Einfach mal zuhören

IG Metall will neue Branchen erschließen. Ihre Devise: Die Beschäftigten wissen oft besser, was sie wollen, als die Gewerkschaft. Unterwegs mit einem »Organizing-Blitz«

Von Johannes Schulten, Magdeburg, junge Welt, 4. Juni 2013

Die Erneuerung beginnt bei der IG Metall mit einem Gespräch. Eigentlich sind es mehrere Gespräche, die Florian Mahler an jenem Dienstag morgen in Magdeburg führt. Ein Lieferwagen rollt auf den Parkplatz vor einem alten Fabrikgebäude aus rotem und gelbem Backstein. Der Gewerkschaftssekretär klopft an die Wagentür. »Ich bin von der IG Metall«, sagt er. »Wir sind zuständig für Unternehmen in der Windenergiebranche. Wir haben von anstehenden Umstrukturierungen bei Vestas erfahren, uns interessiert Ihre Meinung dazu.«

Die beiden Monteure im Auto hören zu, überlegen kurz. Dann erzählen sie: von niedrigen Löhnen, von neuen Führungskräften, die alles anders machen wollen und dann nach einem Jahr wieder von der Konzernzentrale in Dänemark abgezogen werden und von ihrer Arbeit, die ihnen Spaß macht. Mahler hört vor allem zu, manchmal fragt er nach. Mit Erklärungen und Interpretationen hält er sich zurück.

Es ist Punkt sieben Uhr, und vor der Werkhalle fahren immer mehr Wagen vor. Mahler und seine Kollegin Karin Wagner klopfen überall, erkundigen sich nach Problemen, Einschätzungen, der Stimmung. Am Ende jedes Gesprächs kommt das Angebot: »Wären Sie bereit, sich gemeinsam mit der IG Metall für die Verbesserungen der Situation einzusetzen?« Die Kollegen haben schon mal darüber nachgedacht und wollen zumindest in Kontakt bleiben.

Viel können die beiden Gewerkschafter den Monteuren nicht versprechen. Um bei Vestas einen Tarifvertrag durchzusetzen, fehlen der IG Metall noch die Mitglieder. »Wir versuchen, den Leuten klarzumachen, daß sie sich selber einbringen müssen, um etwas zu erreichen«, sagt Mahler. »Dafür müssen wir ihnen jedoch die Strukturen geben, sie vernetzen.«

Die Monteure in Magdeburg arbeiten für die deutsche Servicetochter des dänischen Windkraftanlagenherstellers Vestas. Wenn auf irgendeinem Feld in Deutschland eine Vestas-Turbine kaputtgeht, sind sie es, die raus müssen, um sie zu reparieren. Und genau da liegt das Problem für die Gewerkschaft. Die Servicestandorte sind verstreut, oft arbeiten an ihnen nur wenige Monteure. »Wenn wir die erreichen wollen, müssen wir zu ihnen fahren«, weiß Mahler.

Mahler und Wagner sind bei der IG Metall für Mitgliedergewinnung zuständig. Ihre Aufgabe: Bisher nicht erschlossene Unternehmen zu organisieren – also Mitglieder zu werben, in Betrieben, in denen die Gewerkschaft noch nicht vertreten ist. Davon gibt es viele, im Organisationsbereich der starken IG Metall. Die weißen Flecken sind sogar gewachsen: Ganze Branchen sind in wenigen Jahren neu entstanden – wie etwa die Windkraft- und Solarindustrie. Produktion und Wartung von Photovoltaik- oder Windenergieanlagen haben sich in den letzten Jahren zu einem riesigen Wirtschaftszweig entwickelt, an dem Tausende Arbeitsplätze hängen. Doch das schnelle Wachstum hatte seinen Preis: Die Arbeitsbedingungen sind deutlich schlechter als im klassischen Maschinen- und Anlagenbau, die Löhne niedriger, der Leiharbeiteranteil ist hoch. Tarifverträge sind trotz einiger Fortschritte in jüngster Zeit immer noch die Ausnahme. Bis vor wenigen Jahren war nicht einmal klar, ob die Windkraftanlagenbauer zum Organisationsbereich der IG Metall oder der IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) gehören.

Der Besuch in Magdeburg ist Teil einer Kampagne, um die Monteure in der Branche zu organisieren. »Organizing-Blitz« heißt sie im IG-Metall-Jargon. Etwa 20 haupt- und ehrenamtliche Organizer fahren in dieser letzten Maiwoche durch den Norden der Republik und besuchen Servicestützpunkte der Windkraftbranche.

