Das ist das Mindeste

Der Mindestlohn korrigiert zwar die Agenda 2010. Aber ein Politikwechsel ist es nicht

Von Jörn Boewe, Der Freitag 28/2014

Wenige Projekte der Großen Koalition wurden so bejubelt und zugleich so verrissen wie der Mindestlohn, den der Bundestag kurz vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause verabschiedete. Eine „historische Entscheidung“ nannte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi den Beschluss, DGB-Chef Reiner Hoffmann sprach von einem „Meilenstein der Sozialgeschichte“. Die politische Konkurrenz sah das natürlich anders. Es sei „dreist“, so Linken-Chef Bernd Riexinger, wie sich die SPD-Führung dafür feiere, „dass sie sich vom Wirtschaftsflügel der Union über den Tisch hat ziehen lassen“.

Ein nüchterner Blick auf die Fakten zeigt: Die ab Januar geltende neue Rechtslage bringt durchaus Verbesserungen für einen relevanten Teil der abhängig Beschäftigten. 3,7 Millionen Menschen könnten ab kommendem Jahr von der beschlossenen Lohnuntergrenze profitieren, rechnet das Bundesarbeitsministerium vor. Allerdings ist das nur etwas mehr als die Hälfte jener 6,6 Millionen Menschen, die derzeit für Stundenlöhne unter 8,50 arbeiten. Für die andere Hälfte – Langzeitarbeitslose, Zeitungszusteller, Jugendliche sowie Arbeitnehmer, die noch unter Niedriglohntarifverträge fallen – gelten Ausnahmebestimmungen. Ein Mindestlohn aber, der nur für jeden Zweiten gilt, der ihn nötig hätte, kann nicht ernsthaft „allgemein und flächendeckend“ genannt werden.

Fragwürdig ist auch die Höhe von 8,50 Euro. Eine Anhebung ist frühestens für 2018 vorgesehen. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten wird der Mindestlohn also erst einmal drei Jahre lang real sinken. Und auch wenn findige Statistiker vorrechnen, dass ein Vollzeitbeschäftigter damit nicht unter das – nirgends ganz genau bezifferte – soziokulturelle Existenzminimum fällt: Von 1.000 Euro netto kann man nirgendwo in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer menschenwürdig leben. Unter Ökonomen ist die Debatte deshalb schon längst weiter. Diskutiert wird vor allem über eine angemessene Höhe des Mindestlohns. Bei 8,50 Euro jedenfalls fällt die soziale Lenkungswirkung bescheiden aus.

Wie unzureichend der beschlossene Mindestlohn ist, zeigt ein Blick auf die Altersversorgung. Um nach 45 Beitragsjahren auf eine Rente über dem staatlichen Grundsicherungsniveau zu kommen, wäre mindestens ein Stundenlohn von zehn bis zwölf Euro notwendig. Wer also bald den neuen Mindestlohn verdient, dem droht auch nach einem langen Berufsleben trotzdem noch Altersarmut. Es wird am Ende die Allgemeinheit einspringen müssen – sie subventioniert also auch in Zukunft die niedrigen Löhne, die so mancher Unternehmer seinen Angestellten heute bezahlt. Der Mindestlohn ist zu niedrig, um dieses Geschäftsmodell tatsächlich zu unterbinden.

Eine historische Großtat hat die Sozialdemokratie gemeinsam mit der Union also nicht vollbracht. Vielmehr hat sie eine verzagte Antwort auf ein selbst gemachtes Problem gegeben. Erst Agenda 2010 und Hartz-Gesetze haben den Niedriglohnsektor derart aufgebläht, dass er das Tarifgefüge des rheinischen Kapitalismus nachhaltig unterminiert und damit einen Mindestlohn notwendig gemacht hat. Großer Applaus ist also nicht angebracht. Einem pyromanischen Feuerwehrmann, der ein Haus in Brand steckt, verleiht man keinen Orden – egal wie eifrig er sich später an den Löscharbeiten beteiligen mag.