Wie mit Fallpauschalen im Krankenhaus Gewinne generiert werden

Schwerstpflegepatienten und Fälle, die vor wenigen Jahren noch in Intensivstationen betreut worden wären, kommen jetzt deutlich früher in die Normalpflege. Das ist ein neuer Trend, eine Entwicklung, um Geld einzusparen bzw. Gewinne zu generieren. Die Klinikbetreiber organisieren kleine De-facto-Intensivpflegeeinheiten auf den Normalpflegestationen. Da gibt es mittlerweile Beatmungsstationen, Telemetrie-Stationen und Stroke-Units. Der Grund ist einfach: Die Intensivstationen sind, vor allem aufgrund ihres besseren Personalschlüssels, teuer. Auf den Normalstationen sind die Betten billiger. Es gibt aber das gleiche Geld für einen Fall.

Zeit für klare Regeln

Jörn Boewe kritisiert die guten Absichten der Industrie nach dem Fabrikunglück in Bangladesch. neues deutschland, 25. April 2014

Viel wird in diesen Tagen über die Textilbeschäftigten in Bangladesch berichtet. Ein Jahr nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Fabrikgebäudes, bei dem mehr als 1130 Menschen getötet und 2500 verletzt wurden, ist das Medieninteresse groß. Doch wie so oft in der »Informationsgesellschaft« gehen die entscheidenden Fragen in der Fülle der Berichte verloren. Jahrestage von Katastrophen sind die große Zeit der Absichtserklärungen, aber nicht unbedingt der Übernahme von Verantwortung.

Entwicklungsminister Gerd Müller, ein Mann, den außerhalb der CSU noch nicht viele kennen, hat für nächste Woche zu einem »Runden Tisch« geladen, an dem über ökologische und soziale Standards in der Textilindustrie geredet werden soll. Das könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, hätte der Minister nicht bereits vor Beginn der Gespräche klargestellt, dass eine gesetzliche Regelung kein Thema sein wird – bis auf Weiteres zumindest. Allenfalls wenn es nicht zu transparenten Selbstverpflichtungen des Handels komme, könne man ein Gesetz in Erwägung ziehen.

Statt klarer Regeln und wirksamer Kontrollen wird es lediglich Vorzeigeprojekte geben, mit denen sich die Ministerialbürokratie für die erste Hälfte der Legislaturperiode gut beschäftigen kann. Dabei hat gerade die Rana-Plaza-Katastrophe bewiesen, dass Selbstverpflichtungen völlig unzureichende Instrumente sind, wenn es darum gehen soll, den Beschäftigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie versagen selbst bei der akuten Nothilfe, wie der immer noch hoffnungslos unterfinanzierte Entschädigungsfonds für die Rana-Plaza-Opfer zeigt. Sollen sich die Arbeitsbedingungen der internationalen Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter nachhaltig verbessern, braucht es nicht nur einen langen Atem, sondern Regeln, die für alle gelten und bei Verstößen klare straf- und zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Letztlich ist dies auch im Sinne der Branche selbst – zumindest jener Unternehmen, die sich den Forderungen der Beschäftigten nicht völlig verschließen. Denn das Prinzip der Freiwilligkeit bestraft immer die Gutwilligen und belohnt jene, die sich auf Kosten der Mitbewerber aus der Verantwortung stehlen. Zudem haben freiwillige Vereinbarungen die Arbeitsbedingungen für Textilbeschäftigte in den vergangenen Jahren kaum verbessert. Abhilfe schaffen kann nur ein strengeres Haftungsrecht. Handelsketten, die die betriebswirtschaftlichen Vorteile der Zerstückelung von Wertschöpfungsketten in Anspruch nehmen, müssen für die Einhaltung von Mindeststandards bei ihren Zulieferern verantwortlich gemacht werden. Geschädigte und Hinterbliebene brauchen einen international gültigen Rechtsanspruch auf Wiedergutmachung. So steht es seit 2011 in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Es wäre Zeit, dass Deutschland diese Beschlüsse endlich umsetzt.

