„Geld ist nicht alles“

… ist der Titel eines Artikels im heute erschienenen Freitag, in dem wir erklären, warum der Arbeitskampf von ver.di an der Berliner Charité eine „Tarifbewegung neuen Typs“ ist: Zum ersten Mal ist eine  Gewerkschaft bereit, für eine ausreichende Personalbesetzung in einem Krankenhaus in den Streik zu treten.

Außerdem im neuen Hintergrund Nachrichtenmagazin ein Text über „Die Ohnmacht der Konsumenten“, Sinn und Unsinn von Öko- und Fair-Textillabels, ein Jahr nach dem Einsturz des Rana Plaza Hochhauses in Bangladesh (ab 8.4. im Handel).

Spiel ohne Risiko

Investitionsschutz: Wie internationale Finanzanleger europäische Krisenstaaten mit Hilfe privater Schiedsgerichte ausplündern

Von Jörn Boewe, junge Welt, 25. März 2014

Die Kritik an der geplanten Investitionsschutzklausel im seit Frühjahr 2013 verhandelten Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) bereitet der Europäischen Kommission Probleme. Eine für Mitte März angekündigte öffentliche Anhörung, mit der Brüssel auf die Argumente der Kritiker eingehen wollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Statt dessen will Handelskommissar Karel De Gucht in dieser Woche ein 41seitiges Papier vorstellen, das »Vorbehalte« der Kritiker ausräumen soll, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Montagausgabe). De Gucht werde Vorschläge präsentieren, wie die EU den geplanten Investitionsschutz begrenzen und transparenter gestalten will, so das Blatt. Derartige Schutzklauseln in internationalen Handelsabkommen geben Unternehmen die Möglichkeit, vor privaten Schiedsgerichten Entschädigungen gegen Staaten zu erstreiten, wenn sie sich durch neue Gesetze benachteiligt oder unfair behandelt fühlen.

Bisher bestand die Linie der Kommission eher in der Bagatellisierung der Kritik. So war etwa in einem Positionspapier vom November die Rede von »Meinungsäußerungen«, in denen »die Befürchtung laut wurde, daß die Investitionsschutzbestimmungen sich nachteilig auf das Regulierungsrecht der Staaten auswirken könnten«.

Lizenz zum Kasse machen

Tatsächlich geht es weniger um Meinungsfragen als um reale Erfahrungen mit bereits bestehenden Investitionschutzklausen aus früheren bi- und multilateralen Abkommen. Wie derartige Klauseln derzeit von Finanz­investoren gegen europäische Krisenstaaten in Stellung gebracht werden, zeigt eine aktuelle Untersuchung der Nichtregierungsorganisationen Transnational Institute und Corporate Europe Observatory. Danach droht sich die Sozialisierung der Bankenverluste im Zuge der Finanzkrise von 2007/2009, die zur europäischen Staatsschuldenkrise führte, zu wiederholen – diesmal unmittelbar zugunsten institutioneller Anleger, die EU-Mitgliedstaaten vor privaten Schiedsgerichten auf entgangene Profite aus hochspekulativen Investments verklagen.

Dem Mitte März veröffentlichten Report »Profiting from crisis« zufolge, verlangen Finanzinvestoren vor privaten internationalen Schiedsgerichten mindestens 1,7 Milliarden Euro Entschädigung von Griechenland, Spa­nien und Zypern für Maßnahmen, die diese Länder zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise ergriffen haben. Zu den Klägern gehört die slowakische Postova-Bank: Sie hatte 2010 griechische Staatsanleihen im Nennwert von 500 Millionen Euro billig gekauft, zu einem Zeitpunkt als diese von der Ratingagentur Standard & Poor’s bereits als »Schrott« eingestuft worden waren. Zwei Jahre später bot die griechische Regierung ihren Gläubigern einen Schuldenschnitt (»haircut«) an. Dies war eine der Bedingungen, die die »Troika« aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission im Gegenzug für weitere Finanzhilfen verlangt hatte. Anstatt auf den Deal einzugehen und einen Teil ihrer hochspekulativen Anlagen abzuschreiben, strengte Postova eine Klage auf der Grundlage eines bilateralen slowakisch-griechischen Investitionsschutzabkommens an, die Höhe der Forderung ist nicht bekannt.

