Die letzte Meile

Ausgelagert: Amazon reorganisiert seine Logistik. Arbeitsrecht und Würde spielen dabei keine Rolle.

Von Jörn Boewe, Der Freitag 39/2021, 30. Sept. 2021

„Maschine, ich bin eine Maschine“, sagt der Fahrer des weißen Lieferwagens. „Zwölf Stunden, jeden Tag, seit vier Jahren. Aber wenn ich nicht arbeite, kriege ich kein Geld.“ Der Mann stellt Pakete für Amazon zu, die globale Nummer eins des Onlinehandels. Jeden Morgen wartet er mit seinem Lieferwagen in der Schlange vor dem Verteilzentrum Frankfurt am Main.An diesem Spätsommermorgen, Anfang September 2021, ist aber etwas anders: Eine kleine Gruppe von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen verteilt Flyer in verschiedenen Sprachen an die Fahrer. Schnell kommt man ins Gespräch. Die Geschichten ähneln sich: Fahrer berichten von Zehn- oder Zwölf-Stunden-Schichten, von Arbeitsdruck, von Tagestouren mit 250 Zustellungen. Am Monatsende, oft auch verspätet, erhalten sie 1.000 bis 1.200 Euro. Manchmal gibt es Abzüge, etwa für einen abgefahrenen Spiegel oder Kratzer am Fahrzeug.Schaut man genauer hin, verstößt vieles davon gegen deutsches Arbeitsrecht. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Die Fahrer kennen ihre Rechte oft nicht. Viele kommen aus Osteuropa, einige aus dem Nahen Osten. Sie sind auf den Job angewiesen. Der Mut, sich mit ihrem Arbeitgeber anzulegen, ist nicht groß.

Die Aktion in Frankfurt haben die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und das DGB-Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ organisiert. Hundert Leute in kleinen Teams verteilen Informationsmaterial an mehr als 8.000 Fahrerinnen und Fahrer, die in der Paketzustellung auf der „letzten Meile“ oder im Lkw-Transport für Amazon unterwegs sind. Angestellt bei Amazon ist allerdings niemand von ihnen. Der Konzern hat sein unternehmerisches Risiko für die Zustellung von Anfang an in ein Netzwerk kleiner Subunternehmer ausgelagert, die untereinander konkurrieren und den Druck an ihre Beschäftigten weitergeben.

Ein eigener Flughafen in Halle

Amazon betreibt in Deutschland 14 große Versandlager zwischen Hamburg und München. In einem Großteil davon wird seit Jahren immer wieder gestreikt. Doch neben dem Versandhandel erschließt der Konzern auch weitere strategische Felder:e Eines davon ist die Logistik. Amazon ist ins Containerschifffahrtsgeschäft eingestiegen und betreibt eine eigene Frachtfluggesellschaft, mittlerweile die viertgrößte der Welt. Im Herbst vergangenen Jahres eröffnete der Konzern sein eigenes Luftfrachtdrehkreuz am Flughafen Halle-Leipzig. Mitten in der Corona-Krise, die für Amazon keine Krise war, sondern der größte Boom aller Zeiten.

Als kritischster Teil der Logistikkette gilt die „letzte Meile“. Dort, wo das Paket den Weg zum Endkunden zurücklegt, kann am meisten schiefgehen. Zustellfahrzeuge stehen im Stau oder finden keinen Parkplatz, Empfänger sind nicht zu Hause, Adressangaben sind unklar, Paketboten müssen zur Haustür im fünften Stock des zweiten Hinterhauses oder an bissigen Hunden vorbei. Und, für Amazon am wichtigsten: Auf der letzten Meile entstehen 50 Prozent der Kosten.

Nicht verwunderlich, dass sich Amazon seit etwa fünf Jahren bemüht, die „letzte Meile“ unter eigene Regie zu bekommen. Mit der Sparte Amazon Logistics baut der Konzern seine eigenen Zustelldienst auf und macht sich immer unabhängiger von Unternehmen wie DHL und Hermes. Damit kommt ein weiterer Prekarisierungstreiber in eine ohnehin schon unter enormem Konkurrenzdruck stehende Branche. „Delivery Service Partners“ heißt das eigens kreierte Subunternehmernetzwerk. Zusätzlich experimentiert man mit einem Plattform-basierten Beschäftigungsmodell, das man sonst von Uber oder anderen Firmen der Gig Economy kennt: Über die App „Amazon Flex“ können „selbstständige Zusteller“ sich anmelden und mit dem eigenen Pkw Pakete ausliefern. Dafür gibt es 25 Euro die Stunde, von denen sie nicht nur Lebenserhaltungskosten, sondern auch ihre Betriebskosten und Sozialversicherungp zahlen müssen.

Die Hauptlast des Zustellgeschäfts liegt allerdings bei den „DSP“ – kleinen Firmen mit fünf bis zehn, manchmal auch 25 Fahrzeugen, die sich allmorgendlich vor den Güterverteilzentren gemeinsam mit den Fahrern anderer ebenso kleiner Firmen in die Warteschlange stellen. An die fünfzig solcher regionalen Vierteilzentren hat Amazon mittlerweile in Deutschland errichtet. Hier werden Zustelltouren geplant und die Pakete auf die Lieferwagen verladen. Amazon hat das Subunternehmersystem in der Paketzustellung nicht erfunden – auch Hermes, DPD, GLS setzen darauf, mehr und mehr auch die Post-Tochter DHL. Aber viel systematischer als alle Wettbewerber verbindet Amazon die betriebswirtschaftlichen Vorzüge eines solchen Outsourcings mit digitaler Überwachung, Steuerung durch Algorithmen und KI.

Exemplarisch hat sich Tina Morgenroth von der Thüringer Beratungsstelle „Faire Mobilität“ das Ende 2019 in Erfurt-Stotternheim eröffnete Verteilzentrum angesehen. Nicht weil sie es auf Amazon abgesehen hatte, sondern weil immer mehr Beschäftigte von Amazon-Subunternehmern mit Problemen zu ihr in die Beratungsstelle kamen – mittlerweile sind es um die 150, die um Unterstützung baten. Sie berichten von Arbeitsbedingungen, die es nach geltendem Arbeitsrecht eigentlich nicht geben dürfte. Zehn- bis Zwölf-Stunden-Schichten an sechs Tagen in der Woche, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns, von Arbeitsdruck, der es unmöglich macht, die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen zu nehmen. Dennoch werden Pausenzeiten automatisch abgezogen – die KI lässt grüßen.

Kontrollen durch die zuständigen Arbeitsschutzbehörden sind für Amazon bislang keine ernsthafte Bedrohung. Für die Arbeitsbedingungen bei den Subunternehmern ist der Konzern nur schwer verantwortlich zu machen. Die aber sind oft schwer greifbar. So hatte die Thüringer Arbeitsschutzbehörde Mitte Juli bei 21 Amazon- Paketsubunternehmen Verstöße festgestellt. Weil aber 20 dieser Firmen ihren Sitz außerhalb Thüringens haben, sei man nicht zuständig, heißt es auf Anfrage. Arbeitsschutz ist Ländersache. Das Problem jedoch – das System Amazon – ist global.

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Jörn Boewe hat zusammen mit Tina Morgenroth und Johannes Schulten soeben die Broschüre „Amazons letzte Meile. Ein Onlinehändler als Prekarisierungstreiber in der Paketlogistik“ für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und das DGB Bildungswerk Thüringen veröffentlicht.

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