Spiel ohne Risiko

Investitionsschutz: Wie internationale Finanzanleger europäische Krisenstaaten mit Hilfe privater Schiedsgerichte ausplündern

Von Jörn Boewe, junge Welt, 25. März 2014

Die Kritik an der geplanten Investitionsschutzklausel im seit Frühjahr 2013 verhandelten Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) bereitet der Europäischen Kommission Probleme. Eine für Mitte März angekündigte öffentliche Anhörung, mit der Brüssel auf die Argumente der Kritiker eingehen wollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Statt dessen will Handelskommissar Karel De Gucht in dieser Woche ein 41seitiges Papier vorstellen, das »Vorbehalte« der Kritiker ausräumen soll, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Montagausgabe). De Gucht werde Vorschläge präsentieren, wie die EU den geplanten Investitionsschutz begrenzen und transparenter gestalten will, so das Blatt. Derartige Schutzklauseln in internationalen Handelsabkommen geben Unternehmen die Möglichkeit, vor privaten Schiedsgerichten Entschädigungen gegen Staaten zu erstreiten, wenn sie sich durch neue Gesetze benachteiligt oder unfair behandelt fühlen.

Bisher bestand die Linie der Kommission eher in der Bagatellisierung der Kritik. So war etwa in einem Positionspapier vom November die Rede von »Meinungsäußerungen«, in denen »die Befürchtung laut wurde, daß die Investitionsschutzbestimmungen sich nachteilig auf das Regulierungsrecht der Staaten auswirken könnten«.

Lizenz zum Kasse machen

Tatsächlich geht es weniger um Meinungsfragen als um reale Erfahrungen mit bereits bestehenden Investitionschutzklausen aus früheren bi- und multilateralen Abkommen. Wie derartige Klauseln derzeit von Finanz­investoren gegen europäische Krisenstaaten in Stellung gebracht werden, zeigt eine aktuelle Untersuchung der Nichtregierungsorganisationen Transnational Institute und Corporate Europe Observatory. Danach droht sich die Sozialisierung der Bankenverluste im Zuge der Finanzkrise von 2007/2009, die zur europäischen Staatsschuldenkrise führte, zu wiederholen – diesmal unmittelbar zugunsten institutioneller Anleger, die EU-Mitgliedstaaten vor privaten Schiedsgerichten auf entgangene Profite aus hochspekulativen Investments verklagen.

Dem Mitte März veröffentlichten Report »Profiting from crisis« zufolge, verlangen Finanzinvestoren vor privaten internationalen Schiedsgerichten mindestens 1,7 Milliarden Euro Entschädigung von Griechenland, Spa­nien und Zypern für Maßnahmen, die diese Länder zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise ergriffen haben. Zu den Klägern gehört die slowakische Postova-Bank: Sie hatte 2010 griechische Staatsanleihen im Nennwert von 500 Millionen Euro billig gekauft, zu einem Zeitpunkt als diese von der Ratingagentur Standard & Poor’s bereits als »Schrott« eingestuft worden waren. Zwei Jahre später bot die griechische Regierung ihren Gläubigern einen Schuldenschnitt (»haircut«) an. Dies war eine der Bedingungen, die die »Troika« aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission im Gegenzug für weitere Finanzhilfen verlangt hatte. Anstatt auf den Deal einzugehen und einen Teil ihrer hochspekulativen Anlagen abzuschreiben, strengte Postova eine Klage auf der Grundlage eines bilateralen slowakisch-griechischen Investitionsschutzabkommens an, die Höhe der Forderung ist nicht bekannt.

Detaillierte Informationen liegen über das Verfahren vor, das der in Griechenland ansässige Kapitalanleger Marfin Investment Group gegen Zypern anstrengt. Marfin war von 2006 bis 2013 Hauptanteilseigner des zweitgrößten zypriotischen Geldinstituts, der Laiki-Bank, die zeitweise Marfin-Popular-Bank hieß. Diese war 2012 in schwere Schieflage geraten, u.a. weil sie zuvor engros griechische Staatsanleihen aufgekauft hatte. 2013 nahm Zypern ein Hilfspaket der Troika an und verstaatlichte die Laiki-Bank. Daraufhin strengte Marfin eine Investorenschutzklage gegen Zypern an. Die Forderung in dem anhängigen Verfahren beläuft sich auf 823 Millionen Euro.

