Wut und Würde

Um Wut und Würde geht es in zwei Interviews, die Jörn Boewe für den Freitag (04/2024) geführt hat – eines mit Hans-Jürgen Urban vom IG-Metall-Vorstand und eines mit Jana Costas, Professorin für People, Work and Management an der Viadrina-Universität Frankfurt (Oder), die ein halbes Jahr als Reinigungskraft am Potsdamer Platz in Berlin gearbeitet und darüber ein Buch geschrieben hat.

„Wenn die Menschen mit einer schlechten Politik unzufrieden sind“, sagt Urban, “ ist das […] eher positiv als negativ. Selbst Wut kann Positives bewirken. Wichtig ist, dass
der Unzufriedenheit Aufklärung antwortet und dass aus Wut linke Wut wird.“

Das ist nicht weit weg von einer Beobachtung, die Jana Costas reflektiert: „Um zu sagen, ich kann gemeinsam mit anderen etwas verändern, muss ich erst mal das Gefühl haben, ich bin wer und kann etwas sagen.[…] Wenn du permanent nicht als Subjekt wahrgenommen wirst, kostet es ziemliche Kraftanstrengungen, zu sagen: Ja, wir können was verändern, und auch meine Stimme zählt.“

Ab sofort im gut sortierten Zeitungs- und Zeitschriftenhandel.

Sauber: 12,5 Prozent mehr Lohn!

Wie schafft es eine Gewerkschaft ausgerechnet in so einer harten Branche wie der Gebäudereinigung, eine zweistellige Lohnerhöhung durchzudrücken? Darum geht’s in meiner Reportage „Sauber …“ im aktuellen Freitag (ab 20. Oktober am Kiosk).

Als Bonustrack gibt’s noch eine steile These: Tarifpolitik stößt zunehmend an Grenzen, weil Inflation Kaufkraft frisst, aber auch, weil sie keine Antworten hat auf die „unzähligen Ungerechtigkeiten und Demütigungen, die der Struktur des neoliberalen Dienstleistungskapitalismus selbst eingeschrieben sind (…) Subunternehmerketten, Fremdvergaben, aufgeblähte Controlling-Bürokratien voller Bullshit-Jobs auf der einen Seite und Personalmangel auf Seiten all jener, die die Arbeit erledigen müssen – die Liste ließe sich seitenlang fortschreiben. Auf den Wahnsinn der spätkapitalistischen Arbeitswelt strategische Antworten zu finden: Das ist die gewerkschaftliche Mammutaufgabe der nächsten Jahre.“

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Kampf gegen Ausbeutung: Arbeitsmigranten hoffen auf Fußball-WM in Katar

Gewerkschaften verboten: Tausende Arbeitsmigranten sind beim Bau der WM-Stadien in Katar gestorben. Trotz drakonischen Regeln und dem Verbot von Gewerkschaften, schaffen sie es, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Jörn Boewe, der Freitag digital, 27. Sept. 2022

Migrant workers from Asia in the West Bay area of Doha. Foto: Alex Sergeev (www.asergeev.com)

Ausgerechnet am 20. November, dem Totensonntag, findet das Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2022 in Katar statt. Sicher ein makabrer Zufall, aber irgendwie passend. Denn Tausende migrantischer Bauarbeiter, überwiegend aus Südasien und Ostafrika, haben beim Bau der Stadien und Hotels ihr Leben gelassen. Amnesty International spricht von rund 15.000 Todesfällen im Zusammenhang mit den Bauarbeiten, der Guardian hat 6500 Fälle recherchiert, doch die genaue Zahl kennt niemand – denn die Behörden des Emirats, eine der letzten absolutistischen Monarchien der Welt, verweigern detaillierte Untersuchungen.