Detaillierte Informationen liegen über das Verfahren vor, das der in Griechenland ansässige Kapitalanleger Marfin Investment Group gegen Zypern anstrengt. Marfin war von 2006 bis 2013 Hauptanteilseigner des zweitgrößten zypriotischen Geldinstituts, der Laiki-Bank, die zeitweise Marfin-Popular-Bank hieß. Diese war 2012 in schwere Schieflage geraten, u.a. weil sie zuvor engros griechische Staatsanleihen aufgekauft hatte. 2013 nahm Zypern ein Hilfspaket der Troika an und verstaatlichte die Laiki-Bank. Daraufhin strengte Marfin eine Investorenschutzklage gegen Zypern an. Die Forderung in dem anhängigen Verfahren beläuft sich auf 823 Millionen Euro.

Hohe Dunkelziffer

Rund 700 Millionen Euro verlangen indessen 22 internationale Anleger, vor allem institutionelle Finanzinvestoren, vom spanischen Staat für entgangene Gewinne aus ihren Solarinvestitionen. Als eine Maßnahme im Zuge der Krise von 2008 hatte die Regierung die Einspeisetarife für Strom aus Photovoltaikanlagen drastisch abgesenkt. Zahlreiche inländische Kleinanleger waren betroffen, aber im Gegensatz zu den Beteiligungsfonds mit Sitz außerhalb Spaniens hatten sie kaum Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Die ausländischen Investoren verklagten den Staat auf Schadenersatz in einer Vielzahl von Verfahren aufgrund des Investitionsschutzkapitels im internationalen Energiecharta-Vertrag.

Die drei in der Studie angeführten Beispiele seien nur »die Spitze des Eisbergs«, schreiben die Autorinnen Pia Eberhardt und Cecilia Olivet. Viele Verfahren gelangten der Öffentlichkeit gar nicht zur Kenntnis. Die Risiken des »Investor-Staat-Klagesystems« würden dennoch deutlich: »Schon heute nutzen spekulative Investoren Investitionsabkommen, um die knappen Staatskassen der verarmten europäischen Krisenländer weiter zu plündern«, so Pia Eberhardt von Corporate Europe Observatory. »Es wäre politischer Wahnsinn, Konzernen in dem noch weiterreichenden geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen dieselben überzogenen Rechte einzuräumen.«

Weltweit sind derzeit etwa 3000 Investitionsschutzabkommen in Kraft. Bislang wurden 512 Fälle von Investor-Staat-Klagen bekannt, die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Laut Statistik der UNO-Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD steigt die Zahl sogenannter Investor-Staat-Klagen seit Mitte der 90er Jahre rapide an. Im Jahr 2012, dem letzten, für das statistische Daten vorliegen, wurden 58 neue Verfahren eröffnet. Dies war ein neuer, aber sicher kein endgültiger Rekord.

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Wagnis für wenig Wachstum

Befürworter der Transatlantischen Freihandels- und Investitionspartnerschaft werfen Kritikern Panikmache vor. Doch Erfahrungen mit vergleichbaren Abkommen zeigen: Die Warnungen sind berechtigt.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung 03/2014

Das Chlorhuhn bewegt. Es ist zum Wappentier der Gegner der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) geworden. Seit Mitte vergangenen Jahres verhandelt die EU-Kommission mit den USA über den Abschluss eines Abkommens, das Zugangsbarrieren für die jeweiligen Märkte senken, Investitionen langfristig absichern und eine Schiedsgerichtsbarkeit installieren soll, vor der Investoren ihre Ansprüche aus dem Abkommen durchsetzen können sollen. Nicht nur diese Schiedsverfahren sollen geheim ablaufen. Auch aus den laufenden Verhandlungen wurde die Öffentlichkeit bislang ausgeschlossen. Sogar Inhalte und Zielrichtung der Gespräche sowie die Zusammensetzung der Verhandlungsgruppe wurden unter Verschluss gehalten – bis es engagierten NGO-Aktivisten gelang, einige Dokumente zu „leaken“.

SKEPSIS BEIM DGB WÄCHST

Die EU-Kommission selbst hat bislang außer optimistischen Prognosen und Statements zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung nichts Konkretes veröffentlicht. „Die TTIP hat Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Ziel“, heißt es auf ihrer Internetseite. Sie könnte „die Wirtschaft der EU um 120 Milliarden Euro“ ankurbeln und „Hunderttausende neue Arbeitsplätze kreieren“. Gelingen soll dies durch die Angleichung unterschiedlicher „Regelwerke, Normen und Zulassungsverfahren“.

