EU provoziert Docker

»Port Package III«: Brüssel will Ausschreibung von Hafendiensten per Verordnung durchsetzen. Transportarbeitergewerkschaft verurteilt Angriff auf Streikrecht

Von Jörn Boewe, junge Welt, 31. Dez. 2013

Die wichtigsten Seehäfen der Europäischen Union sind monopolistisch organisiert, leiden unter chronischem Wettbewerbsmangel und sollten sich insgesamt viel marktwirtschaftlicher organisieren. Das glaubt oder behauptet zumindest die Europäische Kommission, und seit gut zehn Jahren versucht sie, die Situation in ihrem Sinne zu verändern. Zweimal ist sie dabei gescheitert: »Port Packages I und II« wurden 2003 und 2006 nach heftigen Protesten der Hafenarbeiter vom EU-Parlament abgelehnt. Nun unternimmt Brüssel mit einem neuen, inhaltlich anders gewichteten »Port Package III« im kommenden Jahr einen dritten Anlauf.

Don’t mess around with these buddies
(ITF Baltic Action Week, Sept. 2012, Wismar)

Nicht mehr wie früher mit einer empfehlenden Richtlinie, sondern mit einer verbindlichen Verordnung will die Kommission vorschreiben, daß künftig bestimmte Hafendienstleistungen EU-weit ausgeschrieben werden müssen. In dem Entwurf, der einer Bestätigung durch das Parlament bedarf, sollen vor allem der Marktzugang von Leistungen wie Betankung, Ausbaggerung, Lotsen- und Schleppdiensten geregelt werden. Zudem soll mit der Verordnung mehr Transparenz bei der öffentlichen Finanzierung als auch bei der Festsetzung der Hafenentgelte geschaffen werden. Ein dritter Themenbereich betrifft die behördliche Aufsicht und Koordinierung in den Häfen. Im Februar soll der Entwurf im Verkehrsausschuß des Europa-Parlaments abgestimmt und im März abschließend ins Plenum eingebracht werden.

Gewerkschaften, Hafenbetreiber, Lotsenvereinigungen lehnen den Vorstoß ab, während die großen Reedereien, Schiffsmakler und Befrachter zu den Befürwortern zählen. Strittig sind vor allem die beabsichtigte Ausschreibungspflicht für Lotsen-, Bagger- und Schleppdienste sowie eine Regelung über die Einrichtung von Notdiensten. Gewerkschaften und Parlamentarier der Linken sehen hier die Tür für eine Einschränkung des Streikrechts geöffnet.

Ladungsumschlag und Passagierabfertigung sind im aktuellen Kommissionsvorschlag zwar vom Ausschreibezwang ausgenommen. Allerdings wurden sie erst im Herbst ausgeklammert, offensichtlich um dem absehbaren Widerstand der Hafenarbeitergewerkschaften zuvorzukommen. Im ursprünglichen Entwurf sind sie noch ausdrücklich genannt. Dies macht die Kritiker mißtrauisch, denn der taktische Rückzug dürfte an den langfristigen Intentionen der EU-Kommission nichts geändert haben.

Heftige Kritik kommt von der Lotsenvereinigung European Maritime Pilots’ Association (EMPA). »Das Lotsen ist unstrittig eine öffentliche Dienstleistung von allgemeinem Interesse (Gewährleistung der maritimen Sicherheit und Schutz der Umwelt) und sollte kein Gegenstand des Marktes sein«, schreibt die EMPA in einer Stellungnahme. Würde der Kommissionsvorschlag umgesetzt, wären Qualität und Sicherheit gefährdet. Die Vereinigung verweist zudem auf Erfahrungen in Staaten, die ihre Lotsendienste bereits ausschreiben. Hier sei es keineswegs zu der von der Kommission suggerierten Absenkung der Entgelte gekommen. So habe eine entsprechende nationale Regelung in Dänemark sogar zu einem Anstieg um 20 Prozent geführt. Grundsätzlich sei die Art der Organisation von Lotsendiensten stark von den lokalen Gegebenheiten der einzelnen Häfen und Lotsendistrikte abhängig und sollte deshalb den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, heißt es weiter.

