Der Neoliberalismus ist nicht tot, sagt der Kulturkritiker Wolfgang M. Schmitt – und er passe sehr gut zum neuen Rüstungspatriotismus. Ein Gespräch über Krieg, Klima, Corona – und die Frage, was Anlass zu Optimismus gibt
Durch seinen erfolgreichen Youtube-Kanal Die Filmanalyse hat er sich seit 2011 einen Ruf als scharfer Kritiker der kapitalistischen Kulturindustrie erarbeitet: Wolfgang M. Schmitt hat dieser zusammen mit Ole Nymoen auch etwas entgegengesetzt – etwa jüngst die kindgerechte Kapitalismus-Erklärung Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut. Veröffentlicht, in gemeinsamer Hausgeberschaft mit der Autorin Ann-Kristin Tlusty, hat Schmitt zuletzt aber auch das Buch „Selbst schuld!“, zu dem unter anderem Christian Baron, Dietmar Dath und Özge İnan Texte beigetragen haben.
der Freitag: Herr Schmitt, Sie haben gemeinsam mit Ann-Kristin Tlusty das Buch „Selbst schuld“! herausgegeben, eine Anthologie, in der Sie und andere sich mit einem Kernelement neoliberaler Ideologie auseinandersetzen – der Idee, dass „jeder seines Glückes Schmied“ ist. Sind Sie mit Ihrer Kritik nicht ein bisschen spät dran? Der Neoliberalismus hatte in Deutschland seine große Zeit doch in den 1990er und Nullerjahren. Prügeln Sie da nicht einen toten Esel?
Wolfgang M. Schmitt: Nein! Es ist sogar noch schlimmer geworden. Der Neoliberalismus der 80er/90er-Jahre war darauf aus, dass sich das Individuum an den Märkten beweisen muss. Heute wird das Individuum zusätzlich auch noch als Subjekt des Staates aufgerufen, wodurch wir solche Debatten haben wie eine Rückkehr der Wehrpflicht. Ist das nicht eine großartige Chance, mit der sich junge Menschen in das einbringen können, was man dann Demokratie nennt? Wir erleben also eine doppelte Geiselnahme: durch den Markt, auf dem sich das Subjekt eigenverantwortlich bewähren soll, und zugleich werden wir auch noch aufgerufen, dass man selbst dafür verantwortlich ist, dass die Demokratie bleibt, dass irgendwelche geopolitischen Ziele erreicht werden, die ja gar nicht unbedingt unsere Ziele sein müssen. Was wir derzeit erleben, ist eine unheilsame Mischung aus dem alten Neoliberalismus und einem neuen Staatspatriotismus, und das ist tatsächlich eine große Gefahr.
Aber ist das noch neoliberal, wenn der Staat mal schnell 100 Milliarden Euro aufnimmt, um die Bundeswehr zu modernisieren?
Die große Aufrüstung, die gerade stattfindet, widerspricht dem neoliberalen Paradigma überhaupt nicht. Die Märkte brauchen immer staatliche Absicherung, und das funktioniert über das Militär. Ronald Reagan hat in den 1980er Jahren den Sozialstaat kurz und klein geschlagen, angeblich, um die Staatsschulden abzubauen. Tatsächlich hat er sie aber durch die Hochrüstung immens erhöht. Der „schlanke Staat“ des Neoliberalismus meint einen schlanken Sozialstaat, aber Abrüstung ist damit nicht gemeint.
Interessant, dass die Führungsspitze von Fridays For Future keine Kritik an der Aufrüstung formuliert, wo doch klimaneutrale Kriege nicht zu erwarten sind
Und statt Reagans Erzählung vom „Reich des Bösen“ haben wir heute die „Zeitenwende“? Ist das der neue ideologische Klebstoff?
