Das Licht geht aus im „Solar Valley“

Keine Industrie ist so schnell gewachsen wie die Produktion von Photovoltaikmodulen – und keine ist so schnell wieder zusammengebrochen. Was ist hier industriepolitisch schiefgelaufen? Ein Besuch in Thüringen. Von Jörn Boewe und Johannes Schulten

Magazin Mitbestimmung, 11/2013

Wer wissen will, wie dicht Aufstieg und Fall der deutschen Solarindustrie beieinanderliegen, sollte ins thüringische Arnstadt fahren. Hinter dem Fußballstadion des SV Rudisleben, dessen morbider Charme nicht recht zu seinem martialischen Namen „Manfred-von-Brauchitsch-Kampfbahn“ passen will, biegt man am Lützer Feld in ein Gewerbegebiet ein, fährt bis zur Robert-Bosch-Straße und hält auf dem Parkplatz des mit Abstand größten Fabrikgebäudes, einer fast 300 Meter langen, silbergrauen Halle.

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Reichtum – jetzt leichter zu knacken

Schweiz: Ist das Kommunismus oder die Rückkehr zu normalen Verhältnissen? Die Eidgenossen stimmen über eine Obergrenze für Managerbezüge ab

Von Jörn Boewe, Der Freitag, Ausgabe 47/13 vom 21. Nov.2013

Meister Rimmo holt etwas aus der Tasche, was wie eine Parkscheibe aussieht. „Hier“, sagt er, „kannst du deinen Monatslohn einstellen.“ Er dreht an der Scheibe, bis im oberen Fenster „7.000 CHF“ steht. Das sind 5.700 Euro – ein bisschen mehr als ein Werkzeugmacher bei Reishauer, einer Firma in Wallisellen bei Zürich, verdient. Unten, neben einem Bild von Brady Dougan, des Chefs der Bank Credit Suisse, erscheint die Angabe „9:35 min“. „Der hat früh noch nicht mal die Zeitung ausgelesen“, sagt Rimmo, „da hat er schon mehr kassiert als der Durchschnittsschweizer in einem ganzen Monat.“

„12 × mehr Lohn ist genug“, steht auf der roten Pappscheibe, mit der man im Handumdrehen sein Einkommen mit dem der Vorstände von Schweizer Großkonzernen wie Novartis und Nestlé vergleichen kann. Es handelt sich um die „Abzockeruhr“ der Unia, der größten Gewerkschaft des Landes – ein ziemlicher Renner unter den Werbematerialien der Volksinitiative „1:12 – Für gerechte Löhne“. Die Idee: Kein Topmanager soll in einem einzigen Monat mehr verdienen als der am schlechtesten bezahlte seiner Angestellten in einem Jahr. Am 24. November stimmen die Eidgenossen darüber ab, ob dies in die Verfassung aufgenommen wird. Initiiert haben das die Jungsozialisten, aber richtig Schwung bekam die Kampagne, als die Unia im Frühsommer einstieg.

Rimmo ist Lehrausbilder und Vertrauensmann der Gewerkschaft bei der Reishauer AG. Der mittelständische Betrieb hat, was Präzisionsmaschinen zur Produktion von Zahnrädern angeht, technologisch die Nase relativ weit vorn. Die Arbeit erfordert Verstand und Geschick und ist für Schweizer Verhältnisse gut bezahlt.
Hammer und Sichel

Die Debatten um „1:12“ werden mit der Erbitterung eines Kulturkampfes geführt. Unternehmerverbände, Mitte-Rechts-Parteien und neoliberale Professoren machen seit Wochen ein Geschrei, als werde der Kommunismus eingeführt. Auf einem Plakat der „1:12“-Gegner fährt ein Jungsozialist auf einer Dampfwalze mit roter Fahne und Hammer-und-Sichel-Symbol die Schweiz platt. In Wahrheit gehe es den Jusos „um die Abschaffung des kapitalistischen Systems“, schreibt das Blatt Finanz und Wirtschaft. Die Neue Zürcher Zeitung will gar herausgefunden haben, dass der „1:12“-Vorstoß von der „chinesischen Parteidiktatur“ inspiriert sei. Dabei wäre nur ein winziger Bruchteil der Unternehmen von der Regelung betroffen.