Ähnlich äußert sich die Europäische Transportarbeiterföderation ETF, die europäische Abteilung der Internationalen Transportarbeiterföderation ITF und wichtigste Organisation der Hafenarbeiter. Die Aufgabe der Lotsen werde immer anspruchsvoller, nicht zuletzt, weil die Schiffe immer größer und die Mannschaften kleiner würden sowie das Schiffspersonal oft übermüdet und mitunter schlecht ausgebildet sei.

Generell bemängelt die ETF, daß der Kommissionsvorschlag keine sozialen Mindeststandards für die Beschäftigten festschreibt. Die Behauptung, daß eine Marktöffnung für Hafendienstleistungen keine direkten oder nachteiligen Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen haben würde, sei »bestenfalls naiv und schlimmstenfalls der bewußte politische Versuch, Befürchtungen zu beschwichtigen und die Realitäten des Konkurrenzkampfes und die unvermeidlich daraus folgenden sozialen Konflikte zu übertünchen«, schreibt sie in einer Stellungnahme vom November.

Zudem sieht die Gewerkschaft im Kommissionsentwurf »mehr oder weniger verschleierte Angriffe auf das Streikrecht«. Laut Artikel 8 des Verordnungsentwurfs sollen Mitgliedsstaaten den Hafendienstleistern »gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen« auferlegen können, »um zu gewährleisten, daß (…) der Dienst tagsüber, nachts, während der gesamten Woche und des gesamten Jahres ununterbrochen verfügbar ist« sowie »allen Nutzern zur Verfügung steht«. Bei einer »Störung von Hafendiensten« oder auch, »wenn die unmittelbare Gefahr einer solchen Störung« bestehe, soll die »zuständige Behörde eine Notfallmaßnahme ergreifen« können, indem der Dienst einem anderen Anbieter in Form einer Direktvergabe »zugewiesen« wird. Für die ETF ist das ein Verstoß gegen das in den Verfassungen der meisten Mitgliedsstaaten und in Kapitel 28 der Europäischen Grundrechtscharta verankerte Recht auf kollektive Arbeitskampfmaßnahmen.

Genauso sieht das die Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke. »Diese ›Notfallmaßnahmen‹ stellen einen direkten Angriff auf das Streikrecht dar«, erklärte deren Abgeordnete Sabine Wils vor Weihnachten. Grundsätzlich gehörten Hafendienste »zu den Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und deshalb in öffentliche Hand«.

Kritisch sieht die Linken-Abgeordnete auch die Rolle des SPD-Parlamentariers Knut Fleckenstein, der als Berichterstatter des Parlaments einen Gegenentwurf zum Kommissionsvorschlag erarbeitet hat. Fleckenstein schlägt unter anderem vor, die Lotsen- und Baggerdienste aus der Verordnung zu streichen sowie Umwelterfordernisse und nationale Sozialstandards bei der Ausschreibung von Hafendienstleistungen zu »berücksichtigen«. Nach Ansicht von Wils handelt es sich dabei aber nur um »völlig unverbindliche Appelle«, deren eigentlicher Zweck darin bestehe, »dem Widerstand gegen Port Package III die Spitze zu nehmen«.

Die Herrschaft der Finanzoligarchie ist nicht sehr beliebt,

aber stabil. Jedenfalls in der Schweiz, und im Grunde ist diese Diagnose nicht allzu überraschend. Ausgestellt haben sie die wahlberechtigten Eidgenossinnen und -genossen Ende November bei der Abstimmung über die »1:12«-Initiative der Schweizer Jusos. Getragen wurde die Kampagne hauptsächlich von der Gewerkschaft Unia, einer, wie wir finden, hochinteressanten Organisation.

