IG-Metall fordert Vier-Tage-Woche: Eine Zeit-Revolution für alle

Die Forderung der IG Metall nach einer Vier-Tage-Woche ist mehr als nur Tarifpoker: Es geht um die Frage, wer die Kontrolle über unsere Zeit hat

12. April, Freitag.de

Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich – mit dieser Forderung will die IG Metall in die Ende 2023 anstehende Stahl-Tarifrunde ziehen. Real geht es um die Verkürzung der tariflichen Wochenregelarbeitszeit von 35 auf 32 Stunden, dies allerdings bei vollem Lohnausgleich. Das hat es lange nicht mehr gegeben.

Die IG Metall wagt sich damit auf ein Feld, das ungleich härter umkämpft ist als ein paar Lohnprozente. Beim Arbeitszeitthema kochen sofort die Emotionen hoch. Rein ökonomisch kann man das nicht erklären, denn Zeit ist bekanntlich Geld und umgekehrt. Arbeitszeit – vor allem die Frage der Regelarbeitszeit, des Arbeitstages, der Arbeitswoche – ist aber viel mehr. Zeit ist Macht. Wer über die Lebenszeit anderer Menschen verfügen kann, übt seine Herrschaft aus. Was Hörigkeit und Leibeigenschaft für den mittelalterlichen Feudalherren bedeuteten, ist das Direktionsrecht über die vertraglich festgeschriebene Arbeitszeit für die kapitalistische Klasse. Arbeitszeitverkürzung ist ein Stück Kontrollverlust, und was für Panikattacken drohender Kontrollverlust bei der modernen Unternehmerschaft auslösen kann, hat man zuletzt beim großen Kulturkampf ums Recht auf Homeoffice gesehen.

Zeit ist nicht nur Geld: Zeit ist Macht

Genau wie die „Präsenzpflicht“ ist Arbeitszeit ein kultureller Code, tief eingeschrieben in unsere gesellschaftliche DNA. Man kann die historischen Wurzeln dieses Phantasmas freilegen, von Max Webers protestantischer Arbeitsethik bis hin zu den Top-Performern der Gegenwart, die sich vermeintlich oder tatsächlich, wer will das schon entscheiden, 70, 80 Stunden in der Woche aufopfern – für Wohlstand, Unternehmenserfolg, den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Offensichtlich hat sich hier aber etwas gewandelt. Jüngere Beschäftigte sagen: Es geht auch anders. Es ist kein Naturgesetz, dass vollzeitbeschäftigte Väter immer länger arbeiten und Mütter in Minijobs feststecken. Warum nicht generell weniger arbeiten? Es müssen auch nicht in allen Lebensphasen dieselben starren Arbeitszeiten sein. Auf jeden Fall brauchen wir mehr Zeit – füreinander, für die Kinder, für Freunde, für uns selbst.

Dieser kulturelle Wandel, den die Millennials in die Arbeitswelt gebracht haben, konnte deshalb erfolgreich sein, weil sich der Arbeitsmarkt über die kurze Spanne von ein, zwei Generationen von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt gewandelt hat. „Hauptsache Arbeit“, hieß es in den 90ern und Nullerjahren, und: „Wenn’s dir bei uns nicht passt, dann kündige doch.“ Der Witz ist, dass das die Leute heute wirklich machen, deshalb hört man den Spruch nur noch selten.

Ein neues Leitbild für alle?

Die Forderung der IG Metall nach einer Vier-Tage-Woche trifft damit den Nerv der Zeit. Wollen wir die Stahlindustrie ökologisch transformieren, mit grünem Wasserstoff treibhausgasfrei sauberen Stahl produzieren, muss die Branche attraktiv sein für junge Fachkräfte. Das geht nur mit beschäftigtenfreundlichen Arbeitszeitmodellen. Und wer je ein Stahlwerk von innen gesehen hat, hat eine kleine Ahnung davon, wie anstrengend, kräftezehrend und gesundheitsbelastend viele Arbeiten dort trotz technischen Fortschritts immer noch sind. Drei freie Tage zwischen zwei Schichten sind gewiss keine überzogene Forderung.

Aufregend an der Vier-Tage-Woche ist aber auch, dass sie das Zeug hätte, zu einem neuen Leitbild bei der Wochenarbeitszeit zu werden. So wie es die Fünf-Tage-Woche heute ist. Die Idee, dass die meisten von Montag bis Freitag arbeiten und dann zwei Tage „Wochenende“ haben, ist nicht sehr alt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Regelarbeitszeit bei 48 Stunden an sechs Tagen. In der DDR-Planwirtschaft wurde sie 1957 auf 45 Stunden abgesenkt, zehn Jahre später wurde durch Ministerratsbeschluss die Fünf-Tage-Woche eingeführt. Im Westen Deutschlands war das Angelegenheit der Tarifparteien. Unter dem Motto „Samstags gehört Vati mir“ forderten die DGB-Gewerkschaften ab Mitte der 50er Jahre die 40-Stunden-Woche – flächendeckend Standard wurde sie erst in den 70ern, ins Gesetz schaffte sie es nie. Dort gilt der Samstag bis heute als „Werktag“ – und zwar einer von sechs in der Woche.