Hohe Dunkelziffer

Rund 700 Millionen Euro verlangen indessen 22 internationale Anleger, vor allem institutionelle Finanzinvestoren, vom spanischen Staat für entgangene Gewinne aus ihren Solarinvestitionen. Als eine Maßnahme im Zuge der Krise von 2008 hatte die Regierung die Einspeisetarife für Strom aus Photovoltaikanlagen drastisch abgesenkt. Zahlreiche inländische Kleinanleger waren betroffen, aber im Gegensatz zu den Beteiligungsfonds mit Sitz außerhalb Spaniens hatten sie kaum Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. Die ausländischen Investoren verklagten den Staat auf Schadenersatz in einer Vielzahl von Verfahren aufgrund des Investitionsschutzkapitels im internationalen Energiecharta-Vertrag.

Die drei in der Studie angeführten Beispiele seien nur »die Spitze des Eisbergs«, schreiben die Autorinnen Pia Eberhardt und Cecilia Olivet. Viele Verfahren gelangten der Öffentlichkeit gar nicht zur Kenntnis. Die Risiken des »Investor-Staat-Klagesystems« würden dennoch deutlich: »Schon heute nutzen spekulative Investoren Investitionsabkommen, um die knappen Staatskassen der verarmten europäischen Krisenländer weiter zu plündern«, so Pia Eberhardt von Corporate Europe Observatory. »Es wäre politischer Wahnsinn, Konzernen in dem noch weiterreichenden geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen dieselben überzogenen Rechte einzuräumen.«

Weltweit sind derzeit etwa 3000 Investitionsschutzabkommen in Kraft. Bislang wurden 512 Fälle von Investor-Staat-Klagen bekannt, die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Laut Statistik der UNO-Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD steigt die Zahl sogenannter Investor-Staat-Klagen seit Mitte der 90er Jahre rapide an. Im Jahr 2012, dem letzten, für das statistische Daten vorliegen, wurden 58 neue Verfahren eröffnet. Dies war ein neuer, aber sicher kein endgültiger Rekord.

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Wagnis für wenig Wachstum

Befürworter der Transatlantischen Freihandels- und Investitionspartnerschaft werfen Kritikern Panikmache vor. Doch Erfahrungen mit vergleichbaren Abkommen zeigen: Die Warnungen sind berechtigt.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung 03/2014

Das Chlorhuhn bewegt. Es ist zum Wappentier der Gegner der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) geworden. Seit Mitte vergangenen Jahres verhandelt die EU-Kommission mit den USA über den Abschluss eines Abkommens, das Zugangsbarrieren für die jeweiligen Märkte senken, Investitionen langfristig absichern und eine Schiedsgerichtsbarkeit installieren soll, vor der Investoren ihre Ansprüche aus dem Abkommen durchsetzen können sollen. Nicht nur diese Schiedsverfahren sollen geheim ablaufen. Auch aus den laufenden Verhandlungen wurde die Öffentlichkeit bislang ausgeschlossen. Sogar Inhalte und Zielrichtung der Gespräche sowie die Zusammensetzung der Verhandlungsgruppe wurden unter Verschluss gehalten – bis es engagierten NGO-Aktivisten gelang, einige Dokumente zu „leaken“.

SKEPSIS BEIM DGB WÄCHST

Die EU-Kommission selbst hat bislang außer optimistischen Prognosen und Statements zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung nichts Konkretes veröffentlicht. „Die TTIP hat Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Ziel“, heißt es auf ihrer Internetseite. Sie könnte „die Wirtschaft der EU um 120 Milliarden Euro“ ankurbeln und „Hunderttausende neue Arbeitsplätze kreieren“. Gelingen soll dies durch die Angleichung unterschiedlicher „Regelwerke, Normen und Zulassungsverfahren“.

Das klingt so plausibel wie harmlos nach DIN und TÜV und Blauer Engel, und fast schien es, als könne keiner etwas dagegen haben. Aber dann hielt Anfang Januar jemand das Chlorhuhn hoch: Um Salmonellen und andere Keime im Hühnchenfleisch abzutöten, dürfen US-Farmer ihr Geflügel in einer Lauge aus Chlordioxid und Natriumchlorit desinfizieren. Nach Europa dürfen die Giftcocktail-Chicken bislang nicht eingeführt werden – doch das würde sich mit der TTIP ändern. Ein Aufschrei ging durch Europa! Was die Argumente der Freihandelskritiker von Attac und NGOs nicht fertiggebracht hatten – das Chlorhuhn rüttelte die Öffentlichkeit wach.