In 1.200 Schweizer Firmen genehmigt sich der Chef mindestens zwölfmal mehr als der am schlechtesten bezahlte Mitarbeiter, ergab eine jüngst veröffentlichte Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Dies betreffe Großbanken, Versicherungen, Handelskonzerne, Pharmariesen und Consultingagenturen. Reishauer gehört nicht dazu, genau wie mehr als 300.000 andere Unternehmen. Im Schnitt liegen höchste und niedrigste Entgelte nur um das 2,2-fache auseinander. Gerade einmal 4.400 Spitzenverdiener – in einem Land mit acht Millionen Einwohnern – müssten das Limit hinnehmen und künftig mit einem Jahreseinkommen von etwa einer halben Million Franken über die Runden kommen.
Die dunkle Seite: Prekarisierung

Nach einer Studie der Gewerkschaft Unia hat sich die Lohnschere in den 41 größten Konzernen des Landes 2012 weiter geöffnet, und zwar von 1:120 im Vorjahr auf 1:135. 1986 gab es noch ein Verhältnis von 1:6. Die vermeintlichen Revolutionäre sehen „1:12“ deshalb als Rückkehr zu Verhältnissen, wie sie noch Anfang der neunziger Jahre als normal galten. „Überrissene“ Jahresgehälter wie die von Dougan (91 Millionen Franken), UBS-Chef Andrea Orcel (26 Millionen) oder Novartis-CEO Joseph Jimenez (13,2 Millionen) sind ein relativ neues Phänomen.

Die Kehrseite sind ausfransende Arbeitsverhältnisse am unteren Rand: Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit, Prekarisierung. Erst Ende Oktober legte die Unia eine Baustelle am Hauptbahnhof in Zürich für zwei Tage lahm und erzwang die Nachzahlung vorenthaltener Löhne in Höhe von 700.000 Franken. Eine Spezialbaufirma hatte 30 polnische Arbeiter als Scheinselbstständige über Monate zu Niedrigstlöhnen beschäftigt. Bei der Gewerbeaufsicht waren sie als „Tomatenbauern“ gemeldet.

Letzten Umfragen zufolge liegen Befürworter und Gegner der Initiative gleichauf. Nestlé hat seine Mitarbeiter gewarnt, eine Annahme würde der Wettbewerbsfähigkeit schaden und „unser so erfolgreiches Gesellschaftsmodell grundlegend in Frage stellen“. Großbanken streuen Gerüchte über Abwanderungspläne.
Getrieben von Neid und Missgunst?

Schweizer Einkommensmillionäre ahnen, dass die „1:12“-Initiative nur „die Spitze des Eisbergs ist“, wie Urs Birchler, Professor am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich, im wirtschaftsliberalen Blog batz.ch schreibt. „Es kommt nämlich noch einiges, etwa Mindestlohninitiative, bedingungsloses Grundeinkommen.“ In der Tat stimmen die Schweizer 2014 darüber ab, ob ein Mindestlohn von 4.000 Franken in der Verfassung verankert wird, ein weiteres Referendum könnte Steuerprivilegien für ausländische Multimillionäre abschaffen. 2015 dann könnte über ein bedingungsloses Grundeinkommen entschieden werden.

Auch dürfte den selbsternannten Leistungsträgern noch der Schreck der „Abzocker-Initiative“ des parteilosen Ständerats und Unternehmers Thomas Minder in den Knochen stecken. Zwei Drittel der Wähler hatten im März für ein Verbot von Vorauszahlungen und Abgangsentschädigungen („goldener Fallschirm“) für Manager börsennotierter Aktiengesellschaften votiert.

Sind die Schweizer „getrieben von Neid und Missgunst“, wie alarmierte konservative Nachwuchspolitiker jüngst behaupteten? Rimmo lacht. Er arbeitet schon sein halbes Leben lang in einem Industriebetrieb, der die Welt seit 1788 mit Präzisionswerkzeugen beliefert. Dieser Mann ist nicht neidisch – er ist zu beneiden. „Uns geht es gut“, sagt er, „und ich bin dankbar dafür. Aber wir müssen aufpassen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.“ Diese Haltung beunruhigt die Gegner der „1:12-Begehrens“.

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„Die große Zeit liegt noch vor uns“

Eicke R. Weber, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg, über die richtige Industriepolitik für eine Zukunftstechnologie. Das Gespräch führten Jörn Boewe und Johannes Schulten.

Magazin Mitbestimmung, 11/2013

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz fördert indirekt den Verkauf von Solaranlagen, egal wo sie produziert wurden. Haben also die deutschen Stromkunden über ihre EEG-Umlage die chinesischen Billiganbieter subventioniert und dazu beigetragen, dass bei uns Industriearbeitsplätze vernichtet wurden?