Viel Aufwand, um ein paar neue Mitglieder zu rekrutieren? »Im Gegenteil«, sagt Jonas Berhe, der beim Vorstand der Metallgewerkschaft in Frankfurt Organizing-Projekte koordiniert. »So schaffen wir die Grundlage, um später handlungsfähig zu sein. Die Alternative wäre, die Leute als Mitglieder komplett aufzugeben.«

Der Organizingansatz stammt aus den USA, wo Gewerkschaften in den 90er Jahren nach neuen Wegen suchten, ihre Mitgliederverluste zu stoppen. Im Grunde ist er ein Versuch, Methoden aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung wiederzubeleben, aus der Zeit der großen Industrialisierungswellen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Diese Herangehensweise unterscheidet sich stark von dem, wie hierzulande jahrelang in Gewerkschaften gearbeitet wurde. »Im Kern geht es um Mitgliederbeteiligung«, betont Berhe. »Nicht wir entscheiden, was die Gewerkschaft fordert, sondern die Mitglieder.«

Das ist die eine Seite. Auf der anderen wird durchaus zentral geplant, und das sehr professionell. Jede Kampagne beginnt mit einer Recherche: Wie ist das Unternehmen aufgestellt? Wer sind die Lieferanten, wer die Kunden? Was sind die Probleme der Beschäftigten? »Früher kamen solche Informationen von den Betriebsräten«, sagt Berhe. Doch in Zeiten von Werkverträgen, Leiharbeit und Outsourcing fehlt den Beschäftigtenvertretern oft die Übersicht in ihren Unternehmen. Und in zahlreichen Firmen gibt es nicht einmal Betriebsräte.

Seit den 1980er Jahren haben auch in Deutschland die Gewerkschaften mit Mitgliederverlusten zu kämpfen. Und auch hier wird Organizing seit geraumer Zeit als Zukunftsmodell diskutiert. Ver.di setzt beim Internethändler Amazon genauso auf die neuen Methoden, wie die IG BAU, um die Situation der Gebäudereiniger zu verbessern.

Die IG Metall hat vor gut drei Jahren ein Organizingprojekt in der Windenergiebranche gestartet: Die Bilanz kann sich sehen lassen. »Wir haben rund 2000 neue Mitglieder gewonnen«, sagt Berhe. Und noch wichtiger: »In vielen Unternehmen haben sich Vertrauensleutestrukturen gebildet, die eigenständig arbeiten«. Bei der Nummer Drei der deutschen Windkraftanlagenbauer, dem Repower-Konzern, konnte die IG Metall im März sogar einen Tarifvertrag abschließen. Der steht bei Vestas noch aus.

Der lange Weg zum Tarifvertrag

Beim Windturbinenbauer REpower hat die IG Metall den Anschluss an den Flächentarifvertrag durchgesetzt. Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Journalisten, deren Recherchen in der Windkraft- und Solarindustrie von der Otto-Brenner-Stiftung mit einem Stipendium gefördert werden.

Magazin Mitbestimmung, Mai 2013

Die Erfolgsmeldung kommt per SMS. Alan-Thomas Bruce schaut von seinem Handy auf: „Wir haben ihn“, sagt der Mann. Es ist 7.20 Uhr, Bruce sitzt mit seinem Kollegen Matthias Hencken am Schreibtisch im Betriebsratsbüro des Windkraftflügelherstellers Powerblades in Bremer­haven. „Wir haben den Tarifvertrag“, wiederholt er, nicht euphorisch, eher cool. Einige Kollegen der Frühschicht kommen herein, klatschen sich ab, umarmen sich, stellen Fragen. Was ist rausgekommen? Bruce winkt ab, er hat noch keine Details. Im Moment gibt es nur die SMS.

Es ist Donnerstag, der 14. März, und im 100 Kilometer entfernten Hamburg sind gerade die Tarifverhandlungen zwischen IG Metall und dem Windkraftriesen REpower, dem Mutterkonzern von Powerblades, zu Ende gegangen. 16 Stunden haben Vertreter der IG Metall, Betriebsräte und Geschäftsleitung des Hamburger Unternehmens in der letzten, entscheidenden Verhandlungsrunde um eine Einigung gestritten. „Der Abschluss ist ein Riesenerfolg“, kommentiert IG-Metall-Verhandlungsführerin Stephanie Schmoliner das Ergebnis. „Die meisten unserer Forderungen haben wir durchgesetzt, vor allem den Anerkennungs­tarifvertrag.“ Die Einigung sieht eine Angleichung an den Flächentarifvertrag vor – wenn auch mit Abstrichen. So bleibt die Wochenarbeitszeit bei 40 Stunden – in der Metall- und Elektroindustrie sind 35 Stunden die Regel. Bei den Stundenlöhnen macht das einen Unterschied von rund zwölf Prozent aus.