Das klingt so plausibel wie harmlos nach DIN und TÜV und Blauer Engel, und fast schien es, als könne keiner etwas dagegen haben. Aber dann hielt Anfang Januar jemand das Chlorhuhn hoch: Um Salmonellen und andere Keime im Hühnchenfleisch abzutöten, dürfen US-Farmer ihr Geflügel in einer Lauge aus Chlordioxid und Natriumchlorit desinfizieren. Nach Europa dürfen die Giftcocktail-Chicken bislang nicht eingeführt werden – doch das würde sich mit der TTIP ändern. Ein Aufschrei ging durch Europa! Was die Argumente der Freihandelskritiker von Attac und NGOs nicht fertiggebracht hatten – das Chlorhuhn rüttelte die Öffentlichkeit wach.

Doch nicht nur Verbraucher- und Umweltschutzstandards kämen durch die TTIP unter Druck, befürchten die Kritiker. Auch Arbeitsschutzbestimmungen und Beschäftigtenrechte sind bedroht. Nach der Logik der Freihandelsdoktrin gelten sie letztlich als „nichttarifäre Handelsbarrieren“, die den Marktzugang erschweren oder Gewinnerwartungen schmälern können. Mitte Januar traten deshalb 60 Gewerkschafter und Intellektuelle mit einem Appell an die Öffentlichkeit, der vor einem Abbau von Arbeitnehmerrechten durch die TTIP warnte. Die Initiatoren, darunter der Publizist Werner Rügemer und der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, fürchten, der Vertrag würde die Koalitionsfreiheit beschneiden und Arbeitsstandards absenken. So hätten die USA „sechs von acht Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht ratifiziert“, heißt es in dem Aufruf.

Ähnlich kritisch hatte sich bereits im Frühjahr vorigen Jahres der DGB geäußert. Die „Vereinheitlichung von Standards und Normen“ dürfe „nicht zulasten des Gesundheits-, Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutzes“ gehen, forderte der DGB. Zwar seien Wohlfahrtseffekte, die sich aus einem Handelsabkommen ergeben könnten, zu begrüßen. Gleichwohl warnte der DGB vor „übertriebenen Erwartungen“. „Wir waren damals skeptisch“, sagt Florian Moritz, Leiter des Referats Internationale und Europäische Wirtschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand, „und unsere Skepsis ist seitdem gewachsen.“

FRAGWÜRDIGE MODELLRECHNUNGEN

Übertrieben wird in der Tat, und zwar systematisch und mitunter erstaunlich plump. So behauptet die EU-Kommission auf ihrer Internetseite, dass „nach vollständiger Umsetzung dieses Abkommens (…) ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent BIP“ zu erwarten sei. Abgesehen davon, dass es sich bei dem „unabhängigen Bericht“, auf den sich die Kommission beruft, um eine von ihr in Auftrag gegebene Studie des Londoner Centre for Economic Policy Research (CEPR) handelt, sind die Zahlen falsch interpretiert. Bei einer sehr weitreichenden Liberalisierung erwartet das CEPR bis 2027 in der EU ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,48 Prozent – allerdings nicht jährlich, sondern insgesamt. Das entspräche einem jährlichen Effekt von gerade mal 0,03 Prozent.

„Die Wachstumseffekte sind klein und der Beschäftigungszuwachs winzig“, sagt Sabine Stephan vom IMK in der Hans-Böckler-Stiftung. Die Ökonomin hat die drei vorliegenden Studien zu den erwarteten Effekten der TTIP untersucht. Neben der des CEPR gibt es zwei Untersuchungen des Ifo-Instituts München – eine im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, die andere im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Obwohl derartige Modellrechnungen lediglich mehr oder weniger wahrscheinliche Entwicklungen simulieren, werde der Eindruck erweckt, man hätte exakte und verlässliche Berechnungen. Wie sehr die Ergebnisse von politischen Wunschvorstellungen beeinflusst sind, verdeutlichen die Jobprognosen: Während Bertelsmann 180 000 zusätzliche Arbeitsplätze sieht, kommt das Regierungsgutachten nur auf 25 000. Der Grund: In der Studie für die Bundesregierung verrechnet das Ifo Beschäftigungsauf- und -abbau, in der Bertelsmann-Studie hingegen nicht. Doch selbst bei den 180 000 neuen Jobs der Bertelsmann-Studie handelt es sich wieder um den Gesamteffekt; der Beschäftigungsaufbau pro Jahr beläuft sich auf weniger als 13 000 neue Jobs.