Da kommen skurrile Allianzen zustande, etwa von Keynesianern wie Ulrike Herrmann, die für die Aufrüstung sind, und neoliberalen Akteuren wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die auch für die Aufrüstung sind. Es ist auch interessant, dass zum Beispiel von der Führungsspitze von Fridays For Future überhaupt keine Kritik an der Aufrüstung formuliert wurde, wo doch eigentlich klimaneutrale Kriege nicht zu erwarten sind und man das Geld bestimmt dringender für die sozial-ökologische Transformation bräuchte.
In der Klimadebatte gibt es ja auch diese merkwürdige Obsession mit der Eigenverantwortung: Wir sind zu viel Auto gefahren, wir haben das Falsche gegessen und jetzt haben wir #Flugscham …
Ein Paradebeispiel für diese Eigenverantwortungsideologie, die verschleiern soll, wo eigentlich das Problem liegt. Die Ölindustrie in den USA hat den „ökologischen Fußabdruck“ erfunden, der die Verantwortung auf das Individuum schiebt. Du sollst beim Einkaufen entscheiden, was du fürs Klima tun willst, und du sollst dabei stets auch ein schlechtes Gewissen haben. Dabei wird verschleiert, dass der einzelne Konsument tatsächlich sehr wenig Macht hat. Klar, weniger Fleisch zu essen ist besser fürs Klima, fürs Tierwohl und die Gesundheit. Aber eine vegane Ernährung ändert politisch noch gar nichts, solange wir sie nicht mit dem Kampf gegen Massentierhaltung verbinden.
Lösungen sind kollektiv, nicht individuell – meinen Sie das?
Klimagerechte Transformation geht nur mit immensen Staatsinvestitionen in erneuerbare Energien und öffentliche Verkehrsträger. Deutschland und der Westen allgemein hatten das Ende der 90er Jahre in der Hand und haben es versäumt. Stattdessen hat man sich eher mit dem Individuum beschäftigt und gefragt: Wer trennt seinen Müll und wer wäscht am besten noch den Joghurtbecher aus, bevor er ihn wegwirft? Dadurch hat man die großen, dringend notwendigen Transformationsprozesse total verschlafen.
Wir wollen unsere Autonomie behaupten, verlassen uns aber auf Netflix und Google Maps – aus diesem Widerspruch kommen wir nicht raus
Und jetzt sehen wir, wie China den Westen dabei überholt?
Ja, innerhalb von sehr kurzer Zeit werden dort die Kapazitäten für Wind- und Solarenergie hochgefahren. Das sind große politische Entscheidungen. Und wir erleben eine Kränkung des westlichen Subjekts, weil wir, was immer wir jetzt bereit sind zu tun, es global einfach nicht mehr in der Hand haben. Andere wirtschaftliche Akteure sind auf den Märkten erschienen, vor allem Indien, China, aber auch Brasilien und Südafrika. Selbst wenn der Westen jetzt Riesensprünge machen würde bei der Transformation, werden es doch im globalen Maßstab nur noch kleine Schritte sein. Wir können nicht mehr das große Rad drehen, und das ist für viele schwer zu ertragen.
Wie verändert diese Verschiebung auf Weltebene unser Alltagsleben?
Es verwirrt uns. Einerseits wollen wir die Dinge wieder in der Hand haben, die Kontrolle zurückerlangen. Andererseits sind wir permanent überfordert. Und so sind wir gern bereit, Verantwortung abzugeben, nicht unbedingt an die Regierung, aber an die künstliche Intelligenz. Wir verlassen uns darauf, dass Netflix schon weiß, welche Serien und Filme uns gefallen werden, dass Google Maps schon das richtige Restaurant für uns aussucht. Wir empfinden das als Entlastung. Zugleich wollen wir aber auch immer wieder unsere Autonomie behaupten. Aus diesem Widerspruch kommen wir nicht heraus.
Und was hat das mit Geopolitik zu tun?
Wir sehen, dass andere Regierungskonzepte offenbar auch funktionieren, ob sie uns nun gefallen oder nicht, sei mal dahingestellt. Das sickert so langsam in unsere Köpfe ein und bringt alte Gewissheiten ins Wanken.