Es gibt teils lange Übergangsfristen mit unterschiedlichen Stichtagen für die drei Unternehmenseinheiten. Für die 280 Mitarbeiter der Tochter REpower Systems GmbH wird die Entgelttabelle der Metall- und Elektroindustrie Hamburg/Unterweser zum 1. April 2014 übernommen. Für die ebenfalls rund 280 Stammbeschäftigten von Powerblades soll es zwischen 1. Oktober 2014 und 1. April 2015 so weit sein. Bis dahin will man sich auf betrieblicher Ebene über Tätigkeitsbeschreibungen und Eingruppierungen einigen. Für gut zwei Drittel der Gesamtbelegschaft, die 1600 Beschäftigten der REpower Systems SE, soll der Entgelttarifvertrag dann zwischen 1. Oktober 2015 und 1. Oktober 2017 in Kraft treten.

Global Player auf Wachstumskurs_ REpower Systems SE gehört zu den Großen der Branche. Im April 2001 durch eine Fusion von vier norddeutschen Windkraftanlagenhersteller entstanden, ist das Unternehmen ein Jahrzehnt später in Deutschland die Nummer drei und spielt auf den internationalen Kernmärkten vorne mit. Insgesamt wurden bisher rund 2500 Windkraftanlagen an Land und auf See errichtet. 2012 hat sich die Mitarbeiterzahl um 23 Prozent auf weltweit über 3200 erhöht. Ende Januar erhielt REpower den Auftrag für 175 Windenergieanlagen im kanadischen Quebec, der größte Auftrag der Firmengeschichte.

REpower ist ehrgeizig: Niemand sonst baut Seewindturbinen in der Sechs-Megawatt-Klasse. 2007 wurde das Unternehmen vom indischen Windkraftriesen Suzlon Energy übernommen, der mit knapp acht Prozent Marktanteil weltweit auf Platz sechs liegt, knapp hinter dem ostfriesischen Rivalen Enercon und nur fünf Prozentpunkte vom Weltmarktführer, der dänischen Firma Vestas, entfernt. Produziert wird in Cuxhaven, Bremerhaven, Eberswalde und an vier weiteren Standorten. In Bremerhaven wurde erst vor zwei Jahren eine große Produktionshalle errichtet, an der Wesermündung entsteht in den nächsten Jahren der weltweit größte Basishafen für Offshore-Windparks.

Doch bisher hatten die REpower-Beschäftigten von dem Erfolg nur in bescheidenem Maße profitiert. Wie bei vielen Unternehmen der jungen Windkraftbranche sind die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen eher prekär. Löhne bei REpower liegen 20 bis 30 Prozent unter dem Niveau des Metall- und Elektrotarifvertrags. Bei einer 40-Stunden-Woche im Dreischichtbetrieb kommen Beschäftigte in der Produktion auf Bruttolöhne zwischen 1900 bis 2300 Euro, bei Powerblades wird noch schlechter bezahlt. Zudem setzt REpower stark auf den Einsatz von Leiharbeitern. Bei Powerblades waren im September 2012 zwei Drittel der Belegschaft über Personaldienstleister beschäftigt, erzählt Betriebsratsmitglied Matthias Hencken, der wie die meisten Powerblades-Beschäftigten als Leiharbeiter im Unternehmen angefangen hat. Jetzt sieht der Tarifvertrag eine konzernweite Begrenzung der Leiharbeiterquote auf 20 Prozent vor. Ausnahmen sind möglich, aber nur mit Zustimmung der Betriebsräte – um Auftragsspitzen abzufedern.

Was die Kollegen verändern wollen_ Doch bis dahin war es ein weiter Weg. „Wir haben 2010 angefangen, an den verschiedenen Standorten Aktivenkreise aufzubauen“, berichtet Jonas Berhe vom IG-Metall-Fachbereich Mitglieder und Kampagnen. An Tarifverhandlungen sei damals nicht zu denken gewesen angesichts des mageren Organisationsgrads. „Wir haben überlegt: Was sind die Probleme im Betrieb, die die Kollegen wirklich verändern wollen und können?“ In Bremerhaven war es der Wunsch nach einer Kantine, im brandenburgischen Trampe die Forderung nach Übernahme der Azubis. „Wir haben Fragebogenaktionen in den Betrieben durchgeführt, dabei musste die Anonymität der Kollegen garantiert werden, ansonsten hätten sie vielleicht ihren Arbeitsplatz riskiert“, berichtet Berhe.