Mehr dazu im Sammelband
ORGANIZING. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, VSA Hamburg 2013, Hrsg.: Detlef Wetzel

(Leseprobe:)
Seit einigen Jahren setzt die Unia unter dem Motto »Von einer Gewerkschaft der Hochkonjunktur zur Gewerkschaft für raue Zeiten« verstärkt auch auf Organizing-Methoden. In der traditionell vom Hang zu Harmonie und Ausgleich geprägten politischen Kultur der Schweiz hat sich die Unia ein Renommee als die gesellschaftliche Kraft erworben, die am entschiedensten gegen die seit über zwei Jahrzehnten andauernde neoliberale Offensive angeht und dabei vor Konflikten nicht zurückscheut. Damit zieht sie regelmäßig Wutausbrüche der politischen Rechten auf sich. Als Unia-Gewerkschafter im Sommer 2007 im Rahmen einer Kampagne gegen die ausufernde Leiharbeit (schweizerdeutsch: Temporärarbeit) Zugänge privater Personalvermittlungen blockierten, schrieb die rechtspopulistische Weltwoche von »Rollkommandos der Syndikalisten«, die »fast das gesamte Repertoire« nutzten, »das mafiose Vereinigungen zur Realisierung ihrer Egoismen entwickelt haben: überfallartige Kommandoaktionen, Einschüchterung, Drohung, Nötigung, Erpressung, Hetze, Kassieren von Schutzgeldern, öffentliche Fertigmachung« (Weltwoche36/2007).

Es wäre aber falsch, die Unia wegen ihrer kämpferischen Attitüde für eine Sponti-Truppe von Politaktivisten zu halten. Die Ressourcen, die die Gewerkschaft für Tarifbewegung, Basisarbeit und Kampagnen verwendet, hat sie sich durch eine professionelle Umstrukturierung ihrer individuellenMitgliederbetreuung freigeschaufelt. Ein Drittel der Finanzen darf für Serviceleistungen, Rechtsberatung und Verwaltung verwendet werden, zwei Drittel für die politische Arbeit – so lautet die Zielvorgabe. Erreicht wird dies durch die neuesten Zaubertricks moderner Prozessoptimierung, Callcenter-Software, Analysetools und organisationspolitische Weichenstellungen.

»Wir haben uns entschieden, die Leistungen für Nichtmitglieder drastisch einzuschränken«, sagt René Lappert, der in der Region Zürich-Schaffhausen den Bereich Individuelle Mitgliederbetreuung leitet. »Denen sagen wir nicht mal, wie spät es ist«, sagt er und lacht. Nun, das ist etwas übertrieben. Wer als Nichtmitglied bei der Unia Rat sucht, bekommt eine Erstberatung und ein »Welcome-Paket« mit den wichtigsten Informationen. »Aber die Zeiten, in denen der Gewerkschaftssekretär jeden Hilfesuchenden an die Hand nahm, um dessen Probleme zu lösen, sind definitiv vorbei.«

Aus:
Jörn Boewe
Das Kräfteverhältnis ändern. Für die Schweizer Unia ist Organizing mehr als Betriebserschließung. Es geht um den außerparlamentarischen Kampf für soziale Gerechtigkeit. (a. a. O.)

Genau hingeschaut: Die merkwürdige Insolvenz der Feuerhand-Sturmlaterne

Die Unternehmenspleite war dubios, doch für den Insolvenzverwalter schien die Sache erledigt. metallzeitung ließ nicht locker und stellte eigene Recherchen an. Jetzt gibt es Hoffnung für die 40 ehemaligen Beschäftigten des Petroleumlampenherstellers Feuerhand. 

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, metallzeitung, 01/2014


»Wir dachten schon, das war’s«, sagt Volker Ebert, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender der Firma Feuerhand – einem Hersteller von Petroleumlampen aus Norddeutschland, der Ende 2012 pleiteging. »Aber jetzt gibt es vielleicht doch noch Hoffnung auf ein Stück Gerechtigkeit.« Es ist Mitte Dezember und gerade hat Ebert die Nachricht erreicht, dass sein ehemaliger Arbeitgeber vielleicht doch noch Abfindungen zahlen muss. Denn: Kurz vor Weihnachten hat der Insolvenzverwalter seinem ehemaligen Chef eine entsprechende Zusage abgerungen. Geld, mit dem ein Jahr nach der Pleite niemand mehr gerechnet hat.

