Schluss mit der pauschalen 30-Stunden-Woche – die ver.di-Tarifpolitik macht einen neuen Aufschlag: zwei Wochen Verfügungszeit für alle, die jeder nach Belieben zeitsouverän nutzen kann. Wie soll das gehen? Ein Gespräch mit Jörg Wiedemuth
Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 06/2015
Zur Person: Jörg Wiedemuth leitet die Tarifpolitische Grundsatzabteilung beim ver.di-Bundesvorstand. Er hat mit seiner Kollegin Sylvia Skrabs ein Konzept erarbeitet, das die arbeitszeitpolitische Debatte – auch im Hinblick auf den ver.di-Bundeskongress Ende September – neu akzentuieren soll.
In der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wird seit Jahren erstmals wieder über Arbeitszeit diskutiert. Die Tarifpolitische Grundsatzabteilung hat jetzt ein Konzept für eine zukünftige ver.di-Arbeitszeitpolitik vorgelegt. Ihr plädiert darin für eine „kurze Vollzeit für alle“. Was verbirgt sich dahinter?
Eigentlich ist es ganz einfach: Aus Umfragen wissen wir, dass sehr viele Vollzeitbeschäftigte ihre Stunden reduzieren wollen. Allerdings können sie nicht genau beziffern, um wie viel genau sie weniger arbeiten wollen. Mit der Forderung „Kurze Vollzeit für alle“ wollen wir ein Leitbild entwerfen. Es soll eine Orientierung geben – sowohl für diejenigen, die länger arbeiten, als sie es wünschen, aber auch für die Teilzeitbeschäftigten, die gerne länger arbeiten wollen, es aber nicht können.
Das Konzept sieht eine sogenannte Verfügungszeit von freien 14 Tagen pro Jahr vor, auf die jeder und jede Beschäftigte Anspruch haben soll. Was ist das?
Sowohl Vollzeit- als auch Teilzeitbeschäftigte sollen über 14 Tage pro Jahr mit Entgeltanspruch nach ihren Bedürfnissen verfügen dürfen – sei es, um sich weiterzubilden, sei es, um Familienangehörige zu pflegen, oder sei es, um sich zu regenerieren und einfach mehr freie Zeit zu haben. Uns schweben dabei zwei Varianten vor: erstens die optionale Zeitverteilung. Das heißt, der einzelne Beschäftigte kann sagen, wie er seine Tage nutzen möchte. Die andere Möglichkeit wäre, tariflich oder auf Betriebsebene bestimmte Wahlmöglichkeiten festzuschreiben. Damit unterstützen wir die individuelle Zeitsouveränität der Beschäftigten.
Im September steht der ver.di-Bundeskongress an. Wird es danach eine groß angelegte Kampagne geben, um die Ideen in die Betriebe zu tragen?
Kampagne ist vielleicht ein zu großes Wort. In ver.di gibt es derzeit keine breit geführte arbeitszeitpolitische Debatte. Wir wollen Arbeitszeitverkürzung wieder stärker zum Thema machen mit einem offenen Konzept, das die Fachbereiche nach ihren Bedürfnissen anpassen können. Der ver.di-Bundesvorstand hat unser Konzept übrigens in mehreren Sitzungen diskutiert. Durchaus wohlwollend.
Ihr habt euch gegen eine pauschale Verkürzung der Wochenarbeitszeit entschieden. Warum?
Die Debatte um die 30-Stunden-Woche ist in unserer Gewerkschaft ideologisch sehr aufgeladen. Wir wollten aus dieser Frontstellung raus. Es hilft uns ja nicht, zum tausendsten Mal die Reduzierung der Arbeitszeit auf 30 Stunden mit vollem Lohn- und Personalausgleich zu fordern, wenn das für den öffentlichen Dienst oder das Bewachungsgewerbe nicht realistisch ist. Das ist ein allgemeines Glaubensbekenntnis geworden, aus dem aber nichts Konkretes folgt. Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor.
Wäre die Forderung nach 14 freien Tagen mehr im Jahr überhaupt für alle attraktiv?
Ja, denn das ist etwas Konkretes, das dennoch auf alle passt. ver.di hat eine sehr heterogene Mitgliedschaft. In den Supermärkten und Discountern etwa liegt die Teilzeitquote weit über 50 Prozent. Viele Leute würden gern länger arbeiten und mehr verdienen. Die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 oder 32 Stunden pro Woche wird sie kaum ansprechen. Für die sehr heterogene Arbeitszeitlandschaft in den ver.di-Branchen scheint uns daher ein gemeinsames Arbeitszeitverkürzungsvolumen gut geeignet.
Aber wenn Teilzeitbeschäftigte verkürzen – etwa um zwei Stunden pro Woche –, würden sie dann doch noch weniger arbeiten …
Nein. Unser Konzept sieht vor, sie vorher mit ihrem Zeitkontingent nach oben zu setzen. 14 Tage entsprechen im Jahr zwei Stunden Arbeitszeit pro Woche. Das heißt, jeder Teilzeitbeschäftigte bekommt tarifvertraglich eine um zwei Stunden längere Wochenarbeitszeit zugesichert, hat aber den gleichen Anspruch auf Freistellung wie die Normalbeschäftigten auch. Die individuelle Jahresarbeitszeit bleibt damit praktisch gleich, doch der Lohn erhöht sich um den Betrag von zwei Wochenarbeitsstunden. Das gilt auch für alle weiteren tariflichen Ansprüche, die an die Arbeitszeit geknüpft sind, wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld.
