»Veritables Streikverbot«

Unter der Flagge der »Tarifeinheit« will große Koalition Grundrechte von Minderheitsgewerkschaften einschränken. Arbeitsrechtler kritisieren den Plan als verfassungswidrig

Von Jörn Boewe, junge Welt, 21. Jan. 2014

Lokführerstreiks bei der Deutschen Bahn (DB) scheinen zunächst vom Tisch. Vergangenen Donnerstag erklärte die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), daß sie ein am Mittwoch vorgelegtes Angebot der DB prüfen und bis Ende Januar auf Arbeitsniederlegungen verzichten will. GDL und Bahn verhandeln seit zwei Jahren über die Forderung nach einer finanziellen Absicherung für Lokführer, die bei Ausübung ihres Berufes ihre Lizenz verlieren.

Die Berichterstattung der letzten Wochen gab einen Vorgeschmack auf die Medienkampagne, die kommen wird, wenn die GDL-Mitglieder doch noch in den Ausstand treten sollten. »Mit skurrilen Forderungen zieht eine Gewerkschaft in den Streik«, schrieb die FAZ (12. Januar), die Lokführer würden eine »Rundumabsicherung gegen jede Unbill des Lebens« fordern, hieß es bei Spiegel online (16. Januar). Tatsächlich fordert die kleine Fahrdienstgewerkschaft »eine Absicherung bei unverschuldetem Verlust der Fahrdiensttauglichkeit beziehungsweise Lizenzverlust, beispielsweise nach Suiziden«.

Die sogenannten Spartengewerkschaften vertreten Beschäftigte, die an neuralgischen Punkten der Volkswirtschaft sitzen und deshalb schlagkräftige Arbeitskämpfe führen können. Dabei geht es vor allem um die 8800 in der Vereinigung Cockpit organisierten Verkehrspiloten, 114000 im Marburger Bund zusammengeschlossenen Klinikärzte, 10000 Stewards in der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation UFO, 34000 organisierten Lokführer und die 3800 Mitglieder der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF).

Es ist nicht verwunderlich, daß einschlägige Unternehmen und ihre Verbände den Spartengewerkschaften Schwierigkeiten machen wollen. 2009 forderten Lufthansa und Deutsche Bahn erstmals öffentlich Gesetze, die die Anzahl von Streiks künftig verringern sollten. Unterstützung fanden sie bei der Deutschen Flugsicherung und verschiedenen Flughafenbetreibern. 2010 gesellte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) dazu. Der DGB und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) präsentierten gemeinsam einen Vorschlag, wie die sogenannte Tarifeinheit gesetzlich zu regeln sei. Anders als suggeriert, geht es dabei aber gerade nicht um das Prinzip »ein Betrieb – ein Tarifvertrag«, also die Durchsetzung einheitlicher Standards. Unterschiedliche Niveaus bei Lohn und Arbeitszeiten wie sie in zahlreichen Unternehmen üblich sind, soll es auch weiterhin geben, sofern der Tarifvertrag von der mitgliederstärksten Gewerkschaft im Unternehmen abgeschlossen wird. Insbesondere bei ver.di kam es daraufhin zu heftigen Diskussionen. Im Mai 2011 entzog der ver.di-Gewerkschaftsrat der BDA-DGB-Initiative die Unterstützung.

Jetzt will die Bundesregierung aus Union und SPD das heiße Eisen offenbar anpacken. »Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken, wollen wir den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festschreiben«, heißt es im Koalitionsvertrag. »Durch flankierende Verfahrensregelungen wird verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung getragen.«

Renommierte Arbeitsrechtler wie Wolfgang Däubler oder der frühere Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, halten die anvisierte Regelung schlicht für verfassungswidrig. »Im Kern«, schreibt Hensche in der Januarausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, gehe es nicht um Tarifeinheit, sondern um ein »veritables Streikverbot«.