Auch wenn Arbeitszeit eine quasi rituelle Norm ist, die das Alltagsleben strukturiert und über Generationen festgezurrt bleibt, kann diese Norm offensichtlich immer wieder umgestoßen und neu verhandelt werden. Die Frage „Wem gehört die Zeit?“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung. 1856 galt es als Erfolg, als in der Druckindustrie der Arbeitstag auf zehn Stunden begrenzt wurde. 1889 beschloss der Pariser Kongress der Zweiten Internationale, den 1. Mai zum internationalen Kampftag für den Achtstundentag zu machen. Arbeiterfamilien kämpften für ein Leben jenseits der Fabrik: „8 Stunden Unternehmerdienst – 8 Stunden Schlaf – 8 Stunden Mensch sein.“ Mehr als ein halbes Jahrhundert lang widersetzten sich die Unternehmer dieser Forderung. Es brauchte eine Revolution – die Novemberrevolution 1918 – um den Achtstundentag in Deutschland als gesetzliche Norm durchzusetzen.

Eine Antwort auf die Herausforderung der Transformation

Überhaupt, Revolutionen und Zeit: Der Kampf um die Zeit war für die Gewerkschaften immer auch verbunden mit der Suche nach strategischen Antworten auf große gesellschaftliche Umbrüche. Als Mitte Ende der 70er die Massenerwerbslosigkeit wuchs, forderten die Gewerkschaften die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden mit vollem Lohnausgleich. Es brauchte fast ein Jahrzehnt und einen sechswöchigen Erzwingungsstreik, bis der Einstieg in die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie 1984 erkämpft war – beendet wurde er bis heute nicht, in Ostdeutschland gilt weiterhin die 38-Stunden-Woche. Ein Streik der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen für die Angleichung der Wochenarbeitszeiten in Ost und West endete vor zwanzig Jahren mit einer Niederlage – sabotiert von „Betriebsratsfürsten“ westdeutscher Automobilkonzerne, die den Kolleginnen und Kollegen im Osten ihre Solidarität verweigerten, gerade in dem Moment, als der Streik anfing, Wirkung zu zeigen.

Durchsetzen konnten sich 2003 im Kampf um die 35-Stunden-Woche allerdings die ostdeutschen Stahlbeschäftigten, und zwar innerhalb von Tagen. Offensichtlich ist die Durchsetzungsmacht am Hochofen, der niemals ausgehen darf, doch ein Stück weit größer als am Montageband. Insofern hat sich die Gewerkschaft auch diesmal für ihre revolutionäre Forderung eine gute Branche ausgesucht. Aber ist eine Vier-Tage-Woche wirtschaftlich überhaupt möglich und vertretbar? Ein Blick in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes zeigt: Die Arbeitsproduktivität je Beschäftigtenstunde quer durch alle Branchen ist seit 1991 um fast die Hälfte gestiegen – die Reallöhne aber nicht mal um ein Drittel. Der Rest ist Aufopferung für Standort Deutschland, Aufbau Ost, Quartalszahlen und Investor Relations.

Es ist Zeit, den Trend mal wieder umzukehren und die Frage zu stellen: Wer hat die Definitionsmacht über den Arbeitstag? Was steht im Mittelpunkt? Der Verwertungszwang, die Shareholder, die Wünsche der Kunden? Oder haben Beschäftigte auch ein Recht auf Teilhabe an der steigenden Produktivität? Auf Sicherung von Arbeitsplätzen, Freiräume für menschliche Entwicklung – ein Recht, ihr Leben humaner zu gestalten?

In China quietschen die Reifen


Während die Politik in Deutschland weiterhin Mobilität nur rund um das Auto denkt, bleibt in der Autoindustrie gerade kein Stein auf dem anderen. Lange, zu lange, haben die deutschen Hersteller auf den „sauberen Diesel“ gesetzt. Inzwischen bauen VW, Mercedes und BMW auf Elektromobilität – mit großen Versprechungen und mäßigem Erfolg. Digitalkonzerne und Batterieproduzenten machen den alten Automobilkonzernen die Kontrolle der Wertschöpfungsketten streitig. Neue Player wie Tesla, aber auch in Europa bislang weitgehend unbekannte Hersteller aus China, geben den Takt vor.