In der Leitbranche Fahrzeugbau etwa könnten laut Bertelsmann 12 143 Arbeitsplätze entstehen – innerhalb von 15 Jahren. „Wir sollten zwar jeden neuen Arbeitsplatz begrüßen, doch das Risiko der TTIP ist enorm hoch“, sagt Beate Scheidt von der Abteilung Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik der IG Metall: „Die geringen Effekte sind das Wagnis nicht wert.“

REGRESSPFLICHT DES STAATES?

Und was ist von der geplanten Investitionsschutzklausel zu halten? Können ausländische Unternehmen künftig eine europäische Regierung etwa wegen der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns vor einem nichtöffentlichen Schiedsgericht auf Schadenersatz verklagen? Derartige Verfahren sind im Kontext anderer Freihandelsabkommen längst Realität. So fordert der französische Mischkonzern Veolia derzeit von der ägyptischen Regierung eine Kompensationszahlung von 82 Millionen Dollar wegen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Anhängig ist auch eine Forderung von Vattenfall gegen die Bundesrepublik. Wegen des Atomausstiegs will der schwedische Energieriese über eine Milliarde Euro Schadenersatz. Laut Statistik der UNO-Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD steigt die Zahl sogenannter Investor-Staat-Klagen seit Mitte der 90er Jahre an. 2012 wurden 58 neue Klagen erhoben – ein neuer Rekord. Bislang wurden 512 solcher Verfahren bekannt. In 70 Prozent der Fälle bekam der Investor Recht.

Als Reaktion auf die Kritik hat Wettbewerbskommissar Karel de Gucht nun angekündigt, das geplante Investitionsschutzkapitel im März offenzulegen. Die Debatte dürfte damit nicht beendet sein, im Gegenteil. „Wenn die Klausel so rigoros wie beabsichtigt implementiert wird, müssen wir uns dagegenstellen“, sagt IG-Metallerin Scheidt. „Das dürfen wir nicht zulassen.“

Mehr Informationen

Präsentation der IMK-Ökonomin Sabine Stephan: http://bit.ly/1hPAbeI

Schritt für Schritt zur kollektiven Aktion

Etwa 50 eingetaktete Zulieferer machen rund um Leipzig die Handreichungen für BMW und Porsche – zum Billiger-Tarif und oft ohne Mitbestimmung und Betriebsrat. Die IG Metall trifft auf eine neue Generation von Facharbeitern, die das nicht mehr so einfach hinnehmen will.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 03/2014

Wie Kampfdroiden aus George Lucas‘ „Krieg der Sterne“ hängen die vormontierten Auspuffanlagen dicht gedrängt und hochkant in ihren Gestellen. Neben einer Säule in der Mitte der Fabrikhalle steht ein Drucker. Er summt und spuckt ein Blatt Papier aus. René Lange steht auf einer Empore oberhalb der Halle und schaut hinunter. „Der Drucker gibt den Takt vor, nach dem sich hier alles richtet“, sagt der 29-Jährige.

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»Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs«

Umfrage bei Gewerkschaftssekretären: Knapp zwei Drittel kennen Fälle von Betriebsratsbehinderungen durch Chefs

Heiner Dribbusch arbeitet am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Behrens hat er 184 Sekretäre aus DGB-Gewerkschaften zu ihren Erfahrungen mit Arbeitgebermaßnahmen gegen Betriebsräte befragt. Die Ergebnisse der Umfrage sollen am heutigen Montag vorgestellt werden. Mit Dribbusch sprach für »nd« Johannes Schulten.

neues deutschland, 10. März 2014

In letzter Zeit gab es immer wieder Berichte über Unternehmer, die gegen gewerkschaftlich aktive Beschäftigte vorgehen. Sie haben eine der ersten empirischen Studien zu dem Thema durchgeführt. Handelt es sich um einen neuen Trend oder ist die Aufmerksamkeit der Medien gestiegen?

