Betriebsräte werden erpresst

Unternehmer sind kreativ, geht es um die Verhinderung der Übernahme von Leiharbeitern

Erstmals können Leiharbeiter tariflichen Anspruch auf Festeinstellung anmelden. Doch viele Unternehmen nutzen ein Schlupfloch im Tarifvertrag.


Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, neues deutschland, 13. Juni 2014

Der Juni sollte für viele Leiharbeiter in der Metallindustrie ein guter Monat werden. Dieser Tage tritt eine Regelung des Tarifvertrages Leih-/Zeitarbeit in Kraft. Danach haben Leiharbeitsbeschäftigte, die länger als 24 Monate in einem Betrieb sind, einen Anspruch auf eine unbefristete Übernahme. Allerdings scheinen viele Unternehmen sehr findig zu werden, wenn es darum geht, die vereinbarten Einstellungen zu umgehen. Nach »nd«-Recherchen stehen Betriebsräte vielerorts unter Druck, kurzfristig Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Der tarifliche Übernahmeanspruch gilt nämlich nur, sofern in Betriebsvereinbarungen zum Einsatz von Leiharbeitern nichts anderes festgelegt ist.

Die IG Metall betrachtet die Entwicklung mit Sorge. »Es vergeht kein Tag, an dem nicht Betriebsräte unter Druck gesetzt werden, den Tarifvertrag zu unterlaufen«, sagt Bodo Grzonka, der beim IG Metall Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen für Leiharbeit zuständig ist. Den gleichen Trend beobachtet man auch im Bezirk Baden-Württemberg. In welchem Umfang dies geschieht, könne man jedoch noch nicht sagen. »Wir haben deshalb unsere Verwaltungsstellen aufgefordert, alle Informationen zusammenzutragen, um uns ein Bild machen zu können«, sagte eine Sprecherin auf Anfrage.

Anderswo wurden Leiharbeiter in großem Maßstab nach Hause geschickt. So etwa in Bielefeld: Anstatt ihnen ein Angebot auf eine unbefristete Stellen vorzulegen, meldete der Automobilzulieferer Gestamp in den letzten Wochen etwa 80 Leiharbeiter ab und ersetzte sie durch neue, schlechter entlohnte. »Viele der Betroffenen waren vier bis fünf Jahre im Betrieb«, sagt Gewerkschaftssekretär Oguz Önal von der IG Metall Bielefeld. »Die Abmeldungen kamen völlig überraschend.« Denn auch bei Gestamp gab es eine Betriebsvereinbarung. Die sah für die Leiharbeiter eine kontinuierliche Lohnsteigerung von rund zehn auf 15,40 Euro pro Stunde vor, machte allerdings eine Übernahme nach 24 Monaten nicht zwingend. »Offenbar hat die Geschäftsführung rechtliches Risiko gesehen und gehandelt, wie sie gehandelt hat«, vermutet Önal.

Massenabmeldungen als Umgehungsstrategie scheinen allerdings die Ausnahme zu sein. Haupttrend sei auch in seiner Region, dass Unternehmen Betriebsräte unter Druck setzen. »Es werden Drohszenarien aufgebaut«, sagt der Gewerkschaftssekretär. In solchen Abkommen kann dann die 24-Monate-Frist erweitert werden, oder es wird nur ein Teil der Leiharbeiter übernommen, die eigentlich einen Anspruch hätten. Das Phänomen ist nicht auf kleine und mittlere Betriebe beschränkt: »Wir beobachten das in Unternehmen mit 150 Beschäftigten, aber auch in solchen mit 1500.« Um nicht auf die Flexibilität, die Leiharbeit bietet, verzichten zu müssen, sind die Unternehmen häufig bereit, Zugeständnisse für die Leiharbeitsbeschäftigten bis hin zu »Equal Pay« zu akzeptieren. Viele Betriebsräte lassen sich auf Vereinbarungen ein, so Önal. Der Anspruch des Tarifvertrages, Leiharbeit als dauerhaftes Instrument aus der Welt zu schaffen, wird in jedem Fall unterlaufen.

Es gibt aber auch Beispiele, wo der Tarifvertrag vergleichsweise problemlos umgesetzt wird. So sollen beim Eisenbahnbauer Bombardier in Hennigsdorf bei Berlin in diesen Tagen etwa 30 Leiharbeiter eingestellt werden, weil sie mehr als 24 Monate im Unternehmen beschäftigt sind. Die Regel ist das allerdings nicht, sagt Gewerkschaftssekretär Grzonka. Viele Betriebsräte in unserem Zuständigkeitsbereich werden erpresst, den Tarifvertrag zu unterlaufen.«

