Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) setzt auf die Solidarität von Seeleuten und Hafenarbeitern. In Zeiten der Globalisierung inspirieren ihre Erfahrungen auch Gewerkschafter und Beschäftigte in anderen Branchen
Von Jörn Boewe, ver.di publik 07/2014
Ein Stapel Dokumente liegt auf dem Tisch der Mannschaftsmesse des philippinischen Schüttgutfrachters „Mangan Trader III“: ein Tarifvertrag, Heuerabrechnungen, Überstundennachweise. Mit kritischem Blick prüfen Hamani Amadou und Stefan Kließ die Papiere. Der Kapitän ist freundlich, aber etwas nervös. Amadou ist Inspektor der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) in Rostock, Kließ ist Hafenarbeiter in Lübeck. In dieser Woche Anfang September hat sich Kließ, wie viele seiner Kollegen aus Ostseehäfen in Deutschland, Russland, den baltischen und skandinavischen Staaten, ein paar Tage frei genommen. Nicht um Urlaub zu machen, sondern um die „Baltic Week of Action“ zu unterstützen.
Jedes Jahr im Herbst veranstaltet die Internationale Transportarbeiter-Föderation ihre Ostsee-Aktionswoche: Schiffe werden von ITF-Inspektoren und Freiwilligenteams kontrolliert. Vor allem Schiffe aus Billigflaggenstaaten, deren Reeder sie in Staaten wie Panama, Liberia, Äquatorialguinea oder Malta registrieren lassen, um Heuer und Steuer zu sparen. „Dockers organize seafarers – seafarers organize dockers“ (Hafenarbeiter organisieren Seeleute – Seeleute organisieren Hafenarbeiter), steht auf den gelben Warnwesten der ITFler. Es geht ihnen um die Einhaltung von sozialen Mindeststandards an Bord. Wer sich weigert, mit der ITF zu verhandeln, bekommt Probleme. „Wenn wir das Schiff nicht entladen“, sagt Hafenarbeiter Kließ, „dann wird das richtig teuer“. Bei der Aktionswoche im Herbst 2013 konnten allein in Lübeck und Rostock Heuernachzahlungen um die 40.000 Euro erzwungen werden.
Der Hafenarbeiter-Boykott ist die schärfste Waffe der ITF. Als 1896 in Rotterdam die Hafenarbeiter die Arbeit niederlegten, forderten englische Reeder ihre Schiffsbesatzungen auf, die Ladung selbst zu löschen. Die weigerten sich, ihren streikenden Kollegen an Land in den Rücken zu fallen. Das war die Geburtsstunde der Internationale der Transportarbeiter.
Die strategische Position
Doch längst ist nicht nur die Seefahrt, sondern das gesamte Transportwesen globalisiert, hochgradig und vielfältig organisiert. Einerseits erlaubt das multinational agierenden Unternehmen, Aktivitäten schneller in Niedriglohnländer zu verlagern. Andererseits sind Lieferketten, Dienstleistungen, Produktionsprozesse und Handel heute termingerecht und genau aufeinander abgestimmt, was sie empfindlicher macht. Für Gewerkschaften ist das eine zwiespältige Entwicklung. „Das Entscheidende am Hafen ist nicht, dass er am Wasser liegt“, sagt Gewerkschaftssekretär Klaus Schroeter, der das Vertragsbüro der ITF in Berlin leitet und der ver.di-Fachgruppe Schifffahrt vorsteht. „Das Entscheidende ist: Der Hafen ist ein neuralgischer Punkt in der Lieferkette.“ Und er ist ein Punkt, an dem die Starken mit den Schwachen wirksame Solidarität aufbauen können.
Wie man die Sache systematisch angehen kann, war das große Thema auf dem Weltkongress der ITF im August dieses Jahres in Sofia. „Im Weltwirtschaftsgefüge, in dem Waren und Verbrauchsgüter innerhalb und zwischen globalen Unternehmen über globale Lieferketten befördert werden, besetzen Verkehrsbeschäftigte eine strategische Position“, heißt es in einem von den Delegierten beschlossenen Leitantrag. „Koordination auf internationaler Ebene kann die Voraussetzungen dafür schaffen, an wichtigen Hebelpunkten entlang strategischer globaler Lieferketten Gewerkschaftsaktionen durchzuführen.“
Beispiel Amazon
Ein Konflikt, bei dem gewerkschaftlich Aktive aus verschiedenen Ländern, Branchen und Organisationen versuchen, genau so eine Koordination hinzubekommen, ist der Arbeitskampf beim Versandhändler Amazon. Der weigert sich seit eineinhalb Jahren, über einen Tarifvertrag zu verhandeln, weshalb insgesamt mehr als 2000 Beschäftigte in den Versandzentren Leipzig, Bad Hersfeld, im bayerischen Graben und in Rheinberg im Ruhrgebiet mehrfach gestreikt haben. Ermutigt von den Aktionen ihrer deutschen Kolleginnen und Kollegen legten daraufhin auch Beschäftigte am französischen Standort Chalon-sur-Saône die Arbeit nieder. Ein solches Signal an den Konzern sei auch nötig gewesen, sagt ver.di-Sekretär Stefan Najda: „Wir haben festgestellt, dass Amazon, immer wenn in Deutschland gestreikt wurde, Auftragsvolumen nach Frankreich verschoben hat.“ Umso wichtiger sei „der direkte, horizontale Austausch von Informationen und Erfahrungen“, so der Gewerkschafter.