Ich denke es ist beides. Zum einen gibt es sicherlich eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Medien. Das hat beispielsweise mit den Auseinandersetzungen im Rahmen der ver.di-Kampagne bei Lidl um 2010 zu tun. Das Unternehmen war in die Kritik geraten, gegen Betriebsratswahlen vorzugehen. Ob es wirklich jedoch eine Zunahme von Unternehmensaktivitäten gegen aktive Gewerkschafter gibt, können wir nicht sagen. Denn es gibt keine Langzeitstudien. Von den von uns befragten 184 Gewerkschaftssekretären, kennen 59 Prozent Fälle, in denen Unternehmer versucht haben, die Gründung einer Arbeitnehmervertretung zu verhindern. Was wir sehen, ist die Spitze eines Eisberges, ohne aber sagen zu können, was noch unter dem Wasser ist.

Sie sagen, die Großzahl der Angriffe richtet sich gegen Betriebsratsgründungen. Gleichzeitig haben Betriebsräte hierzulande ein positives Image. Bernd Osterloh steht genauso für den Erfolg von VW wie das Management. Wie passt das zusammen?


Wir müssen zunächst einmal feststellen, dass es nur in neun Prozent aller Betriebe, die einen Betriebsrat wählen können, auch eine Interessenvertretung gibt. Das hat stark mit der Größe zu tun. In Großbetrieben gibt es in der Regel einen Betriebsrat, in Kleinbetrieben so gut wie nie. Widerstand seitens der Unternehmen gibt es relativ häufig im Bereich der Betriebe mit 100 bis 200 Beschäftigten. Und es verstärkt sich bei denen, die inhabergeführt sind. Hier gibt es oft die Haltung: Mitbestimmung sei zu teuer, unnötig und überhaupt eine unzulässige Einmischung.

Ist dies der alleinige Grund für die geringe Verbreitung?


In vielen Kleinbetrieben gibt es auch deshalb keinen Betriebsrat, weil weder Beschäftigte noch Gewerkschaften aktiv werden. In welchem Umfang dabei ein gewerkschaftsfeindliches Klima eine Rolle spielt, wissen wir nicht.

Zu welchen Maßnahmen greifen Unternehmer, die Mitbestimmung verhindern wollen?

Am weitesten verbreitet ist Druck auf die Kandidaten. Das kann über Drohungen und Einschüchterungen geschehen, aber auch über das Angebot von Vergünstigungen bis hin zu Geldzahlungen. Die Verhinderung der Bildung eines Wahlvorstandes ist ebenfalls nicht selten.

Haben Sie Branchenunterschiede feststellen können? Der Großteil der aus den Medien bekannten Fälle kommt aus dem Einzelhandel?

Genaue Aussagen über Branchenunterschiede können wir auf Basis unserer Daten nicht sicher treffen. Der Einzelhandel ist aber vermutlich mit oben dabei. Zum einen gibt es einige Konzerne, wie die Schwarz-Gruppe, zu der Lidl gehört, die keine Betriebsräte wollen. Dann ist die Branche sehr kleinbetrieblich geprägt. Zudem gibt es viele inhabergeführte Läden. Aber auch im Bereich der IG Metall hat es einige spektakuläre Fälle gegeben, etwa beim brandenburgischen Polarzulieferer HatiCon oder dem Trierer Elektroausrüster Natus.

In den USA wird von »Union Busting« gesprochen – also von bewussten Initiativen der Unternehmer zur Zerschlagung von Gewerkschaften. Trägt der Begriff auch für die hiesigen Verhältnisse? Es ist kaum zu erwarten, dass die IG Metall in existenzielle Nöte gerät, weil ein Unternehmer eine Betriebsratswahl verhindert.

Union Busting ist ein Begriff, der auch im gewerkschaftlichen Sprachgebrauch verwendet wird. Dabei geht es in Deutschland sicher nicht um die Zerschlagung der Gewerkschaften selbst, sehr wohl aber darum, zu verhindern, dass Gewerkschaften in bisher unorganisierten Betrieben Fuß fassen. Das ist sicher ein Motiv hinter der Verhinderung von Betriebsratswahlen. Denn generell gilt für Deutschland: Nur dort, wo es auch einen Betriebsrat gibt, verfügen Gewerkschaften über nennenswerte Präsenz.