Frei verfügbare Zeit von 14 Tagen im Jahr entspricht rund fünf Prozent Lohnplus. Wie soll das tarifpolitisch umgesetzt werden? Die Arbeitgeber können doch auch rechnen. Muss man da nicht realistisch sagen: Zeitwohlstand wird mit Verzicht auf Lohnzuwächse erkauft?
Gerade das wollen wir vermeiden. Beschäftigte, die beispielsweise ihre Arbeit und ihre persönliche Lebensführung mit weniger Stress in Balance bringen können, die gesünder arbeiten oder die ab und zu mal einen zusätzlichen freien Tag genießen können, arbeiten konzentrierter, zufriedener und auch produktiver. Davon profitieren auch die Unternehmen. Alles andere ist Verhandlungssache.
Nach den Arbeitszeitverkürzungen der 80er Jahre haben viele Beschäftigte über zunehmende Arbeitsverdichtung geklagt. Die Beschäftigten mussten vielfach die gleiche Arbeit oder auch mehr in weniger Zeit schaffen. Wie wollt ihr mit dem Problem umgehen?
Wir haben einen sogenannten internen Entzerrungsfaktor in unser Konzept aufgenommen. Das wöchentliche Arbeitsvolumen der Teilzeitbeschäftigten erhöht sich in dem Maße, wie sich das der Vollzeitbeschäftigten verringert. Was darüber hinaus frei wird, könnte man natürlich durch die Übernahme von mehr Azubis oder den Abbau von Werkverträgen oder Leiharbeit zugunsten fester Stellen kompensieren. Aber es ist klar: Die Forderung nach vollem Personalausgleich durchzusetzen ist eine schwierige Sache, da müssen wir uns nichts vormachen. Mit dem Entzerrungsfaktor wollen wir zumindest ein wenig Druck rausnehmen.
ver.di führt derzeit einige Abwehrschlachten. Warum, meint ihr, soll sich die Organisation mit einem so kontroversen Thema noch einen weiteren Klotz ans Bein binden?
Weil es arbeits- und gesellschaftspolitische Herausforderungen gibt, an denen wir als Gewerkschaft nicht vorbeikommen. Dazu gehören die ständige Verdichtung der Arbeit – auch durch die Digitalisierung – mit ihren Folgen wie Burn-out und gesundheitlichem Verschleiß. Dieser Trend wird durch die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verschärft. Wir sehen zudem, wie sich in der jüngeren Generation das Leitbild Arbeit verändert. Viele wollen mehr Zeit für sich und ihre Familien und für ihre Kinder. Deshalb heißt unsere Botschaft auch: „Mehr Zeit für mich!“
Und für Familie und Freunde?
Ja. Die gesellschaftliche Debatte ist weit offener als noch vor zehn Jahren. Themen wie Familienzeit, die Frage der Weiterbildung oder die Pflege von Angehörigen werden intensiv diskutiert. Die gesellschaftliche Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen verändert sich. Der Moment ist günstig, dass auch Gewerkschaften hier einen Vorstoß machen.
Die IG Metall hat in der jüngsten Tarifrunde sogenannte anlassbezogene Formen der Arbeitszeitverkürzung gefordert. Es ging um Altersteilzeit und Bildungsteilzeit. Wo sind die Unterschiede zu ver.di?
Auch wir haben lange über anlassbezogene Modelle der Arbeitszeitverkürzung nachgedacht. Doch das macht für uns als Multibranchengewerkschaft mit einer viel heterogeneren Mitgliedschaft keinen Sinn, weil die Vorteile dann nur bestimmte Gruppen bekämen. Beschäftigte im Verkehrsgewerbe können mit einer Weiterbildungsteilzeit wenig anfangen – sie haben jedoch ein starkes Interesse an weniger gesundheitsschädlicher Arbeitszeit und an einem Belastungsausgleich. Wir brauchen ein Konzept, das tragfähig ist für eine übergreifende Mobilisierung in ver.di. Denn ohne die sind Arbeitszeitverkürzungen wohl kaum durchsetzbar.
Wenn die beiden größten Gewerkschaften Deutschlands bei diesem Thema stärker zusammenarbeiten, gäbe es doch ein enormes Druckpotenzial. Glaubst du, das wäre möglich?
Das würden wir uns wünschen, denn wir haben bei der Verkürzung der Arbeitszeit im Prinzip gleiche Ziele. Eine Debatte, die von beiden großen Gewerkschaften wieder geführt würde, hätte dann auch Ausstrahlungswirkung auf den DGB, und man könnte daraus eine gesellschaftspolitische Kampagne machen. Aber das wäre Zukunftsmusik.