Fakt ist: Der Ölstaat Katar ist eines der reichsten Länder der Welt, das Pro-Kopf-Einkommen liegt im Schnitt bei 6.200 Euro. Nicht in diese Berechnung gehen die praktisch rechtlosen Arbeitsmigranten ein, die nahezu 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Hunderttausenden von Bauarbeitern, die aus Nepal, Indien, Bangladesch und Kenia angeworben wurden, um das Land für die FIFA-WM startklar zu machen, erhalten einen Monatslohn um die 230 Euro – bei Zwölfstundenschichten unter einer gleißenden Sonne und Temperaturen, die nicht selten auf 50 Grad und mehr ansteigen. Weiterlesen

Die letzte Meile

Ausgelagert: Amazon reorganisiert seine Logistik. Arbeitsrecht und Würde spielen dabei keine Rolle.

Von Jörn Boewe, Der Freitag 39/2021, 30. Sept. 2021

„Maschine, ich bin eine Maschine“, sagt der Fahrer des weißen Lieferwagens. „Zwölf Stunden, jeden Tag, seit vier Jahren. Aber wenn ich nicht arbeite, kriege ich kein Geld.“ Der Mann stellt Pakete für Amazon zu, die globale Nummer eins des Onlinehandels. Jeden Morgen wartet er mit seinem Lieferwagen in der Schlange vor dem Verteilzentrum Frankfurt am Main.An diesem Spätsommermorgen, Anfang September 2021, ist aber etwas anders: Eine kleine Gruppe von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen verteilt Flyer in verschiedenen Sprachen an die Fahrer. Schnell kommt man ins Gespräch. Die Geschichten ähneln sich: Fahrer berichten von Zehn- oder Zwölf-Stunden-Schichten, von Arbeitsdruck, von Tagestouren mit 250 Zustellungen. Am Monatsende, oft auch verspätet, erhalten sie 1.000 bis 1.200 Euro. Manchmal gibt es Abzüge, etwa für einen abgefahrenen Spiegel oder Kratzer am Fahrzeug. Weiterlesen

Amazons letzte Meile – ein Feld neuer Klassenkämpfe im logistischen Kapitalismus?

Seit 2013 begleiten wir journalistisch und investigativ den Kampf der Amazon-Beschäftigten um bessere Arbeitsbedingungen. Nun ist unsere neue, gemeinsam mit Tina Morgenroth von Faire Mobilität Thüringen, verfasste Broschüre über Amazons Expansion in den Logistik-Bereich und die Perspektiven des Widerstandes als Gemeinschaftspublikation von Rosa-Luxemburg-Stiftung und DGB Bildungswerk Thüringen erschienen, auch mit Beiträgen zu gewerkschaftlicher Organisierung in der  Schweiz (UNIA),den USA (Teamsters) und Italien (CGIL).

Am Donnerstag haben wir die Studie in Erfurt vorgestellt (downloadlink). Schon einen Tag später musste Amazon öffentlich darauf reagieren. Danke an die Kolleginnen und Kollegen von Thüringen24 für ihre beherzte Berichterstattung.

https://www.thueringen24.de/thueringen/article233348269/Amazon-in-Thueringen-erfurt-onlinehandel-Studie-dgb-zeitarbeiter.html

Geliehene Macht

Porträt: Daniela Cavallo ist „Gastarbeiter“-Tochter, IG-Metallerin und jetzt Betriebsratsvorsitzende bei VW. Von Jörn Boewe, Der Freitag 28/2021

Bis vor kurzem war ihr Name in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt, seit Ende April ist sie wohl die mächtigste ehrenamtliche Gewerkschaftsfunktionärin der Welt: Daniela Cavallo, 46 Jahre alt, IG-Metall-Mitglied, hat den Vorsitz des „Gesamt- und Konzernbetriebsrats“ der Volkswagen AG übernommen. Sie löst Bernd Osterloh ab, der als Personalchef zur VW-Nutzfahrzeugtochter Traton wechselte.