Das Problem ist, dass viele Journalisten sich in-eins-setzen mit den Regierungen. Sie glauben, sie müssten der Bevölkerung das Regierungshandeln erklären
Sie schreiben in Ihrem Beitrag in dem Buch über den blinden Fleck in der Selbstwahrnehmung von Journalisten. Journalisten sehen sich nicht als Ideologieproduzenten, sondern als unabhängige „vierte Gewalt“. Sie sind informiert, cool, distanziert, kritisch und haben einen fast objektiven Blick auf die Dinge. Am anderen Ende der Wahrnehmungsskala toben die Wutbürger und skandieren „Lügenpresse“. Beides extreme Klischees, und die Realität liegt irgendwo dazwischen, aber wo?
Das Problem ist, dass viele Journalisten sich in-eins-setzen mit den Regierungen. Sie glauben, sie müssten der Bevölkerung das Regierungshandeln erklären, im Sinne von: verständlich machen, dass es nicht anders sein kann. Politiker bedanken sich dann ihrerseits auf der Bundespressekonferenz bei den Journalisten für die gute Zusammenarbeit. Zugleich nehmen sich diese Journalisten mitunter selbst aus der Rechnung, wenn sie von „wir“ sprechen: Wir müssen mehr leisten, wir müssen länger arbeiten, wir brauchen noch mal einen Lockdown usw. Wie kommt das? Weil sie über den Dingen schweben und sich zur Regierung zählen.
Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Ich bringe im Essay Beispiele dafür aus der Coronaphase. Nebenbei: ich bin dreimal geimpft und war ziemlich vorsichtig. Ich habe damals erlebt, wie prominente Journalisten und öffentliche Intellektuelle zwar öffentlich für neue Lockdowns nach der zweiten und dritten Impfung plädierten, zugleich aber munter mit dem Virus lebten. So saß ich beispielsweise nach einer Veranstaltung einer berühmten Journalistin und den Organisatoren in einem brechend vollen Restaurant, in dem auch noch ein für seine Coronapolitik gelobter Ministerpräsident zu Gast war. Man saß dort eng beieinander, mit 30 Leuten und dinierte. Zwei Tage später erzählte dieselbe Journalistin im Fernsehen: Wir brauchen neue Maßnahmen. So etwas erlebte ich mehr als einmal. Plötzlich wurde mir klar, dass diese Journalisten sich einfach selbst aus ihrer Rechnung rausnehmen. Was sie meinen, ist: Die anderen brauchen einen Lockdown. Jetzt müssen wir kriegstüchtig werden, heißt es. „Wir“ meint aber in Wahrheit: die anderen.
Karl-Heinz Roth hat im „Freitag“ einmal gesagt, seit Corona sei die „educated society“ näher an die politischen Entscheidungszentren herangerückt. Sehen Sie das auch so?
Die meisten Künstler und Intellektuelle kennen so etwas wie Konsensstörung gar nicht mehr. Das Milieu ist heute ungeheuer angepasst. Da wird keine Kritik mehr geäußert, außer, dass die AfD eine große Gefahr für die Demokratie ist. Echte Kritik an der Regierung findet nicht mehr statt. Es ist doch erstaunlich, dass wir aus Hollywood mehr Kritik erleben als von irgendwelchen Theaterfestivals. Es stimmt, dass Hollywood Ideologie produziert. Zugleich aber sind dort im Zuge der Finanzkrise großartige kapitalismuskritische Filme wie Margin Call oder The Big Short entstanden oder Christopher Nolans Oppenheimer der große Film gegen Aufrüstung und atomare Eskalation. So etwas wird man auf deutschen Theaterbühnen vergeblich suchen, weil man hierzulande Preise dafür bekommt, dass man mehr Aufrüstung fordert. Die deutsche Kulturszene könnte bis auf wenige Ausnahmen auch gleich ins Schloss Bellevue einziehen. Die meisten Intellektuellen in Deutschland schreiben und sprechen in der Hoffnung, von Frank-Walter Steinmeier einen Orden verliehen zu bekommen.