Rechts die original verzinnte Feuerhand-Sturmlaterne. Links das verzinkte Nachfolgemodell „Eternity“

Skandalös. Der Fall »Feuerhand« scheint zunächst ein klassischer Insolvenzfall zu sein. Ein Unternehmen geht pleite, die Eigentümer bringen das Betriebsvermögen über ein undurchsichtiges Unternehmenskonstrukt in Sicherheit, für Abfindungen ist kein Geld mehr da. Dass kurze Zeit später dasselbe Produkt von einem anderen Unternehmen, das denselben Leuten gehört, weiter produziert wird, ist zwar skandalös, doch die Schlagzeilen bleiben aus – es ging ja »nur« um 40 Beschäftigte.

Für Kai Trulsson, den Ersten Bevollmächtigten der IG Metall Unterelbe, ist die Geschichte »exemplarisch«. »Sie zeigt, wie skrupellose Firmeneigner juristische Grauzonen ausnutzen, um bei Insolvenzen Beschäftigte und Sozialversicherungen zu übervorteilen«, sagt Trulsson. »Vor allem aber zeigt sie, dass man sich erfolgreich dagegen wehren kann.«

Bis vor einem Jahr bauten die 40 Beschäftigten des Unternehmens in Hohenlockstedt bei Itzehoe noch Petroleumlampen. 37 Einzelteile in Handarbeit verschraubt, bekannt für Qualität und Lebensdauer. Eine Traditionsmarke »Made in Germany« seit 1902.

Hunderttausende exportierte Feuerhand jährlich vor allem nach Afrika und in den Nahen Osten. Im Oktober 2012 hatte Feuerhand Insolvenz angemeldet. Betriebsvermögen war nicht mehr vorhanden – alles, was Wert hatte, hatten die Eigentümer – Geschäftsführer Marc-Michael Müller und sein Vater – zuvor »in Sicherheit« gebracht. Ein neuer Investor fand sich nicht, alle Beschäftigten wurden entlassen. Für einen Sozialplan war kein Geld mehr da.

Schon die Vorgeschichte zeigte die Skrupellosigkeit der Eigentümer. Nachdem das Unternehmen 2011/2012 Absatzeinbrüche hinnehmen musste, forderte Müller junior von den Beschäftigten, dauerhaft auf 30 Prozent ihres Lohns zu verzichten. Für Trulsson war das »völlig indiskutabel«.

Daraufhin meldete Müller Insolvenz an. »Plötzlich klebten auf den Maschinen Zettel: ›Eigentum der Firma Müller & Co.‹«, erinnert sich Betriebsrat Ebert. Grundstücke und Maschinen, so stellte der Insolvenzverwalter fest, befanden sich längst im Besitz anderer Firmen. Ende August, nur wenige Wochen vor dem Insolvenzantrag, kam Müller & Co. auch in den Besitz der Marke Feuerhand – ohne Gegenleistung.

Damit war praktisch das gesamte Betriebsvermögen auf Firmen verteilt, die sich alle im Besitz der Müllers befanden. Insolvenzverwalter Klaus Pannen fand all das damals »merkwürdig« – Konsequenzen zog er daraus aber nicht. Die Sache schien erledigt.

Hartnäckig. Doch die IG Metall und metallzeitung stellten eigene Recherchen an. Heraus kam, dass die Feuerhand-Laternen weiter produziert werden. Allerdings nicht mehr von tariflich bezahlten Beschäftigten, sondern in einer Diakonie-Werkstatt im benachbarten Hohenwestedt. 29 Menschen mit Behinderungen, bestätigte eine Sprecherin des kirchlichen Vereins auf Anfrage der metallzeitung, »setzen Lampen zusammen, montieren und verpacken sie«.

Über die Umstände der Insolvenz war die Diakonie offensichtlich unterrichtet. Die Hohenwestedter Werkstatt pflegt seit Jahren Geschäftsbeziehungen mit den Müllers. Schon länger wurde hier ein Teil der Laternenproduktion pulverbeschichtet. Als neuer Auftraggeber fungiert jetzt eine A.P. Montageservice. Das Unternehmen wurde im Mai 2013 – also nach der Insolvenz – im Handelsregister beim Amtsgericht Pinneberg eingetragen. Geschäftsführerin ist eine ehemalige Prokuristin der Feuerhand.