Das sehe ich anders. Erst durch das EEG wurde in Deutschland ein Markt für Photovoltaik (PV) geschaffen mit der Folge, dass heute unsere PV-Technologien weltweit führend sind. Für den Aufbau einer Photovoltaik-Industrie erhielten die ostdeutschen Bundesländer Geld aus der EU-Regionalförderung, während man in China die Regionen in einen Wettbewerb brachte, was dort zu einer gigantischen Überkapazität führte. Was wir dabei nicht vergessen dürfen: Der größte Teil der in Asien errichteten Produktionsanlagen wurde in Deutschland geordert. Es waren Firmen wie Centrotherm, Roth und Rau, RENA oder M&B, die Aufträge in einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro für China erledigt haben. Für die deutschen Anlagenbauer war das ein Riesengeschäft. Und die produzierten Module wurden dann vor allem nach Deutschland exportiert.

Von einem chinesischen Dumping, von dem in Deutschland oft die Rede ist, wollen Sie also nicht sprechen?

Ich meine nein. Das Dumping bestand höchstens darin, dass die Chinesen Industriepolitik betrieben haben, indem sie preisgünstige Kredite für den Fabrikbau zur Verfügung stellten, was allerdings hier in kleinerem Maßstab auch in Ostdeutschland gemacht wurde.

Seither sind viele deutsche Modulbauer in die Insolvenz gegangen, kaum jemand arbeitet kostendeckend. Ist unsere heimische Solarindustrie noch zu retten?

Das Problem ist, dass ein Großteil der deutschen Hersteller nicht in der Lage ist, zu den jetzigen, niedrigen Modulpreisen zu produzieren. Das ist auf Dauer kein Geschäftsmodell. Jetzt ist die große Frage: Bleiben wir am Ball und entwickeln für den Weltmarkt eine neue Generation von Solarproduktionsanlagen – hochautomatisiert, neueste Technologie, hocheffizient, im Gigawattmaßstab? Wenn wir unsere Karten richtig spielen, haben wir eine reelle Chance, für diese zweite Generation von Photovoltaik-Produktionstechnologie die Anlagen zu liefern. Wir dürfen nicht den Fehler machen, den wir in der Mikroelektronik begangen haben: Wesentliche Erfindungen kamen aus Europa. Am Schluss ging die Produktion jedoch in Richtung USA und dann später nach Japan, Korea und Taiwan. Um das zu verhindern, brauchen wir eine systematische Industriepolitik.

Eine systematische Industriepolitik für das Geschäftsfeld der erneuerbaren Energien ist aber derzeit nicht zu erkennen.

Wir sind ganz am Anfang, etwa wie die Autoindustrie im Jahre 1910. Die große Zeit liegt noch vor uns. Die Photovoltaik beginnt, sich weltweit als preiswerteste Art der Stromerzeugung durchzusetzen, der Strombedarf wird enorm steigen, und wir haben beim Solarstrom – das zeigen unsere Berechnungen – ein riesiges Wachstumspotenzial. Der Solarmarkt ist also ein embryonaler Markt im Gegensatz zu dem, was wir in einigen Jahren haben werden. Wir haben zwar mit dem EEG Anschubkosten übernommen und unsere Stromrechnung erhöht. Aber jetzt, wo es spannend wird, will jetzt die Politik etwa aussteigen?

Was sollte sie tun?

Wir brauchen europäische Instrumente, um den Unternehmen zinsgünstige Kredite zu garantieren. Die Solarindustrie braucht Geld, um durch das Tal der Tränen zu kommen. Aber das Kapital ist seit der Lehman-Pleite risikoscheu geworden Hier muss die Politik eingreifen. Das kann über Kreditversicherungen geschehen. Die Frage ist doch: Welchen Branchen billigen wir das zu und welchen nicht? Der neue Airbus wäre ohne eine milliardenschwere Kreditausfallversicherung auch nicht gebaut worden.

Glauben Sie, dass die höheren Arbeits- und Sozialstandards in der Europäischen Union ein Standortnachteil sind?

Nein, überhaupt nicht. In der heutigen Photovoltaik-Produktion machen Lohnkosten nur noch fünf Prozent der Gesamtkosten aus. Selbst wenn die Beschäftigten in China zum Nulltarif arbeiten würden, ergäbe sich nur ein geringer Vorteil, der direkt wieder durch die Transportkosten kompensiert würde. Der große Standortvorteil in Asien ist die Verfügbarkeit von Investmentkapital. Und diesen haben die PV-Werke in Malaysia, in Indonesien oder in China, also überall dort, wo die Regierung sagt: Wir wollen diese Arbeitsplätze, wir wollen diese Industrie aus strategischen Gründen.