Welche Rolle spielen sogenannte »Union Buster«, also auf die Verhinderung von Betriebsratswahlen spezialisierte Anwaltskanzleien?

Unsere eigenen Befunde deuten bislang darauf hin, dass hier möglicherweise ein Markt im Entstehen begriffen ist. Allerdings erweist sich der Marktanteil der einschlägig bekannten Kanzleien, wie die des Düsseldorfer Anwalts Helmut Naujoks, als noch sehr begrenzt. Werden Juristen hinzugezogen, handelt es sich oft um die örtlichen Hausanwälte der Arbeitgeberverbände.

Benötigen wir besseren gesetzlichen Schutz für Betriebsratswahlen?

Alle von uns festgestellten Maßnahmen gegen Betriebsratswahlen sind gesetzlich unzulässig. Es gibt aber so gut wie keine Verfahren, auch weil die Staatsanwaltschaften »mangels öffentlichem Interesse« oft einstellen. Hier wäre die Bildung von spezialisierten Schwerpunktstaatsanwaltschaften notwendig, die konsequent ermitteln. Zudem wäre zu diskutieren, die Bildung von Betriebsräten ab einer bestimmten Betriebsgröße gesetzlich zu verpflichten, wie etwa in den Niederlanden.

Perspektive mit Verfallsdatum

Air Berlin gliedert seinen Kundenservice aus und kündigt zugleich dessen Schließung an. Mitarbeiter fühlen sich »verkauft und plattgemacht«. Ver.di und Betriebsrat wollen das nicht hinnehmen.


Von Jörn Boewe, neues deutschland, 7. März 2014

Das hatte sich Air Berlin wohl anders vorgestellt: Anlässlich der Internationalen Tourismusbörse (ITB) hatte Deutschlands zweitgrößte Fluggesellschaft zur »Air Berlin Party« am Mittwochabend im Restaurant »Zur Nolle« im S-Bahnbogen in Berlin-Mitte eingeladen. Die Party fand statt, aber wer hinein wollte, musste zuvor an etlichen aufgebrachten Call-Center-Mitarbeitern vorbei, die ihrem Ärger über die Airline lautstark Luft machten.

Zum Jahresbeginn hatte die Air Berlin ihren Kundenservice outgesourct und an eine speziell zu diesem Zweck gegründete Firma namens AuSoCon Call Center Berlin GmbH verkauft. Zugleich wurde den rund 180 Beschäftigten angekündigt, dass ihre Arbeitsverhältnisse zum Jahreswechsel 2014/15 enden sollen. Lediglich »bewährten Mitarbeitern« werde dann ein Weiterbeschäftigungsangebot gemacht werden. Wie aus einer Powerpoint-Präsentation hervorgeht, die im Unternehmen kursiert, soll dies aber mit einer Absenkung der Gehälter um 15 bis 20 Prozent verbunden sein.

AuSoCon ist ein Joint Venture: Hauptgesellschafter ist mit 80 Prozent die österreichische Firma Competence Call-Center AG (CCC), Air Berlin hält eine Minderheitsbeteiligung von 20 Prozent. Aufgerufen zu den Protesten hatte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, unterstützt vom Betriebsrat. Nach Polizeiangaben beteiligten sich 79 Personen, etliche Beschäftigte stießen im Laufe der Aktion dazu und waren direkt von der Arbeit zur Kundgebung gekommen.

»Im Schnitt sind die Leute bei uns seit achteinhalb Jahren im Unternehmen«, sagte Betriebsratsvorsitzender Max Rack gegenüber »nd«. Bei einer entsprechend langen Betriebszugehörigkeit kämen sie auf einen Stundenlohn von 15 Euro. Berichten ehemaliger CCC-Beschäftigter in diversen Internetforen zufolge liegen die Entgelte bei dem österreichischen Betreiber etwa bei der Hälfte.

Man fühle sich »von Air Berlin verkauft«, sagte eine Servicemitarbeiterin, jetzt wolle man sich »nicht auch noch plattmachen lassen«. Offensichtlich wollen die Beschäftigten nicht tatenlos zusehen, wie ihr ehemaliger Arbeitgeber sich aus der Verantwortung stiehlt. Air Berlin habe es in der Hand, die Arbeitsplätze und Bedingungen in ihrem Service Center auch unter dem neuen Unternehmensdach »langfristig zu sichern und den Beschäftigten damit eine Perspektive zu bieten«, sagte Stefan Köchling, Sprecher der ver.di-Tarifkommission.