Doch nicht nur Verbraucher- und Umweltschutzstandards kämen durch die TTIP unter Druck, befürchten die Kritiker. Auch Arbeitsschutzbestimmungen und Beschäftigtenrechte sind bedroht. Nach der Logik der Freihandelsdoktrin gelten sie letztlich als „nichttarifäre Handelsbarrieren“, die den Marktzugang erschweren oder Gewinnerwartungen schmälern können. Mitte Januar traten deshalb 60 Gewerkschafter und Intellektuelle mit einem Appell an die Öffentlichkeit, der vor einem Abbau von Arbeitnehmerrechten durch die TTIP warnte. Die Initiatoren, darunter der Publizist Werner Rügemer und der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, fürchten, der Vertrag würde die Koalitionsfreiheit beschneiden und Arbeitsstandards absenken. So hätten die USA „sechs von acht Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht ratifiziert“, heißt es in dem Aufruf.

Ähnlich kritisch hatte sich bereits im Frühjahr vorigen Jahres der DGB geäußert. Die „Vereinheitlichung von Standards und Normen“ dürfe „nicht zulasten des Gesundheits-, Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutzes“ gehen, forderte der DGB. Zwar seien Wohlfahrtseffekte, die sich aus einem Handelsabkommen ergeben könnten, zu begrüßen. Gleichwohl warnte der DGB vor „übertriebenen Erwartungen“. „Wir waren damals skeptisch“, sagt Florian Moritz, Leiter des Referats Internationale und Europäische Wirtschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand, „und unsere Skepsis ist seitdem gewachsen.“

FRAGWÜRDIGE MODELLRECHNUNGEN

Übertrieben wird in der Tat, und zwar systematisch und mitunter erstaunlich plump. So behauptet die EU-Kommission auf ihrer Internetseite, dass „nach vollständiger Umsetzung dieses Abkommens (…) ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent BIP“ zu erwarten sei. Abgesehen davon, dass es sich bei dem „unabhängigen Bericht“, auf den sich die Kommission beruft, um eine von ihr in Auftrag gegebene Studie des Londoner Centre for Economic Policy Research (CEPR) handelt, sind die Zahlen falsch interpretiert. Bei einer sehr weitreichenden Liberalisierung erwartet das CEPR bis 2027 in der EU ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,48 Prozent – allerdings nicht jährlich, sondern insgesamt. Das entspräche einem jährlichen Effekt von gerade mal 0,03 Prozent.

„Die Wachstumseffekte sind klein und der Beschäftigungszuwachs winzig“, sagt Sabine Stephan vom IMK in der Hans-Böckler-Stiftung. Die Ökonomin hat die drei vorliegenden Studien zu den erwarteten Effekten der TTIP untersucht. Neben der des CEPR gibt es zwei Untersuchungen des Ifo-Instituts München – eine im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, die andere im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Obwohl derartige Modellrechnungen lediglich mehr oder weniger wahrscheinliche Entwicklungen simulieren, werde der Eindruck erweckt, man hätte exakte und verlässliche Berechnungen. Wie sehr die Ergebnisse von politischen Wunschvorstellungen beeinflusst sind, verdeutlichen die Jobprognosen: Während Bertelsmann 180 000 zusätzliche Arbeitsplätze sieht, kommt das Regierungsgutachten nur auf 25 000. Der Grund: In der Studie für die Bundesregierung verrechnet das Ifo Beschäftigungsauf- und -abbau, in der Bertelsmann-Studie hingegen nicht. Doch selbst bei den 180 000 neuen Jobs der Bertelsmann-Studie handelt es sich wieder um den Gesamteffekt; der Beschäftigungsaufbau pro Jahr beläuft sich auf weniger als 13 000 neue Jobs.

In der Leitbranche Fahrzeugbau etwa könnten laut Bertelsmann 12 143 Arbeitsplätze entstehen – innerhalb von 15 Jahren. „Wir sollten zwar jeden neuen Arbeitsplatz begrüßen, doch das Risiko der TTIP ist enorm hoch“, sagt Beate Scheidt von der Abteilung Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik der IG Metall: „Die geringen Effekte sind das Wagnis nicht wert.“

REGRESSPFLICHT DES STAATES?