Viele Sorgen macht die Kostenexplosion beim Strom, sie wird dem EEG und dem angeblich unkontrollierten Ausbau der erneuerbaren Energien zugeschrieben. Sind Wind- und Solarenergie unsozial?

Der große Irrtum, der in die Welt gesetzt wurde, ist, dass der Strompreis bei weiterem Zubau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen weiter steigen wird. Das ist absolut falsch. Von der EEG-Umlage, die im nächsten Jahr bei 6,24 Cent liegen wird, sind nur 0,18 Cent für den Zubau von weiteren PV- und Windanlagen gedacht. Der Rest ist darauf zurückzuführen, dass immer mehr Unternehmen von der Umlage befreit wurden und dass der Strompreis an der Strombörse EEX in Leipzig so stark gesunken ist.

Dadurch ist auch das EEG-Umlagekonto ins Minus gerutscht. Anfang des Jahres war es um zweieinhalb Milliarden Euro überzogen. Das muss durch den Stromverbraucher ausgeglichen werden.

Wir sollten nach vorne schauen, statt zu lamentieren. Die Einspeisevergütung ist jetzt gesenkt worden, für Solarenergie liegt sie bei zehn Cent pro Kilowattstunde für große Anlagen. Bei einem Haushaltsstrompreis von 25 Cent pro Kilowattstunde wird damit der Eigenverbrauch sehr viel interessanter. Die Energiewende wird uns nicht mehr viel zusätzliches Geld kosten. Sie wird dazu führen, dass wir die Energieversorgung Deutschlands in den nächsten zehn bis 20 Jahren auf regenerative Energien umstellen können, anstatt die Rohstoffe teuer einzukaufen.

Die Industrie ächzt über die Strompreise, weil in den USA oder Frankreich der Strom viel billiger ist.

Wenn wir wirklich Geld bei der EEG-Umlage einsparen wollen, sollten wir den Kreis der ausgenommenen Firmen wieder schärfer auf die energieintensiven Firmen konzentrieren, die im internationalen Wettbewerb stehen und daher große Probleme mit steigenden Energiepreisen haben. Aber auch für diese Firmen sollten wir eine Umlage von einem Cent pro Kilowattstunde erheben, das entspricht dem Betrag, um den die Industriestrompreise besonders durch die verstärkte Einspeisung von Sonnen- und Windstrom gefallen sind. Es ist nicht einzusehen, dass die energieintensive Industrie von der Energiewende erheblich profitieren soll, und alle anderen Verbraucher müssen dafür eine höhere Rechnung zahlen.

Die deutsche Energiewende setzt auf Kohle als Brückentechnologie. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Das Unangenehme ist, dass die Stromversorger aus den Kohlekraftwerken noch unheimlich gute Gewinne ziehen können. Das sind Gelddruckmaschinen. Die Anlagen sind größtenteils abgeschrieben, und weil der Ausstoß von CO2 praktisch nichts kostet, ist die Kohleverstromung sehr preiswert. Den Entschluss des schwedischen Vattenfall-Konzerns, aus der Kohle auszusteigen, finde ich sehr erfreulich. Aber das ist die Entscheidung eines einzelnen Unternehmens. Wir sollten versuchen, eine gesamtgesellschaftliche Umstellung in Gang zu bringen. Und das funktioniert nur, wenn die Emission von klimaschädlichem CO² teurer wird.

»Emanzipation bedeutet, nicht Objekt, sondern Subjekt zu sein«,

schreibt Detlef Wetzel, der Mann, der am kommenden Sonntag für den Vorsitz der größten Gewerkschaft der Welt antritt. »Man wird nicht behandelt, sondern man handelt.« Ein Credo, das wir nur unterschreiben können. Dies und mehr findet sich in dem dieser Tage beim Hamburger VSA-Verlag erscheinenden Buch »Organizing«, an dem wir mit mehreren Beiträgen beteiligt sind. Hier gibt’s eine Leseprobe, Inhalts- und Autorenverzeichnis.

Keine Angst vorm Konflikt

Für die schweizerische Unia geht Gewerkschaftsarbeit weit über das Aushandeln von Tarifverträgen hinaus

Von Jörn Boewe, neues deutschland, 15. Nov. 2013

Die Unia, mit 200 000 Mitgliedern größte Gewerkschaft der Schweiz, verbindet erfolgreich Basisarbeit am Arbeitsplatz mit gesellschaftspolitischen Kampagnen.