Alle derzeit diskutierten Vorschläge liefen auf eine »geplante Streikbeschränkung« hinaus, unterstreicht Hensche. So soll sich künftig grundsätzlich der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft auf die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft erstrecken – und diese an die Friedenspflicht binden. Weil es dem bürgerlichen Recht widerspricht, an Verträge gebunden zu werden, die man nicht unterzeichnet hat, soll den Minderheitsgewerkschaften das Recht auf Teilnahme an den Tarifverhandlungen der Mehrheitsorganisationen eingeräumt werden. Ob eine solche Regelung verfassungskonform wäre, wird – so sie zustande kommt – wohl in Karlsruhe entschieden werden.

Politisch verblüfft vor allem die »Kurzsichtigkeit, die die DGB-Gewerkschaften zu einer Beteiligung bewogen hat«, wie Hensche betont. »Selbst wenn sie hoffen, eine Handvoll konkurrierender Berufsverbände mit staatlicher Hilfe aus dem Tarifgeschäft verdrängen zu können, ist keineswegs sicher, ob der Schuß nicht nach hinten losgeht.«

Hochgekochter Zorn


Jahrhunderthitzewelle in Argentinien sorgt für Stromausfälle. Proteste richten sich gegen Regierung. Die droht nun, die Energieunternehmen zu verstaatlichen

Von Johannes Schulten, junge Welt, 7.1.2013

Der Jahreswechsel brachte die Bewohner von Buenos Aires die seit Wochen ersehnte Abkühlung. Die Thermometer in der argentinischen Hauptstadt zeigten zwar noch immer um die 30 Grad. Doch die reichten, um das strapazierte Stromnetz zu stabilisieren. Dauertemperaturen von bis zu 39 Grad hatten die Elektrizitätsversorgung in der zweiten Dezemberhälfte kollabieren lassen und zu Massenprotesten geführt. Tausende Haushalte waren teils mehrere Tage von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten. Die Betroffenen zogen vor die Haustüren und blockierten Straßen und Autobahnen in und um Buenos Aires. Nach Plünderungen in Folge von Polizeistreiks in mehreren Provinzen waren es für die Regierung bereits die zweiten öffentlichen Unruhen innerhalb eines Monats.
Meteorologen sprachen vom heißesten Dezember in der Hauptstadt seit 1902. Die übermäßige Nutzung von Klimaanlagen und Ventilatoren hatte das marode Netz schnell zusammenbrechen lassen. In ganzen Straßenzügen der Region Groß Buenos Aires kam es seit Mitte Dezember immer wieder zu Stromausfällen. Mit Spruchbändern und Chören machten Zehntausende ihrem Ärger über die zuständigen Versorger Endesur und Endenor Luft, sie klagten aber auch die Regierung für mangelnde Kontrollen an.

Diese reagierte nun. Planungsminister Julio De Vido kündigte am Freitag nicht nur harte Sanktionen gegen die beiden privaten Energiekonzerne an. Er drohte auch mit Lizenzentzug. Damit griff er eine Äußerung von Kabinettschef Jorge Capitanich auf. Der hatte bereits Ende Dezember bekanntgegeben, im Falle von weiteren Stromausfällen »die Führung« der Unternehmen zu übernehmen.

Die Opposition machte die Regierung für die Misere verantwortlich. Mauricio Macri, Bürgermeister von Buenos Aires und Vorsitzender der rechten Partei PRO, warf Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner »Versagen« vor. Sie trage die »Hauptverantwortung«. »Die Behörden müssen kontrollieren und überwachen, daß die Stromversorger die notwendigen Investitionen auch tätigen. Doch das haben sie in den letzten Jahren nicht gemacht«, so Macri, der als einer der aussichtsreichsten Kandidaten des rechten Lagers für die Präsidentschaftswahlen 2015 gilt.