Anfang Juli hatten sich in Berlin erstmals Kolleg/innen aus deutschen, französischen, tschechischen, polnischen, britischen und amerikanischen Amazon-Standorten in Berlin getroffen, um gemeinsam zu beraten, wie der Kampf grenzübergreifend koordiniert werden kann. Eingeladen hatten die ITF und die für den Handel zuständige UNI Global Union. In beiden Dachverbänden ist ver.di Mitglied. Dieser Tage, Anfang November, findet in Fulda das zweite Treffen statt.
Erfolge und Baustellen
Wie Erfolge aussehen können, wenn organisierte Belegschaften beherzt an den „wichtigen Hebelpunkten“ anpacken, von denen die ITF spricht, konnte man Anfang Oktober in Leipzig studieren. Mit einem befristeten Warnstreik setzte ver.di beim DHL-Drehkreuz am Flughafen Leipzig-Schkeuditz eine Lohnerhöhung von 9,2 Prozent über die nächsten zwei Jahre durch. Leipzig ist einer von nur drei globalen Drehkreuzen, über die der Konzern sein Luftfrachtaufkommen weltweit abwickelt.
Für Torben Seebold, der für die ITF in Deutschland als maritimer Koordinator tätig ist, geht es um drei Dinge: „Internationale Vernetzung der Aktiven, strategische Recherche und eine prozessorientierte Herangehensweise, die sich nicht an die klassischen Teilbranchen und Berufsgruppen klammert, sondern die Knotenpunkte und Lieferketten im Auge hat.“ Baustellen gibt es genug. Etwa die Arbeitsbedingungen in der Flusskreuzschifffahrt. Ein Branchentarifvertrag wäre nötig, ist aber Zukunftsmusik. Er wird nur zu erreichen sein, wenn es gelingt, Kampagnen zu entwickeln, die Mannschaften, Passagiere und Schleusenpersonal einbeziehen.
Die Notwendigkeit branchenübergreifender Aktionen an den Schnittstellen von Handel, Logistik, Verkehr und Industrie zu verstehen, ist nicht schwer. Dennoch stellt sie die Gewerkschaften vor enorme praktische Herausforderungen. Handel, Verkehr und Logistik sind bei ver.di allein drei verschiedenen Fachbereichen zugeordnet. Austausch und Zusammenarbeit werden deshalb auch innerhalb der Organisation immer dringlicher, sagt Katharina Wesenick. Die Gewerkschaftssekretärin war in den Organizing-Kampagnen bei Edeka und Netto aktiv und koordinierte zuletzt die Arbeitskämpfe bei Amazon. Künftig wird sie sich um die Bodendienste an den Flughäfen kümmern. Im Zuge der Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte sind die Bodendienste zu einem Vorreiter in Punkto prekärer Arbeitsverhältnisse geworden. Im November fährt Wesenick ins nordenglische Hull, wo die britische ver.di-Schwestergewerkschaft UNITE, ITF und der Dachverband IndustriALL, dem auch die IG Metall angehört, ein Seminar veranstalten. Ziel ist es, gemeinsame Strategien rund um die Hebelpunkte in Logistikketten zu entwickeln, um bessere Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten durchzusetzen.
Eine große Familie
Zurück an der Ostsee. In Wolgast, einem kleinen Hafen, nicht weit der polnischen Grenze, geht der Rostocker ITF-Inspektor Hamani Amadou an Bord eines Küstenmotorschiffes. Das Schiff gehört einer ostfriesischen Reederei. Der Kapitän ist Litauer, der Chief Mate Ukrainer, der Ingenieur Russe und die vier Decksleute Philippinos. Alle sind sie angestellt bei einer Crew-Agentur mit Sitz in Hongkong. Unter der Flagge von Antigua und Barbuda pendelt das Küstenmotorschiff zwischen Riga und Wismar, Klaipeda und Helsingør Havn. Seinen Heimathafen St. John’s hat es noch nie gesehen. „Das ist die Globalisierung“, sagt Hamani und lacht. „Aber“, sagt er zur Mannschaft: „We are one big familiy – dockers, seafarers, workers, worldwide“. Die philippinischen Seeleute und deutsche Hafenarbeiter verstehen sein einfaches und verständliches Englisch. Ja, sie sind eine große Familie. Wenn sie zusammenhalten, kann ihnen keiner was.