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Hauptsache, dem Spargel geht es gut

Für Erntehelfer*innen gibt es nur Mindestlohn und kaum Arbeitsschutz

Von Jörn Boewe, 20. April 2021 |ak 670

Die Spargelernte beginnt – und mit ihr kommt eine der übelsten Ausbeutungsmaschinerien der Republik ins Rollen: die saisonale Landwirtschaft. Rund eine Viertelmillion Menschen, überwiegend aus Osteuropa, arbeiten von März bis Oktober auf deutschen Feldern, um die »Ernährungssicherheit« der Republik zu gewährleisten. Vom Spargelstechen übers Erbeerenpflücken bis zur Weinlese – die Arbeit in der Ernte ist ein Knochenjob. Dennoch wird dafür praktisch überall nur der gesetzliche Mindestlohn gezahlt – in diesem Jahr 9,50 Euro. Leute, die das als skandalös niedrig empfinden, hört man in der öffentlichen Diskussion eher selten. Weiterlesen

Eingeflogen, ausgebeutet, infiziert

Der Bundesregierung ist das Wohl der Agrarlobby weiterhin wichtiger als das der Erntehelfer

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, neues Deutschland, 7. April 2021

Der DGB warnt vor »unverantwortbaren Zuständen bei der Ernte«, die IG BAU spricht von »staatlich verordnetem Sozialdumping«. Wer dieser Tage aufmerksam die Zeitung liest, fühlt sich unweigerlich an das letzte Jahr erinnert. Wie nie zuvor waren die katastrophalen Bedingungen der ausländischen Saisonarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft in die mediale Öffentlichkeit geraten.

Um die pandemiebedingten Einschränkungen des Personenverkehrs zu den Nachbarländern zu umgehen, wurden im April und Mai 2020 Zehntausende osteuropäische Erntehelfer per Luftbrücke eingeflogen – zur »Sicherstellung der Ernährungs- und Versorgungssicherheit in Deutschland«, wie der Bauernverband dramatisch formulierte. Die landwirtschaftlichen Betriebe profitierten zudem von zahlreichen Sonderregelungen, wie der Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf zwölf Stunden. Da trotz aller staatlichen Anstrengungen nicht ausreichend ausländische Saisonarbeiter bereit waren, zu den hiesigen Bedingungen hierher zu kommen, erwarteten diejenigen, die es taten, ein erhöhter Arbeitsdruck und vielfach rechtswidrige Akkordregelungen. Auf zahlreichen Höfen kam es nachweislich zu Corona-Ausbrüchen.

Das ist kein Wunder. Nach außen hermetisch abgeschirmt, durften auch im Corona-Jahr 2020 noch bis zu 20 Personen in einer Unterkunft wohnen. Mindestens 300 landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte sollen sich nach einer Zählung der IG BAU zwischen April und Juli 2020 mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert haben. Ein trauriger Höhepunkt war der Tod eines 57-jährigen Erntehelfers auf einem Spargelhof in Baden-Württemberg am Osterwochenende. Wenn die letztjährige Erntesaison etwas Gutes hatte, dann, dass sie deutlich machte, wie abhängig die deutsche Landwirtschaft vom Import billiger Arbeitskraft ist.

Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten haupt- und nebenberuflich in landwirtschaftlichen Betrieben – knapp ein Drittel davon, etwa 300 000 – sind Saisonkräfte. Ohne sie wäre die Erntezeit nicht zu bewältigen – vom Spargelstechen im April bis zur Weinlese, die Mitte Oktober endet. Drei Viertel dieser Saisonkräfte kommen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Aufbauend auf dem Mindestlohngesetz, das zum 1. Januar 2015 in Kraft trat, gibt es für die Landwirtschaft einen Mindestentgelt-Tarifvertrag. Für 2021 liegt die Untergrenze bei 9,50 Euro die Stunde. Wenngleich diese in der Praxis häufig unterlaufen wird: So etwa im Mai vergangenen Jahres, als etwa 100 rumänische Saisonarbeiter auf einem Hof im rheinländischen Bornheim in einen wilden Streik traten, um die Auszahlung von vorenthaltenen Löhnen einzufordern.