De Vido kündigte unterdessen Entschädigungen an: Jedem Haushalt, der bis zu 24 Stunden ohne Strom war, müßten Edesur und Edenor 490 Pesos (etwa 55 Euro) zahlen. Bei längeren Ausfallzeiten erhöht sich die Strafe auf bis zu 870 Pesos. Edesur wurde zudem zur Zahlung von 17,8 Millionen Pesos (knapp zwei Millionen Euro) und Edenor zu acht Millionen Pesos verdonnert. Bei schweren Verstößen gegen die Auflage deutete De Vido eine Auflösung der Konzessionsverträge und eine Verstaatlichung beider Firmen an. Nach der Enteignung des Erdölversorgers YPF im Mai vergangenen Jahres wäre dies ein Schritt zurück zum System einer zentralisierten und integrierten Energieversorgung, wie es in Argentinien bis in die frühen 90er Jahre existierte.

1992 hatte die neoliberale Regierung von Carlos Menem die Wasser-, Strom-, und Gasversorgung der Hauptstadt und des Umlands privatisiert. Während sich die neuen Investoren, die vor allem aus Europa stammten, über riesige Gewinne freuten, zahlten die Konsumenten mehr als zuvor oder mußten schlechtere Leistungen hinnehmen. Das Stromnetz zum Beispiel wurde so nachlässig bewirtschaftet, daß es im Sommer immer wieder zu tagelangen Ausfällen kam, das war etwa 1999 wie auch 2008 so.

Zu diesen saisonalen Problemen kommt ein grundlegendes: Mit dem massiven Wirtschaftswachstum des Landes in den vergangenen Jahren – seit 2003 ist das Bruttoinlandsprodukt beinahe jährlich um etwa acht Prozent gewachsen – hat auch der Energiekonsum erheblich zugenommen. Argentinien erlebte einen wahren Bauboom, ohne daß das Versorgungsnetz entsprechend angepaßt wurde. Das gilt besonders für die Metropole Buenos Aires (13 Millionen Einwohner). Planungsminister De Vido kritisierte die Verwaltung der Hauptstadt, in großem Maßstab Baukonzessionen vergeben zu haben, ohne die Infrastruktur zu prüfen. Demnach sei es genau in den Vierteln, in denen viele Hochhäuser gebaut wurden, auch zu den meisten Stromausfällen gekommen.

Bisher war die Regierung von Cristina Fernández jedoch nicht in der Lage oder nicht bereit, den Energiesektor nachhaltig zu reformieren. Statt dessen setzte sie auf eine Teilregulierung: Die Preise wurden staatlich festgesetzt, die Unternehmen dafür im Gegenzug mit Milliardensubventionen entschädigt. Das garantiere zwar bezahlbaren Strom für die Bürger. Doch die Betreiber weigern sich, die dringend notwendigen Investitionen ins Netz durchzuführen und kritisieren »fehlende Anreize«. Bisher fuhren sie mit dieser Strategie ganz gut: Der Kurs der in Buenos Aires dotierten Aktie von Edesur, deren Hauptteilhaber der italienische Energiekonzern Enel ist, stieg 2013 um mehr als das Doppelte.

Damit könnte es nun vorbei sein. Eine grundlegende Reform des gesamten Sektors steht laut Beobachtern ganz oben auf der Regierungsagenda für 2014. Denn es sind nicht nur die maroden Netze, die Probleme bereiten, sondern die generelle Energiearmut des Landes. Argentinien, früher einmal Energieexporteur, fördert seit Jahren zu wenig Öl und Gas, um seinen Verbrauch zu decken. 2012 wies die Energiebilanz ein Minus in Milliardenhöhe aus. Im Mai hatte die Präsidentin den Konzern YPF, die Tochter des Spanischen Ölmultis Repsol, verstaatlicht. Sie begründet die Enteignung damit, daß YPF in der Vergangenheit zu wenig im Land investiert und nicht ausreichend Öl gefördert habe.

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