Reichtum – jetzt leichter zu knacken

Schweiz: Ist das Kommunismus oder die Rückkehr zu normalen Verhältnissen? Die Eidgenossen stimmen über eine Obergrenze für Managerbezüge ab

Von Jörn Boewe, Der Freitag, Ausgabe 47/13 vom 21. Nov.2013

Meister Rimmo holt etwas aus der Tasche, was wie eine Parkscheibe aussieht. „Hier“, sagt er, „kannst du deinen Monatslohn einstellen.“ Er dreht an der Scheibe, bis im oberen Fenster „7.000 CHF“ steht. Das sind 5.700 Euro – ein bisschen mehr als ein Werkzeugmacher bei Reishauer, einer Firma in Wallisellen bei Zürich, verdient. Unten, neben einem Bild von Brady Dougan, des Chefs der Bank Credit Suisse, erscheint die Angabe „9:35 min“. „Der hat früh noch nicht mal die Zeitung ausgelesen“, sagt Rimmo, „da hat er schon mehr kassiert als der Durchschnittsschweizer in einem ganzen Monat.“

„12 × mehr Lohn ist genug“, steht auf der roten Pappscheibe, mit der man im Handumdrehen sein Einkommen mit dem der Vorstände von Schweizer Großkonzernen wie Novartis und Nestlé vergleichen kann. Es handelt sich um die „Abzockeruhr“ der Unia, der größten Gewerkschaft des Landes – ein ziemlicher Renner unter den Werbematerialien der Volksinitiative „1:12 – Für gerechte Löhne“. Die Idee: Kein Topmanager soll in einem einzigen Monat mehr verdienen als der am schlechtesten bezahlte seiner Angestellten in einem Jahr. Am 24. November stimmen die Eidgenossen darüber ab, ob dies in die Verfassung aufgenommen wird. Initiiert haben das die Jungsozialisten, aber richtig Schwung bekam die Kampagne, als die Unia im Frühsommer einstieg.

Rimmo ist Lehrausbilder und Vertrauensmann der Gewerkschaft bei der Reishauer AG. Der mittelständische Betrieb hat, was Präzisionsmaschinen zur Produktion von Zahnrädern angeht, technologisch die Nase relativ weit vorn. Die Arbeit erfordert Verstand und Geschick und ist für Schweizer Verhältnisse gut bezahlt.
Hammer und Sichel

Die Debatten um „1:12“ werden mit der Erbitterung eines Kulturkampfes geführt. Unternehmerverbände, Mitte-Rechts-Parteien und neoliberale Professoren machen seit Wochen ein Geschrei, als werde der Kommunismus eingeführt. Auf einem Plakat der „1:12“-Gegner fährt ein Jungsozialist auf einer Dampfwalze mit roter Fahne und Hammer-und-Sichel-Symbol die Schweiz platt. In Wahrheit gehe es den Jusos „um die Abschaffung des kapitalistischen Systems“, schreibt das Blatt Finanz und Wirtschaft. Die Neue Zürcher Zeitung will gar herausgefunden haben, dass der „1:12“-Vorstoß von der „chinesischen Parteidiktatur“ inspiriert sei. Dabei wäre nur ein winziger Bruchteil der Unternehmen von der Regelung betroffen.

In 1.200 Schweizer Firmen genehmigt sich der Chef mindestens zwölfmal mehr als der am schlechtesten bezahlte Mitarbeiter, ergab eine jüngst veröffentlichte Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Dies betreffe Großbanken, Versicherungen, Handelskonzerne, Pharmariesen und Consultingagenturen. Reishauer gehört nicht dazu, genau wie mehr als 300.000 andere Unternehmen. Im Schnitt liegen höchste und niedrigste Entgelte nur um das 2,2-fache auseinander. Gerade einmal 4.400 Spitzenverdiener – in einem Land mit acht Millionen Einwohnern – müssten das Limit hinnehmen und künftig mit einem Jahreseinkommen von etwa einer halben Million Franken über die Runden kommen.
Die dunkle Seite: Prekarisierung

Nach einer Studie der Gewerkschaft Unia hat sich die Lohnschere in den 41 größten Konzernen des Landes 2012 weiter geöffnet, und zwar von 1:120 im Vorjahr auf 1:135. 1986 gab es noch ein Verhältnis von 1:6. Die vermeintlichen Revolutionäre sehen „1:12“ deshalb als Rückkehr zu Verhältnissen, wie sie noch Anfang der neunziger Jahre als normal galten. „Überrissene“ Jahresgehälter wie die von Dougan (91 Millionen Franken), UBS-Chef Andrea Orcel (26 Millionen) oder Novartis-CEO Joseph Jimenez (13,2 Millionen) sind ein relativ neues Phänomen.

Die Kehrseite sind ausfransende Arbeitsverhältnisse am unteren Rand: Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, Prekarisierung. Erst Ende Oktober legte die Unia eine Baustelle am Hauptbahnhof in Zürich für zwei Tage lahm und erzwang die Nachzahlung vorenthaltener Löhne in Höhe von 700.000 Franken. Eine Spezialbaufirma hatte 30 polnische Arbeiter als Scheinselbstständige über Monate zu Niedrigstlöhnen beschäftigt. Bei der Gewerbeaufsicht waren sie als „Tomatenbauern“ gemeldet.

Letzten Umfragen zufolge liegen Befürworter und Gegner der Initiative gleichauf. Nestlé hat seine Mitarbeiter gewarnt, eine Annahme würde der Wettbewerbsfähigkeit schaden und „unser so erfolgreiches Gesellschaftsmodell grundlegend in Frage stellen“. Großbanken streuen Gerüchte über Abwanderungspläne.
Getrieben von Neid und Missgunst?

Schweizer Einkommensmillionäre ahnen, dass die „1:12“-Initiative nur „die Spitze des Eisbergs ist“, wie Urs Birchler, Professor am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich, im wirtschaftsliberalen Blog batz.ch schreibt. „Es kommt nämlich noch einiges, etwa Mindestlohninitiative, bedingungsloses Grundeinkommen.“ In der Tat stimmen die Schweizer 2014 darüber ab, ob ein Mindestlohn von 4.000 Franken in der Verfassung verankert wird, ein weiteres Referendum könnte Steuerprivilegien für ausländische Multimillionäre abschaffen. 2015 dann könnte über ein bedingungsloses Grundeinkommen entschieden werden.

Auch dürfte den selbsternannten Leistungsträgern noch der Schreck der „Abzocker-Initiative“ des parteilosen Ständerats und Unternehmers Thomas Minder in den Knochen stecken. Zwei Drittel der Wähler hatten im März für ein Verbot von Vorauszahlungen und Abgangsentschädigungen („goldener Fallschirm“) für Manager börsennotierter Aktiengesellschaften votiert.

Sind die Schweizer „getrieben von Neid und Missgunst“, wie alarmierte konservative Nachwuchspolitiker jüngst behaupteten? Rimmo lacht. Er arbeitet schon sein halbes Leben lang in einem Industriebetrieb, der die Welt seit 1788 mit Präzisionswerkzeugen beliefert. Dieser Mann ist nicht neidisch – er ist zu beneiden. „Uns geht es gut“, sagt er, „und ich bin dankbar dafür. Aber wir müssen aufpassen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.“ Diese Haltung beunruhigt die Gegner der „1:12-Begehrens“.