Ehemalige Beschäftigte von Feuerhand fanden Hinweise, dass die Vorproduktion der Stanzteile auf dem alten Betriebsgelände fortgesetzt wird. »In Abfallcontainern wurden frische Blechabfälle entdeckt, wie sie beim Stanzen anfallen«, berichtet Ebert.

Erfolgreich. Konfrontiert mit den Recherchen der metallzeitung kündigte Insolvenzverwalter Pannen Mitte November eine erneute Prüfung des Falls an. Anfang Dezember teilte er mit, »Müller & Co.« habe sich bereit erklärt, für die Markenübertragung zu zahlen. »Er hat angekündigt, durch einen Gutachter prüfen zu lassen, wie viel die Marke wert ist«, so Trulsson. Allerdings werde die IG Metall genau hinschauen. »Wir werden nicht akzeptieren, dass Beschäftigte, die jahrelang zum Erfolg der Firma beigetragen haben, jetzt mit einem symbolischen Betrag abgespeist werden.«

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Keine Einzelfälle

Bei jeder Insolvenzeröffnung muss die Staatsanwaltschaft routinemäßig prüfen, ob eine Straftat vorliegt. 2012 registrierte das Bundeskriminalamt 11 518 Fälle von Insolvenzdelikten – bei insgesamt 29 619 Unternehmenspleiten. Der Schaden wird vom Bundeskriminalamt auf 1,87 Milliarden Euro geschätzt. Lässt sich nachweisen, dass zeitnah vor einer Insolvenz Vermögenswerte ohne angemessene Gegenleistungen an Dritte übertragen wurden, kann der Vermögensverwalter dies mit einer Klage anfechten.

 

Veröffentlicht unter Presse

Tuchfühlung mit Energiewende

Der Klimawandel ist längst da, die Medizin auch. Doch noch immer weigert sich der Patient, die Pillen auch zu schlucken. Zwei aktuelle Bücher leisten Überzeugungshilfe. 

Von Jörn Boewe, Magazin Mitbestimmung 12/2013

Die Sache könnte so einfach sein. Öl, Gas und Kohle sind endlich. Wenn man sie verbrennt, verursachen sie Treibhausgase und die gefährden das Klima. Mit erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne stehen, trotz ihrer Schwächen, brauchbare Alternativen zur Verfügung. Doch die Sache ist nicht so einfach, wie ein Blick in die Tageszeitungen der letzten Monate zeigt. Dass EU-Energiekommissar Günther Oettinger den Ausbau von Solar und Wind als Antreiber einer »Deindustrialisierung« diffamiert, möchte man noch als populistisches Geschwätz abtun. Wenn aber dem Großteil der Medien zur Energiewende wenig anderes einfällt als »Luxusstrom« (Spiegel), »gigantische Umverteilung« und »Öko-Planwirtschaft« (beides FAZ), gibt das schon zu denken.

Denjenigen, die beim Lesen solcher Diagnosen skeptisch werden, aber längst den Überblick über das Zustandekommen ihrer gestiegenen Stromrechnung verloren haben, sei die Lektüre von Claudia Kemferts Buch »Kampf um Strom« ans Herz gelegt. Für die an der Hertie School of Governance lehrende Energieökonomin befinden wir uns tatsächlich in einem solchen Kampf, einer »Fehde« zwischen Politik, Wirtschaftslobbyisten und »Ökologen« um die zukünftige Energiepolitik Deutschlands, die allerdings mit sehr ungleichen Waffen und haufenweise falschen Argumenten ausgetragen wird. Diese »Mythen« greift Kemfert auf, überprüft, rechnet nach, widerlegt und erklärt. Das geschieht vor allem nüchtern, bisweilen bissig, aber immer äußerst kenntnisreich und differenziert.

Beispiel »explodierende Strompreise«: Seit 2001 ist der Strompreis von 14,23 Cent pro Kilowattstunde auf 28 gestiegen. Daran lässt sich wenig drehen. Wer die Energiewende will, so Kemfert, müsse auch bezahlen.