Gesamtmetall empfiehlt seinen Mitgliedsunternehmen ausdrücklich, Vorkehrungen zu treffen, um den Übernahmeanspruch zu vermeiden. »Verpflichten Sie das Zeitarbeitsunternehmen, Ihnen die Überlassungsdauer eines Zeitarbeitnehmers nach zum Beispiel 16 beziehungsweise 22 Monaten schriftlich mitzuteilen«, heißt es in einem »Handlungsleitfaden Zeitarbeit« des Unternehmerverbandes. »Möglich wäre auch die Vereinbarung, dass die Einsatzzeit 24 Monate nicht erreichen darf.«

Allerdings sei der Einsatz von Leiharbeitern momentan zumindest in Teilen auch konjunkturbedingt rückläufig, gibt Witich Roßmann, Bevollmächtigter der IG Metall Köln-Leverkusen, zu Bedenken. Viele Abmeldungen erfolgen daher nicht nur unter dem Zwang der 24-Monate-Regel, sondern wegen einer moderaten Auftragsauflage. Zugleich gebe es einen Trend zur »Qualifiziertenauswahl« unter den Leiharbeitern. Ein Teil wird übernommen, ein Teil wird abgemeldet und durch andere ersetzt.

Entgegen aller Unkenrufe scheint die Leiharbeitsbranche ganz gut mit den Regulierungen leben zu können. Die größten deutschen Leiharbeitsunternehmen rechnen in diesem Jahr mit einem Umsatzwachstum von 8,2 Prozent, wie eine aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstituts Lünendonk ergab. War die Zahl der Leiharbeitnehmer im vergangenen Jahr noch um fünf Prozent gesunken, habe sich die Nachfrage der Unternehmen Anfang dieses Jahres wieder stabilisiert. 2014 dürfte die Zahl der Leiharbeiter wieder steigen.

Zeit für klare Regeln

Jörn Boewe kritisiert die guten Absichten der Industrie nach dem Fabrikunglück in Bangladesch. neues deutschland, 25. April 2014

Viel wird in diesen Tagen über die Textilbeschäftigten in Bangladesch berichtet. Ein Jahr nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Fabrikgebäudes, bei dem mehr als 1130 Menschen getötet und 2500 verletzt wurden, ist das Medieninteresse groß. Doch wie so oft in der »Informationsgesellschaft« gehen die entscheidenden Fragen in der Fülle der Berichte verloren. Jahrestage von Katastrophen sind die große Zeit der Absichtserklärungen, aber nicht unbedingt der Übernahme von Verantwortung.

Entwicklungsminister Gerd Müller, ein Mann, den außerhalb der CSU noch nicht viele kennen, hat für nächste Woche zu einem »Runden Tisch« geladen, an dem über ökologische und soziale Standards in der Textilindustrie geredet werden soll. Das könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, hätte der Minister nicht bereits vor Beginn der Gespräche klargestellt, dass eine gesetzliche Regelung kein Thema sein wird – bis auf Weiteres zumindest. Allenfalls wenn es nicht zu transparenten Selbstverpflichtungen des Handels komme, könne man ein Gesetz in Erwägung ziehen.

Statt klarer Regeln und wirksamer Kontrollen wird es lediglich Vorzeigeprojekte geben, mit denen sich die Ministerialbürokratie für die erste Hälfte der Legislaturperiode gut beschäftigen kann. Dabei hat gerade die Rana-Plaza-Katastrophe bewiesen, dass Selbstverpflichtungen völlig unzureichende Instrumente sind, wenn es darum gehen soll, den Beschäftigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie versagen selbst bei der akuten Nothilfe, wie der immer noch hoffnungslos unterfinanzierte Entschädigungsfonds für die Rana-Plaza-Opfer zeigt. Sollen sich die Arbeitsbedingungen der internationalen Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter nachhaltig verbessern, braucht es nicht nur einen langen Atem, sondern Regeln, die für alle gelten und bei Verstößen klare straf- und zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Letztlich ist dies auch im Sinne der Branche selbst – zumindest jener Unternehmen, die sich den Forderungen der Beschäftigten nicht völlig verschließen. Denn das Prinzip der Freiwilligkeit bestraft immer die Gutwilligen und belohnt jene, die sich auf Kosten der Mitbewerber aus der Verantwortung stehlen. Zudem haben freiwillige Vereinbarungen die Arbeitsbedingungen für Textilbeschäftigte in den vergangenen Jahren kaum verbessert. Abhilfe schaffen kann nur ein strengeres Haftungsrecht. Handelsketten, die die betriebswirtschaftlichen Vorteile der Zerstückelung von Wertschöpfungsketten in Anspruch nehmen, müssen für die Einhaltung von Mindeststandards bei ihren Zulieferern verantwortlich gemacht werden. Geschädigte und Hinterbliebene brauchen einen international gültigen Rechtsanspruch auf Wiedergutmachung. So steht es seit 2011 in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Es wäre Zeit, dass Deutschland diese Beschlüsse endlich umsetzt.