Im Sommer 2012 fühlte die Gewerkschaft sich stark genug, die Tarifverhandlungen zu beginnen. Das Unternehmen betonte anfangs, dass ein Tarifabschluss „kostenneutral“ sein müsse. Die IG Metall machte Druck, beinahe wöchentlich gab es betriebliche Aktionen. Im Oktober beteiligten sich 2000 Beschäftigte an Warnstreiks an mehreren Standorten, darunter Hunderte Leiharbeiter. „Natürlich mussten wir auch einige Kröten schlucken“, meint Betriebsratsmitglied Hencken. Besonders der späte Einführungszeitpunkt des Entgelttarifvertrages sorgte bei vielen Kollegen für Unzufriedenheit. „Da musste Überzeugungsarbeit geleistet werden, um zu zeigen, dass die Vorteile klar überwiegen.“ Offenbar mit Erfolg. Am 13. April sprachen sich die IG-Metall-Mitglieder bei Powerblades „mit überwältigender Mehrheit“ für die Annahme des Tarifvertrages aus; ähnlich entschieden auch die Beschäftigten der anderen Standorte.

On organizing

»Wir haben 2010 angefangen, an den verschiedenen Standorten Aktivenkreise aufzubauen«, erinnert sich Jonas Berhe, Politischer Sekretär im Fachbereich Mitglieder und Kampagnen. An Tarifverhandlungen sei damals noch nicht zu denken gewesen. »Wir haben überlegt: Was sind die Probleme im Betrieb, die die Kollegen wirklich verändern wollen – und auch ändern können« In Bremerhaven war es z. B. der Wunsch nach einer Kantine, in Trampe die Forderung nach Übernahme der Azubis. »Wir haben Fragebogenaktionen in den Betrieben durchgeführt, um zu erfahren, wo der Schuh drückt«, so Berhe. »Dabei musste die Anonymität der Kollegen garantiert werden, denn sie riskierten damit vielleicht ihren Arbeitsplatz.« Und so begann der Weg zum Tarifvertrag bei Repower mit warmen Würstchen, die die IG Metall in Bremerhaven im Herbst 2011 an die Kollegen verteilte. Seit einiger Zeit gab es hier kein warmes Mittagessen mehr, und die Geschäftsführung war nicht bereit, Abhilfe zu schaffen. Das erste Ziel der Gewerkschafter war also, eine Kantine zu erkämpfen. Auch die war nicht von heute auf morgen zu bekommen, aber …
… die Leute entwickelten Selbstvertrauen, gemeinsam etwas erreichen zu können. Die IG Metall gewann neue Mitglieder. Irgendwann 2012 war die kritische Masse erreicht. Für Berhe markiert eine Betriebsversammlung in Osterrönfeld diesen Wendepunkt: »Die Vertrauensleute hatten Fragen gesammelt, die den Leuten auf den Nägeln brannten. Die Liste haben sie dann an den Arbeitgeber überreicht.« Ein beachtlicher Schritt, meint Berhe, immerhin hätten sich die Kollegen damit als Gewerkschafter geoutet. »Als die da hoch sind auf die Bühne, zur Geschäftsführung, wusste ich: Ab jetzt kommen die an uns nicht mehr vorbei.«

Erster Schritt auf schwierigem Gelände

Willkürliche Entlassungen, Schmäh-E-Mails und eine hohe Arbeitslosigkeit in der Region. Die Voraussetzungen für eine Betriebsratswahl beim Solarzulieferer Haticon in der Uckermark konnten nicht schlechter sein. Gemeinsam mit der IG Metall haben es die Beschäftigten trotzdem geschafft.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, metallzeitung, 02/2013

»Natürlich hatten wir Angst, als wir im März begonnen haben«, erzählt Steffen Grimm. Da war zunächst die Unerfahrenheit: »Wir hatten so etwas ja noch nie gemacht«, pflichten ihm seine Kollegen Franka Ryll und Marcel Lubahn bei. Auch die Broschüre zur Gründung eines Betriebsrats hat ihnen nicht weitergeholfen. Doch das größte Problem war ihr Arbeitgeber. Weiterlesen