Und was ist von der geplanten Investitionsschutzklausel zu halten? Können ausländische Unternehmen künftig eine europäische Regierung etwa wegen der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns vor einem nichtöffentlichen Schiedsgericht auf Schadenersatz verklagen? Derartige Verfahren sind im Kontext anderer Freihandelsabkommen längst Realität. So fordert der französische Mischkonzern Veolia derzeit von der ägyptischen Regierung eine Kompensationszahlung von 82 Millionen Dollar wegen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Anhängig ist auch eine Forderung von Vattenfall gegen die Bundesrepublik. Wegen des Atomausstiegs will der schwedische Energieriese über eine Milliarde Euro Schadenersatz. Laut Statistik der UNO-Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD steigt die Zahl sogenannter Investor-Staat-Klagen seit Mitte der 90er Jahre an. 2012 wurden 58 neue Klagen erhoben – ein neuer Rekord. Bislang wurden 512 solcher Verfahren bekannt. In 70 Prozent der Fälle bekam der Investor Recht.

Als Reaktion auf die Kritik hat Wettbewerbskommissar Karel de Gucht nun angekündigt, das geplante Investitionsschutzkapitel im März offenzulegen. Die Debatte dürfte damit nicht beendet sein, im Gegenteil. „Wenn die Klausel so rigoros wie beabsichtigt implementiert wird, müssen wir uns dagegenstellen“, sagt IG-Metallerin Scheidt. „Das dürfen wir nicht zulassen.“

Mehr Informationen

Präsentation der IMK-Ökonomin Sabine Stephan: http://bit.ly/1hPAbeI

Die Zahlen der Verkaufsstrategen

Das seit Frühjahr 2013 zwischen EU und USA verhandelte Transatlantische Handels und Investitionsabkommen (TTIP) beunruhigt die Frankfurter Allgemeine Zeitung („In den Krallen des Chlorhuhns“, Printausgabe vom 20. Februar). Es sind aber weder der anvisierte Abbau sogenannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse, also die Angleichung von Verbraucher- und Umweltschutzvorschriften auf niedrigstem Niveau, noch der komplette Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen, die der FAZ Kopfschmerzen machen. „Anlass zur Sorge bereitet, dass es der EU-Kommission immer weniger gelingt, den Bürgern die Freihandelsgespräche mit Amerika als Chance zu verkaufen“, schreibt das Blatt und zeigt gleich, wie man’s richtig macht: „Die Öffnung der Märkte könnte allein in Deutschland 100 000 neue Arbeitsplätze schaffen, jeder Haushalt hätte jährlich 550 Euro mehr zur Verfügung, erwarten Ökonomen.“

Nun ist das mit den Prognosen so eine Sache. Das Münchner Ifo Institut prophezeit in einer Studie für die Bertelsmann-Stiftung sogar 180 000 neue Jobs. In einer anderen Studie kommt dasselbe Ifo Institut – diesmal im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums – nur noch auf die deutlich bescheidenere Zahl von 25 000. Der Grund: Während in exportorientierten Branchen voraussichtlich Beschäftigung aufgebaut wird, ist in anderen Bereichen mit Arbeitsplatzverlusten zu rechnen. In der Studie für das Ministerium hat das Ifo Plus und Minus halbwegs ordentlich gegengerechnet. In der Bertelsmann-Studie war das offenbar vom Auftraggeber nicht gewünscht.

Aber auch die Kommission selbst hat’s nicht so mit ihren eigenen Zahlen. „Nach vollständiger Umsetzung dieses Abkommens“, schreiben ihre PR-Strategen, „wird ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5% BIP (…) erwartet.“

Screenshot-EU-Kommission-Prognose-Wachstum-2014-02-02-22.56.11Die Zahl steht tatsächlich in einer von Brüssel in Auftrag gegebenen Studie des Londoner Centre for Economic Policy Research (CEPR). Allerdings handelt es um den prognostizierten, kumulativen Gesamteffekt nach 15 Jahren. Aufs Jahr gerechnet macht das nur 0,03 Prozent und liegt damit unterhalb der statistischen Wahrnehmbarkeitsschwelle. Mehr zu diesen Taschenspielertricks und anderen versteckten Implikationen des TTIP in einem Artikel von Boewe/Schulten in der kommenden Ausgabe des Magazins Mitbestimmung (erscheint am 15. März).