Doch so stark das mediale Interesse am Leid der Erntehelfer auch war, es hielt nur einige Monate an. Bereits im Sommer wandte sich die überregionale Berichterstattung wieder anderen Themen zu. Anders die Lobbyisten der Bauernverbände. Nur so ist es zu erklären, dass die Politik trotz der skandalösen Verstöße gegen Hygiene- und Arbeitsschutzstandards nichts bis wenig unternimmt, um gesetzlich festgeschriebene Betriebskontrollen tatsächlich flächendeckend und konsequent umzusetzen. Auch viele der im Jahr 2020 eingeführten Ausnahmeregelungen wurden nicht oder nur unzureichend behoben.

Ein Beispiel ist die im Frühjahr geschaffene Möglichkeit für landwirtschaftliche Betriebe, die Sozialversicherungspflicht für Saisonarbeiter nicht wie bis dahin für 70 Tage auszusetzen, sondern für 115 Tage – in diesem Jahr dürfen es 102 Tage sein. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) wollte die Entscheidung gar als Beitrag zur Pandemiebekämpfung verstanden wissen. Anlässlich der Kabinettsentscheidung betonte sie, dass eine längere Beschäftigung der ausländischen Saisonarbeitskräfte zu weniger Personalfluktuation führe und damit die Mobilität reduziere.

»Eine ursprüngliche Ausnahmeregelung für Ferienjobs soll nun offenbar Standard für die Einstellung von Erntehelfer*innen werden«, kritisierte dagegen DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel, »Wieder einmal wird deutlich, was für Julia Klöckner Vorrang hat: eben nicht das Wohl derer, die für uns die Erntearbeit erledigen, sondern vor allem die Interessen der Agrarlobby.«

Allein die Bereitschaft vieler Süd- und Osteuropäer, sich auf dem deutschen Äckern abzurackern, scheint geringer geworden zu sein. »Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr«, klagt der Verbandsvorsitzende der ostdeutschen Spargelanbauer gegenüber der Tagesschau. Abhilfe schafft die gemeinsame Initiative der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, rund 5000 Erntehelfer aus Georgien nach Deutschland zu holen.

»Es ist immer wieder dasselbe: Die Erntebetriebe versuchen an den Lohnkosten zu sparen, wie es nur geht, um noch höhere Gewinne zu erzielen. Und der Staat hilft auch noch dabei«, kommentiert Harald Schaum, Vize-Chef der IG BAU. Er weist darauf hin, dass die Bundesregierung nach einer EU-Richtlinie die Möglichkeit habe, Agrarbetrieben vorzuschreiben, die Reisekosten für Erntehelfer zu übernehmen. Allerdings werde von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht. So müssen die Georgier die Kosten für ihre Hin- und Rückflüge selber zahlen.

Vom Après-Ski in den Maschinenraum

„Vom Après-Ski in den Maschinenraum: Die Hotspots der Corona-Pandemie verlagern sich. Fast 1.000 Fälle in Schlachthöfen, 80 in einem Paketzentrum bei Heinsberg, knapp 70 im Amazon-Versandlager bei Hamburg. Während sich die Öffentlichkeit über ihr Freizeitverhalten die Köpfe heißredet, wird langsam klar, dass ein schnell wachsender Teil der Infektionen einen direkten Bezug zu Arbeitsplatz und Wohnsituation hat.“

Jörn Boewe im Freitag 19/2020 über die „Risikogruppe Dienstleistungsproletariat“.

Billiger Spargel ist zu teuer

Billiger Spargel ist zu teuer erkauft: „Schlaglichtartig macht das Coronavirus doppelte Standards für den Gesundheitsschutz der einheimischen Bevölkerung und ausländischer Saisonarbeitskräfte sichtbar. Aber diese doppelten Standards sind kein Versäumnis – nein, sie liegen in der Logik des Systems, das einen Großteil des Wohlstands der Bundesrepublik Deutschland ausmacht.“ Kommentar von Jörn Boewe im aktuellen Freitag. #spargel #wanderarbeiter #coronavirus #erntehelfer
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-schutz-kommt-zum-schluss