Allerdings könnte es weniger sein: Denn 2011 sind die Preise an der Strombörse EEX in Leipzig um zehn bis 20 Prozent gefallen. Beim Verbraucher kam davon allerdings nichts an. Zwei Cent billiger könnte der Strom sein, so Kemfert, hätten die Energiemultis diese Effekte weitergegeben. Ähnliches gilt für die Befreiung zahlreicher Unternehmen von der EEG-Umlage. Dass einige energieintensive Industrien geschont werden, ist für sie durchaus vertretbar. Allerdings handele es sich dabei um eine klassische Subvention. Und Subventionen seien Aufgabe des Staates und nicht der Verbraucher. Kemfert: »Hier wird der Bürger betrogen.«

Auch die garantierten Vergütungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes werden anders als in anderen Ländern direkt von den Verbrauchern gezahlt. Die konventionelle Energieversorgung und ihre Folgekosten (Kohleverstromung, Atomkraft inklusive Sicherheits-, Entsorgungs- und Rückbauproblemen) wurde dagegen jahrzehntelang aus Steuermitteln gefördert.

Für Kemfert ist die Energiewende aber nicht nur ökologisch notwendig. Sie biete auch die Chance, den oligopolisierten Energiemarkt zu demokratisieren: Anders als bei Atom-, Kohle und Gaskraftwerken kann Energie aus Wind und Sonne in kleinen Mengen produziert werden. »Mit den neuen Energieformen drängen daher kleine und mittelständische Unternehmer in den Wettbewerb, die den großen Energieversorgern Marktanteile und Gewinne wegnehmen.« Überflüssig zu sagen, dass sich die Großen wehren, die in den letzten Jahren – Energiewende hin oder her – mehr als gut verdient haben: REW, E.ON und EnBW konnten ihre Gewinne zwischen 2002 und 2010 versiebenfachen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen – hier schreibt keine Ökoaktivistin. Kemfert war Beraterin von EU-Kommissions-Präsidenten José Manuel Barroso, sie gehörte dem Schattenkabinett des geschassten Bundesumweltministers und CDU-Spitzenkandidaten Norbert Röttgen im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2012 an und leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Von der anderen Seite des politischen Spektrums und mit ganz anderem Handwerkszeug gehen die taz-Journalisten Hannes Koch, Bernhard Pötter und Peter Unfried an die Sache heran. »Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen«, heißt ihr 2012 beim Frankfurter Westend Verlag erschienenes Buch. Mit den Mitteln der Reportage versuchen die Autoren zu »erzählen, wie die Energiewende Realität wird, wer sie vorantreibt und wer sie hintertreibt (…), wer sie finanziert und wer von ihr finanziert wird«. Bis 2050 will Deutschland seinen Strom zu 80 Prozent aus regenerativen Energiequellen erzeugen – »kein anderes Industrieland, dessen Fabriken, Krankenhäuser oder Zugverbindungen auf bezahlbare und sichere Stromversorgung angewiesen sind«, habe bislang eine derartige »Operation am offenen Herzen« gewagt.

Man spürt die typische Neugierde und Unbekümmerheit von Tageszeitungsjournalisten, wenn sich die drei Autoren auf die Reise zu den Brennpunkten und Protagonisten der Energiewende machen. Sie besuchen den ehemaligen Atomkraftwerksingenieur Jörg Müller, der als 22-Jähriger in Moskau studierte und dessen geplantes Praktikum im Kernkraftwerk Tschernobyl 1986 wegen der bislang größten zivilen Atomkatastrophe nicht mehr zustande. In den 90er Jahren begann Müller mit Projektierung und Bau von Windparks in Nordostbrandenburg. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 430 Mitarbeiter und überwacht und steuert von seiner Zentrale in der Uckermark 1300 Windkraftanlagen in Deutschland, Polen, Tschechien, Frankreich und Großbritannien.