Meine 2 Cents im neuen Freitag. Im gut sortierten Zeitungshandel. >>> Artikel als PDF

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Zu viele Autos auf der Welt

Teaser #12. Wenn der weltweite Pkw-Bestand linear im gleichen Tempo weiterwächst wie in den letzten zwei Jahrzehnten (Abb. 22), gibt es im Jahr 2040 rund 2,35 Milliarden Pkw auf der Welt. Verschiedene Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So geht eine von Prognos im Auftrag von Shell erstellte Untersuchung davon aus, dass «die globale Pkw-Flotte allein bis 2050 auf fast 2,5 Milliarden Pkw» wächst (Shell Deutschland/Prognos 2014). Eine Untersuchung des IWF-Experten Marcos Chamon im Journal Economic Policy kam bereits 2008 zu dem Ergebnis, «dass die Zahl der Autos zwischen 2005 und 2050 um 2,3 Milliarden zunehmen wird, davon 1,9 Milliarden in den Schwellen- und Entwicklungsländern » (Chamon et al. 2008: 244).

Das würde bedeuten, dass in zwei Jahrzehnten trotz eines rasanten «Markthochlaufs» für Elektroautos immer noch genauso viele Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor unterwegs sind wie heute. Bei aller Euphorie im Zusammenhang mit dem Elektroauto sollte nicht vergessen werde, dass in einem Großteil der Welt auf absehbare Zeit weder ein Verbot von Verbrennungsmotoren geplant ist noch auch nur im Ansatz eine Infrastruktur für die breitere Nutzung von Elektro-Pkw existiert (Abb. 23). In einigen dieser Weltregionen gibt es bereits jetzt eine hohe bzw. dynamisch wachsende Motorisierungsrate (Abb. 24).

Tatsächlich kann 2023 niemand exakt prognostizieren, wie viele Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weltweit noch gebaut werden, geschweige denn, wie lange sie genutzt werden. Relativ detaillierten Einblick in die aktuellen Planungen der großen Hersteller gibt eine im November 2022 veröffentlichte Greenpeace-Studie. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Automobilkonzerne bis 2040 aktuell noch 645 bis 778 Millionen Pkw und leichte Nutzfahrzeuge mit Diesel- oder Benzinmotor produzieren wollen. Die Menge sprengt den Berechnungen zufolge das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens bei Weitem, allenfalls die Hälfte des geplanten Produktionsvolumens sieht die Studie noch als vertretbar an (Teske et al. 2022). Mit anderen Worten: Selbst wenn die optimistischeren Szenarien in Bezug auf die Markteroberung durch das E-Auto eintreten, haben wir in 20 Jahren weltweit mehr oder weniger immer noch die gleichen THG-Emissionen durch Verbrennungsmotoren – die Emissionen aus der Produktion und dem Betrieb von einer Milliarde Elektroautos und der zusätzliche Ressourcenverbrauch kämen noch hinzu. Auch wenn die produktions- und betriebsbedingten Emissionen je Elektrofahrzeug aufgrund effizienterer Technologien und eines «grüneren» Strommixes tendenziell sinken dürften, ist es offensichtlich, dass das skizzierte Szenario nicht zu einer Reduzierung, sondern zu einer Ausweitung der THG-Emissionen des Pkw-Verkehrs führen würde.

Die Elektrifizierung des Antriebsstrangs allein ist keine effektive klimapolitische Maßnahme, solange sie im Kontext einer Fortschreibung des autozentrierten Verkehrsmodells stattfindet. Die Vorteile des Elektroautos (hoher energetischer Wirkungsgrad, günstige THG-Lebenszyklusbilanz) können nur dann ihre Wirksamkeit entfalten, wenn der Bestand an Pkw insgesamt reduziert wird und die Fahrzeuge über eine lange Lebensdauer genutzt werden und hohe Gesamtlaufleistungen erzielen.

Dies würde voraussetzen, dass es innerhalb weniger Jahre zu einer massenhaften Abkehr vom Modell des individuell-privaten Pkw hin zu einer viel stärkeren Sharing-Nutzung kommen müsste und wenn öffentliche Verkehrssysteme massiv ausgebaut werden, auch in ländlichen und suburbanen Gebieten. Leitbild müsste ein integriertes Mobilitätssystem sein, in dem ein emissionsfreier Linienverkehr von Bussen und Bahnen das Rückgrat bildet und die Lücken in dünn besiedelten Gebieten über elektrische Rufbusse, Shuttles, Taxis und Carsharing-Flotten geschlossen werden, die als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge organisiert sind. Um einen globalen Effekt zu haben, müsste ein derartiges Leitbild aber auch in den aufstrebenden Volkswirtschaften Brasiliens, Indiens oder Chinas als erstrebenswertes Ziel angesehen werden. Davon sind wir derzeit weit entfernt.

> Jörn Boewe/Johannes Schulten

Die Transformation der globalen Automobilindustrie. Trends, Deutungen, sozialökologische Handlungsstrategien – Ein Handbuch für die gewerkschaftliche und politische Praxis

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