Eine kantige rote Faust, flankiert von Hammer und Sichel, zerschmettert die kleine Schweiz. »Arbeitsplätze vernichten? Nein!« steht auf dem Plakat, das in einem Stil gestaltet ist, der an die Zeit des Kalten Krieges erinnert. Wer dieser Tage in der Eidgenossenschaft unterwegs ist, kann dieses oder ähnliche Plakate nicht übersehen. Am 24. November stimmen die acht Millionen Wahlberechtigten in dem kleinen Bundesstaat darüber ab, ob künftig eine Höchstgrenze für Managergehälter in der Verfassung verankert wird. »1:12« heißt die Initiative, ihre Idee: Kein Chef soll im Monat mehr verdienen als der schlechtbezahlteste seiner Angestellten in einem ganzen Jahr.


Initiiert wurde die Kampagne von der Jugendorganisation der Schweizer Sozialdemokraten. Richtig Fahrt nahm sie auf, als im Frühsommer 2013 die größte Gewerkschaft des Landes einstieg – die 200 000 Mitglieder zählende Unia. Ihre Aktivisten begannen, in Betrieben und auf der Straße für die Abstimmung zu werben, sie gaben der Kampagne ein radikales, angriffslustiges Gesicht.

Besonders gut kam etwa ihre »Abzockeruhr an«, eine Art Parkscheibe, mit der man im Handumdrehen sein Einkommen mit dem der Vorstandschefs von Schweizer Großkonzernen wie UBS, Novartis und Nestlé vergleichen kann. Wenn ein Facharbeiter für 5000 Schweizer Franken einen Monat arbeiten muss, schafft Brady Dougan, der Chef der Credit Suisse, das in nicht mal sieben Minuten. So einfach kann man soziale Ungerechtigkeit auf den Punkt bringen.

»Wir begnügen wir uns nicht damit, in jedem neuen Jahr die Löhne zu verhandeln und einen Tarifvertrag abzuschließen , sagt Roman Burger, Geschäftsleiter der Unia Zürich-Schaffhausen. »Wir sehen uns als eine Organisation, die in einem weiten Kontext für soziale Gerechtigkeit einsteht, sich in politische Diskussionen einmischt und diese mitprägt.« Das Schweizer System der direkten Demokratie begünstigt diesen Ansatz. So konnte die Gewerkschaft mehrfach Beschlüsse des Parlaments kippen, etwa die Rentenreform 2009, die zu einer rund zehnprozentigen Kürzung der Pensionszahlungen geführt hätte.

Möglich wurde dies auch, weil die 2004 als Zusammenschluss mehrerer Gewerkschaften der Branchen Bau, Industrie, Handel und Dienstleistung gegründete Unia auf systematische Basisarbeit setzt. »Von einer Gewerkschaft der Hochkonjunktur zur Gewerkschaft für raue Zeiten«, lautet ihr Motto. Dass das mehr ist als ein schöner Werbespruch, konnte die Unia jüngst bei einem Konflikt auf der Großbaustelle des Züricher Hauptbahnhofs beweisen. Ein von der Schweizer Bundesbahn SBB beauftragtes Spezialbauunternehmen hatte 30 polnische Bauarbeiter beim Bau einer Brandschutzanlage monatelang als Scheinselbständige zu Stundenlöhnen zwischen umgerechnet fünf und elf Euro beschäftigt. Nachdem die Unia Generalunternehmer und Auftraggeber im Oktober mit den Vorwürfen konfrontierte, wurden die Arbeiter über Nacht nach Polen zurückgeschickt. Daraufhin legte die Gewerkschaft die Baustelle still, holte die Arbeiter zurück und ließ sie ihre Geschichte auf einer Pressekonferenz berichten. Zwei Tage blieb die Arbeit liegen, dann erklärte sich das Unternehmen bereit, vorenthaltene Löhne in Höhe von 700 000 Franken nachzuzahlen.

»Präsenz an den Arbeitsplätzen« sei seit Jahren eine Stärke seiner Organisation, meint Burger. »Unsere Sekretäre verbringen ihre Arbeitszeit fast ausschließlich draußen bei den Beschäftigten.« Allerdings habe dies noch keine »tiefe Verwurzelung in den Strukturen der Belegschaften« bedeutet, räumt er ein. Deshalb setze die Unia jetzt darauf, in strategisch wichtigen Betrieben, Netzwerke von Vertrauensleuten aufzubauen. »Ziel ist es, dass diese dann am ›Tag X‹ ihre Leute mitnehmen können und dafür sorgen, dass der gesamte Betrieb tatsächlich in den Streik tritt«.