In der Air-Berlin-Zentrale am Saatwinkler Damm ist man offenbar der Meinung, den Mitarbeitern schon genug Perspektive geboten zu haben. Es sei der Airline »sehr wichtig« gewesen, » ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein attraktives Angebot zu unterbreiten, um auch das über Jahre erworbene Fachwissen zu erhalten«, erklärte Sprecher Mathias Radowski auf Anfrage. Die Übertragung des Kundenservice »auf einen dafür spezialisierten Dienstleister« sei »branchenüblich«, die Fluggesellschaft werde damit »kundenorientierter, schneller und effizienter«.

Zugleich stellte er klar: »Zum Jahresende wird die ASC geschlossen. Alle Mitarbeiter, die sich bewähren, sollen Angebote erhalten, in andere Gesellschaften der CCC übernommen zu werden.« Die avisierte Gehaltsabsenkung um 15 bis 20 Prozent wollte das Unternehmen auf Nachfrage nicht kommentieren.

Damit wollen sich die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft aber nicht abfinden. »Für ihre ehemaligen Beschäftigten muss Air Berlin deutlich mehr tun«, so der zuständige Gewerkschaftssekretär Max Bitzer. Dies werde man bei den anstehenden Sozialplanverhandlungen deutlich machen. Falls sich das Unternehmen nicht bewege, werde ver.di »alle Möglichkeiten nutzen, die das deutsche Arbeitsrecht hergibt«. Tarifkommissionssprecher Köchling fügte hinzu: »Die Kundgebung war erst der Auftakt, für das, was Air Berlin noch blühen wird, wenn sie weiter auf stur schalten.«

Wie die Fluggesellschaft am Donnerstag mitteilte, konnte sie im Februar dank zusätzlicher Langstreckenflüge und Verbindungen mehr Passagiere als im Vorjahreszeitraum befördern. Die Zahl der Fluggäste stieg gegenüber Februar 2013 um zwei Prozent auf 1,84 Millionen. Weil das Unternehmen gleichzeitig sein Angebot ausweitete, blieben in den Fliegern jedoch mehr Sitze leer: Die Auslastung verschlechterte sich um 3,5 Prozentpunkte auf 81,7 Prozent. Übers Jahr will Air Berlin Flugangebot und Auslastung um drei Prozent steigen, wie Vorstandschef Wolfgang Prock-Schauer kürzlich in der Mitarbeiterzeitung ankündigte.

Der Österreicher Prock-Schauer hatte den Vorsitz der kriselnden Fluggesellschaft vor gut einem Jahr von Hartmut Mehdorn übernommen, dem es trotz ehrgeiziger Sanierungsziele nicht gelungen war, Air Berlin in die Gewinnzone zu führen. In Branchenkreisen heißt es, Prock-Schauer müsse 2014 den Turnaround schaffen oder gehen.

Reeder auf Dumpingkurs

Zahl der Schiffe unter deutscher Flagge auf historischen Tiefstand gesunken

Von Jörn Boewe, junge Welt, 4. März 2014

Anfang des Jahres hat die Zahl der zivilen Schiffe unter deutscher Flagge einen historischen Tiefstand erreicht. In der vergangenen Woche gab die für den Seeverkehr zuständige Gewerkschaft ver.di bekannt, daß die Anzahl in weniger als vier Jahren um 300 Schiffe gesunken ist. Nur noch 208 Fahrzeuge sind nach aktuellen Angaben des Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydrographie unter Schwarz-Rot-Gold unterwegs. Das sind nicht mal mehr sechs Prozent der über 3500 Schiffe, die von deutschem Management bewirtschaftet werden.

