die Arbeitsmigranten für die Golfstaaten anwarb. Zwei Jahre arbeitete er als Wachmann beim U-Bahn-Bau. Dann zurück nach Kenia, wieder arbeitslos, neuer Anlauf in Katar. Wieder als Wachmann, diesmal auf der Baustelle eines Luxushotels. Die Firma gehört dem Staat, doch die Bedingungen sind katastrophal: Zu sechst sind die Arbeiter in winzigen Zimmern mit Doppelstockbetten untergebracht, es gibt Wanzen, Löhne werden willkürlich gekürzt. Obwohl es das Gesetz verbietet, müssen sie an heißen Sommertagen zwischen 10 und 15.30 Uhr im Freien arbeiten.
Bidali nimmt Kontakt mit einer NGO auf, die sich für die Rechte von Arbeitsmigranten einsetzt und beginnt, seine Erlebnisse auf deren Blog zu schildern – unter falschem Namen natürlich. Zunächst scheint das sogar Erfolg zu haben: Die Zustände in den Unterkünften bessern sich. „Plötzlich mussten wir nur noch zu dritt in einem Raum schlafen.“ Bidali schreibt weiter, fühlt sich bestätigt, aber als er in einem Blogbeitrag die königliche Familie kritisiert, stellt er ein paar Tage später fest, dass sein Smartphone gehackt wurde. Am 4. Mai 2021 wird er vom katarischen Staatssicherheitsdienst verschleppt und über Monate festgehalten, in einer winzigen Zelle, in der immer das Licht brennt. Ihm droht eine Anklage wegen Spionage und eine jahrelange Haftstrafe. Wohl weil sein Fall inzwischen international für Aufsehen sorgt, lässt Katar schließlich die Anklage fallen – gegen eine Strafzahlung von fast 7000 Euro, eine Summe, für die ein Bauarbeiter in Katar drei Jahre arbeiten muss.
Reformen stehen in Katar nur auf dem Papier
Bidalis Geschichte ist kein Einzelfall, weiß Binda Pandey vom nepalesischen Gewerkschaftsbund GEFONT. Seit Mitte der 1990er Jahre unterstützt sie nepalesische Wanderarbeiter beim Kampf um ihre Rechte. Als 1994 hunderte von nepalesischen Arbeitsmigranten nach ihrer Rückkehr aus Südkorea Proteste vor der koreanischen Botschaft organisierten, war das ein Meilenstein. Die Öffentlichkeit – nicht nur in Nepal, sondern auch in Südkorea, konnte die Probleme der überausgebeuteten migrantischen Beschäftigten nicht mehr so einfach ignorieren. Der südkoreanische Gewerkschaftsbund KCTU und der nepalesische GEFONT begannen zusammenzuarbeiten, um die Situation der Wanderarbeiter zu verbessern. Politik und Unternehmen wurden durch öffentlichkeitswirksame Proteste unter Druck gesetzt und zum Handeln gezwungen, Mindeststandards wurden festgeschrieben und Kontrollmechanismen geschaffen. Ähnlich gingen die nepalesischen Gewerkschaften später zusammen mit Gewerkschaften in Hongkong vor.
In der Ölmonarchie Katar gestalten sich die Dinge schwieriger, denn hier gibt es keine freien Gewerkschaften. Jedes Jahr, so Pandey, sterben rund 200 nepalesische Arbeitsmigranten in Katar. Jetzt, wo das Land anlässlich der FIFA-WM im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, gibt es ein kleines Zeitfenster, die Situation der sonst Unsichtbaren sichtbar zu machen. „Nach der WM“, da macht sie sich keine Illusionen, „wird der Druck schnell wieder nachlassen.“
Tatsächlich ist bereits einiges passiert. Katar hat im Zuge der WM-Vergabe durch die FIFA, eine Reihe von Reformen im Arbeitsrecht beschlossen. „Die Liste ist beeindruckend“, meint Katja Müller-Fahlbusch von Amnesty International. „Aber diese Reformen stehen nur auf dem Papier, sie werden nicht oder unzureichend umgesetzt.“ So etwa das berüchtigte Kafalla-System, bei dem Arbeitsmigranten, die nach Katar kommen, dem Arbeitgeber ihren Reisepass aushändigen müssen und infolgedessen, weder das Land verlassen, noch den Arbeitsplatz wechseln können. Katar behauptet, dieses System, das angeblich der Kriminalitätsbekämpfung dienen soll, bereits 2014 abgeschafft zu haben. Tatsächlich wurde vor allem der Name abgeschafft. Wie unzählige dokumentierte Berichte von Arbeiterinnen und Arbeitern zeigen, besteht die Praxis der Arbeitgeber, die Reisedokumente von Beschäftigten einzubehalten, praktisch unverändert fort. Legal ist sie zwar nicht mehr, aber geduldet und ohne Konsequenzen für die Unternehmer.
Die WM als Tribüne nutzen
Was aber kann man von hier aus überhaupt tun gegen solche Zustände? „Immerhin können Gewerkschaften in der Öffentlichkeit auf die Situation aufmerksam machen“, meint Pascal Meiser, gewerkschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und verweist auf die IG BAU und deren Kampagne „Rote Karte für die FIFA“. Man könne den Aufbau von Gewerkschaften in anderen Ländern unterstützen oder Informationsreisen organisieren, wie die der Kolleginnen und Kollegen, die von ihren Erfahrungen in Katar berichten. „Das ist vielleicht nicht viel, aber es ist etwas.“ Beharrlichkeit sei dabei wichtig, denn: „Wenn die Spiele vorbei sind, drücken alle wieder die Augen zu und wollen nur an das billige Erdgas herankommen.“ Einen erfolgversprechenden Ansatz sieht Meiser in dem von verschiedenen internationalen Gewerkschaften betriebenen Projekt, ein Zentrum für die Rechte der migrantischen Beschäftigten in Katar aufzubauen. Eine solche Institution könnte über Rechte aufklären, Beratung in Streitfällen anbieten und so letztlich auch die Selbstorganisation der Arbeitsmigranten unterstützen.
Ein Boykott der FIFA-WM, wie er durch manche linke Diskussion geistert, ist für die Betroffenen kein Thema, wie der Kenianer Bidali deutlich macht – jedenfalls nicht mehr: „Der Zug ist abgefahren, das würde keinen Sinn mehr machen.“ Worauf es jetzt ankomme, sei, die Spiele als Tribüne zu nutzen: „Es kann etwas bewirken, die Stimme zu erheben.“