Wer aber vorrangig in Kategorien wie Gut und Böse denkt, kann weder geopolitische Zusammenhänge ergründen, noch Kunst bewerten
Wie erklären Sie sich das?
Erstens ist die AfD eine tatsächliche Gefahr für Deutschland. Wenn man aber darüber vergisst, dass auch andere Politiker ein großes Problem sind in Bezug auf Ungleichheit, Meinungsfreiheit, Hetze gegen Migranten, Abbau demokratischer Rechte, dann wird die Kritik an der AfD zugleich eine Stabilisierung der herrschenden Ordnung. Und dann gibt es noch ein Problem, das jemand wie Christopher Nolan nicht hat: das Ökonomische. Die Töpfe für Kunst und Kultur sind relativ leer, und sie drohen noch leerer zu werden. Preisgelder, Kulturförderung, das trägt stark zu diesem Konformismus bei.
Verdrängt Moralisierung heute analytisches Denken?
Ehe eine Analyse stattfindet, soll man sich gleich moralisch dazu verhalten. Dazu kommt, dass wir eine allgemeine Politisierung von allem erleben. Was wir essen, ist politisch. Was wir trinken, ist politisch. Ob man Sojamilch in den Kaffee schüttet oder Kuhmilch, ist schon fast ausschlaggebend dafür, was man wählen wird. Und weil das Individuum selbst angesprochen wird, verhält es sich im Prinzip gut oder böse. Wer aber vorrangig in Kategorien wie Gut und Böse denkt, kann weder geopolitische Zusammenhänge ergründen, noch Kunst bewerten, denn dort sind andere Faktoren wichtig.
Diese Hypermoralisierung ist natürlich eine Steilvorlage für die extreme Rechte, die auf allen Kanälen erfolgreich dagegen schießt. Sehen Sie aktuell auch fortschrittliche Gegenströmungen?
Ja, ich glaube, das eindeutigste Zeichen für eine Veränderung ist, dass junge Leute sich heute viel mehr für Ökonomie interessieren. Sobald man sich für Ökonomie interessiert, muss man die eigenen Gefühle einmal hintanstellen und beschäftigt sich mit Zahlen. Dass die Modern Monetary Theory bei Unter-30-Jährigen relativ bekannt ist, dass Ökonomen wie Adam Tooze oder Isabella Weber bei jungen Linken fast einen Starfaktor haben, zeigt ganz klar, dass sie nicht mehr nur über ihre Gefühle reden wollen. Sie wollen die materielle Grundlage verbessern. Und da geht es dann nicht darum, wie ich mich heute fühle, sondern man fragt: Was bekomme ich eigentlich vom BIP? Dadurch verändert sich der Diskurs maßgeblich.
Wolfgang M. Schmitt ist Kulturkritiker, Podcaster und Medienanalyst. Durch seinen erfolgreichen Youtube-Kanal Die Filmanalyse hat er sich einen Ruf als scharfer Kritiker der kapitalistischen Kulturindustrie und neoliberalen Ideologie erarbeitet. Mit Ole Nymoen publiziert er den Wirtschaftspodcast Wohlstand für alle. Beide haben jüngst die kindgerechte Kapitalismus-Erklärung Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut herausgegeben und zuvor das Buch Influencer. Die Ideologie der Werbekörper publiziert. Gemeinsam mit Ann-Kristin Tlusty hat Wolfgang M. Schmitt die bei Hanser erschienene Anthologie „Selbst schuld!“ herausgegeben, in der sich verschiedene Autorinnen und Autoren mit dem neoliberalen Dogma der Eigenverantwortung auseinandersetzen.
Selbst schuld! Wolfgang M. Schmitt, Ann-Kristin Tlusty (Hrsg.) Hanser 2024, 256 Seiten, 22 €