Ostseehafen Wismar, Sept. 2012

 Vor gut zehn Jahren hatten Regierung, Reedereien und Gewerkschaften, moderiert vom damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder, ein »Maritimes Bündnis für Beschäftigung, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit« geschlossen. Vereinbart wurde u. a., daß der Staat finanzielle Zuschüsse für Ausbildung und Lohnkosten zahlt und die Reeder im Gegenzug wieder mehr Schiffe unter deutscher Flagge fahren, nämlich zunächst mindestens 300. Später wurde das Ziel auf 600 gesteigert. Im Jahr 2008, kurz vor Ausbruch der Wirtschaftskrise, fuhren tatsächlich mehr als 500 Schiffe unter deutscher Flagge. Die Zahl der Auszubildenden in den maritimen Berufen verdoppelte sich, und mehr deutsche und EU-Seeleute fuhren an Bord deutscher Schiffe.

Inzwischen hat sich dieser Trend umgekehrt. Nach den aktuellen Arbeitsmarktzahlen der Zentralen Heuerstelle Hamburg gab es im Januar in den technisch-nautischen Berufen 18 Prozent mehr Bewerber als vor einem Jahr, während sich das Angebot an freien Stellen im gleichen Zeitraum um 16 Prozent verringerte. Zugleich ist die Zahl arbeitsloser Schiffsmechaniker binnen Jahresfrist um 31 Prozent und die der Nautiker um 26 Prozent gestiegen.

13000 bis 14000 Seeleute fahren auf deutschen Handelsschiffen, rund die Hälfte davon sind deutsche Staatsbürger. Der Anteil deutscher Schiffe an der Welthandelsflotte ist seit der Jahrtausendwende von fünf auf neun Prozent gestiegen. Doch das Maritime Bündnis hat die »Flucht aus der deutschen Flagge«, wie ver.di es nennt, nicht aufhalten können. Im Jahr 2000 waren noch 553 Anträge zur Ausflaggung von Schiffen deutscher Eigner gestellt worden, bis 2012 kletterte die Zahl auf 1819, wie aus der Antwort der vorigen Bundesregierung auf eine Anfrage der SPD vom Mai 2013 hervorgeht. Alle Anträge wurden positiv beschieden.

All das habe zu einem gravierenden Abbau von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für deutsche und EU-Seeleute geführt, heißt es bei ver.di. Immer mehr Reeder brächten ihre Schiffe unter EU-Flaggen, die keine Besetzungs- und Bemannungsvorschriften haben. Es bestehe dahingehend »dringender Handlungsbedarf«, daß die EU ihre Leitlinien für die Seeschiffahrt konkretisiere, forderte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Christine Behle in der vergangenen Woche. Für alle Schiffe, die in irgendeiner Form durch die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten subventioniert werden, müßten »schnellstens« Mindestbesetzungsvorschriften mit sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen für EU-Seeleute eingeführt werden. Die Europäische Kommission müsse sich die Frage stellen, was es der EU und Deutschland nutze, wenn Schiffe in Asien gebaut, mit Seeleuten aus aller Welt besetzt werden und deutsche Reeder trotzdem finanzielle Vorteile in Form der Tonnagesteuer, Lohnkosten- und Ausbildungsbeihilfen erhielten.

Bei der »Tonnagesteuer« handelt es sich um eine in Deutschland 1999 eingeführte Methode zur pauschalen Gewinnermittlung bei Handelsschiffen. Grundlage ist die Ladekapazität der Schiffe, nicht der real erzielte Gewinn. Je nach Konjunktur schwankte die Höhe der Steuer stark. So lag sie 2004 nach Schätzungen des Finanzministeriums bei 875 Millionen Euro, stieg 2005 auf 1,115 Milliarden Euro und sank im Krisenjahr 2009 auf 40 Millionen.

Faktisch ist das ein großes Steuergeschenk an die Reeder: Bei der herkömmlichen Gewinnermittlung durch Vergleich des Betriebsvermögens am Ende des Wirtschaftsjahres hätten die Schiffahrtsunternehmen rund das Doppelte zahlen müssen. Wie eine Anfrage der Grünen im Bundestag ergab, gingen dem deutschen Staat dadurch allein von 2004 bis 2011 Einnahmen von fast fünf Milliarden Euro verloren. Mittlerweile hat sich die Tonnagesteuer weltweit als Standard durchgesetzt. Einige Staaten, darunter Griechenland, schafften die Besteuerung von Reedern ganz ab.

Neben den Steuervergünstigungen wirken die direkten Staatsbeihilfen für die Reeder im Rahmen des Maritimen Bündnisses fast schon bescheiden. Die lagen seit Bestehen des Bündnisses jährlich bei 50 bis 60 Millionen Euro.