Die Autoren fahren auf die Nordsee zum Versuchswindpark Alpha Ventus, interviewen den Chef der Deutschen Energieagentur Stephan Kohler und den Vorsitzenden der Solarworld AG Franz Asbeck, treffen sich mit oberschwäbischen Landräten, Energiegenossenschaftlern und Aktivisten einer Bürgerinitiative, die gegen den Bau einer Hochspannungsleitung kämpft, die norddeutschen Windstrom in die süddeutschen Industriegebiete bringen soll. Diese Unmittelbarkeit ist die Stärke des Buches. Koch, Pötter und Unfried gehen auf Tuchfühlung mit der konkreten Energiewende, wie sie sich tatsächlich vollzieht. Und das heißt vor allem: Mit den Akteuren, die sie vorantreiben und mit Forscher- und Unternehmergeist, Ingenieurskunst und politischer Klugheit den Grundstein für die Energieversorgung des 21. und 22. Jahrhunderts legen.

Das Buch hat aber auch Schwächen. So lässt die Begeisterung der Autoren für ihren Gegenstand die Diktion des Buches mitunter in eine Sprache umschlagen, wie man sie eher von einer Werbeagentur erwarten würde. Dass die Beschäftigten in Windkraft- und Solarindustrie ihren Beitrag zur Energiewende oft unter prekären und Niedriglohnkonditionen leisten, fehlt gänzlich. Es passte offenbar nicht ins Bild.

Claudia Kemfert: Kampf um Strom. Mythen, Macht und Monopole.
Hamburg, Murmann Verlag, 7. Auflage 2013. 140 Seiten, 16,90 Euro

Hannes Koch/Bernhard Pötter/Peter Unfried: Stromwechsel . Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen.
Frankfurt, Westend Verlag 2012. 192 Seiten, 12,99 Euro

Organizing Amazon

»Bis zu 25 Kilometer am Tag zu Fuß, jeder Schritt getaktet, jeder Handgriff elektronisch überwacht. Wer nicht schnell genug ist, wird zum »FeedbackGespräch« zitiert. Wenn das nicht hilft, droht die Abmahnung. Die Löhne weit unter Tarif. Gründe, einer Gewerkschaft beizutreten, gibt es für die Beschäftigten der beiden Logistikzentren von Amazon in Bad Hersfeld eigentlich zuhauf. Dennoch war ver.di in den beiden Werken der hessischen Kleinstadt an der thüringischen Grenze praktisch nicht vertreten – gerade einmal 79 Mitglieder hatte die Gewerkschaft im Februar 2011. Noch schlimmer: Durch schlechte Erfahrungen mit vorangegangenen Projekten standen viele Beschäftigte und der Betriebsrat der Gewerkschaft eher distanziert gegenüber. (…)

Mitte September 2013, also fast anderthalb Jahre nach dem Ende des Projekts, sind nahezu 1000 der insgesamt über 3000 Beschäftigten organisiert …«

Johannes Schulten
Organizing auf hessisch. Das Organizing-Projekt von ver.di bei Amazon in Bad Hersfeld

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in:

Detlef Wetzel (Hrsg.)
ORGANIZING. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, VSA Hamburg 2013

Mit härteren Bandagen

»Es geht um unmittelbare und existenzielle Solidarität – auf der menschlichen, politischen und juristischen Ebene. Wenn der Einzelne auf die Unterstützung seiner Kollegen und seiner Gewerkschaft bauen kann, wird er oder sie ganz anders in einen Konflikt gehen, als ein isoliertes, eingeschüchtertes Individuum, das einem mit überlegenen Ressourcen ausgestatteten Arbeitgeber und seinen ›Union Bustern‹ mehr oder weniger ausgeliefert ist. Das Risiko, das mit gewerkschaftlicher Aktivität in einem gewerkschaftsfeindlichen betrieblichen Umfeld verbunden ist, wird zwar bestehen bleiben. Doch wo praktische Solidarität zur Alltagserfahrung von Beschäftigten gehört, wird auch die Handlungsoption, Verhältnisse durch gemeinsame Aktion erträglicher zu gestalten, an Attraktivität gewinnen.«

aus:

Jörn Boewe/Johannes Schulten
Mit härteren Bandagen. »Union Buster« auf dem Vormarsch?
Arbeitgeberaggressivität, Behinderung von Betriebsratswahlen und gewerkschaftliche Gegenstrategien. Drei Fallbeispiele

in:

Detlef Wetzel (Hrsg.)
ORGANIZING. Die Veränderung der gewerkschaftlichen Praxis durch das Prinzip Beteiligung, VSA Hamburg 2013