Recht auf Abschalten

Durch das mobile Internet sind Arbeitsaufgaben auch in Freizeitphasen ständig präsent. Bis heute gibt es kaum Betriebsvereinbarungen, die der modernen Arbeit gerecht werden, befindet eine aktuelle Böckler-Studie. Bei Evonik, BMW, VW werden Regelungen erprobt.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 04/2014

Als ihr altes Diensthandy vor einem Jahr beinahe auseinanderfiel, nahm Katja M. das Angebot ihres Arbeitgebers an und tauschte es gegen ein iPhone 5 aus. „Ich habe das zunächst als befreiend empfunden“, sagt die 40-Jährige, die in der Forschungsabteilung eines großen deutschen Chemieunternehmens tätig ist. „Du kannst schneller reagieren, es wurde Druck aus dem dichten Arbeitsalltag genommen.“ Bald bearbeitete sie jeden Abend Mails. Dass sie selbst nicht mehr abschalten konnte, fiel ihr erst auf, als wegen einer Sicherheitslücke im Apple-Betriebssystem sämtliche Firmengeräte ein Software-Update bekamen. Weil dabei technisch etwas schiefging, waren die iPhones des Unternehmens plötzlich auf unbekannte Zeit außer Betrieb. „Wenn ich die Firma verlasse, bin ich jetzt wieder offline“, sagt die Pharmakologin. „Seit zwei Wochen weiß ich wieder, wie sich Feierabend anfühlt.“

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Evonik-Mitarbeiter mit Smartphone: Endlich wieder wissen, wie sich Feierabend anfühlt (Foto: Evonik)


DAS ZEITREGIME DER ARBEIT LÖST SICH AUF Der Einsatz mobiler Endgeräte ist nur die Spitze des Eisbergs, meint der Sozialforscher und Arbeitsrechtler Gerd Nies. „Mindestens genauso wichtig ist die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen selber. Die ortsgebundene Produktion hat sich aufgelöst, heute wird arbeitsteiliger gefertigt, an verschiedenen Orten“, sagt Nies, der lange im Vorstand von IG Medien und ver.di tätig war. Damit löse sich auch das feste Zeitregime der Arbeit auf.

Dem DGB-Index „Gute Arbeit“ von 2011 zufolge müssen 27 Prozent der Beschäftigten „sehr häufig oder oft auch außerhalb ihrer Arbeitszeit für betriebliche Belange erreichbar sein“. Am gravierendsten ist die Situation im Dienstleistungssektor. In Pflege, Bildung und Forschung müssen über 40 Prozent der Beschäftigten regelmäßig außerhalb ihrer Arbeitszeit verfügbar sein, heißt es in einer Analyse von ver.di. Eine aktuelle Expertise der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kommt zu dem Schluss, „dass man für die Mehrheit der deutschen Beschäftigten von einer erweiterten arbeitsbezogenen Erreichbarkeit sprechen kann“. Das hat gesundheitliche Folgen: „Je mehr Arbeitsangelegenheiten ins Privatleben Einzug halten, desto größer sind arbeitsbedingte Befindensbeeinträchtigungen (Burn-out, Stress, Nicht-Abschalten, Schuldgefühle).“

Dass Handlungsbedarf besteht, haben Gewerkschaften, Betriebsräte und mittlerweile auch viele Unternehmen erkannt. Doch die neuen Herausforderungen können mit den herkömmlichen Instrumentarien nur unzureichend bewältigt werden. Gerade hat Nies gemeinsam mit der Arbeitssoziologin Gerlinde Vogl im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung rund 100 betriebliche Vereinbarungen zum Umgang mit mobiler Arbeit untersucht. Das Ergebnis war ernüchternd: „Es gibt kaum Regelungen, die der modernen Arbeit in ihrer Komplexität gerecht werden.“

GRENZEN BETRIEBLICHER REGELUNGEN Eine halbe Stunde nach Ende der Gleitzeit wird bei Volkswagen die Mailsynchronisierung für die 1100 Firmen-Blackberrys abgeschaltet. Die 2011 durchgesetzte Betriebsvereinbarung wurde zunächst überwiegend positiv aufgenommen. Doch mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. „Die Regelung löst das Problem nicht wirklich, sie reduziert ja nicht den Arbeitsumfang“, sagt Nies. „Die Mails, die die Leute abends nicht mehr lesen, haben sie dann morgens geballt.“ Für erfolgversprechender hält er den Weg, den man bei BMW geht: Mitarbeiter können die Mobilarbeit in ihre Arbeitszeitkonten eintragen und als Freizeit ausgleichen. Dies sei „spannend, weil man damit nicht versucht, Menschen, die mobil arbeiten, in ein Zeitkorsett zu stecken“, so der Forscher.

Derart weitgehende Betriebsvereinbarungen gibt es in der Chemie- und Pharmaindustrie bislang nicht. Allerdings will die IG BCE ihren Betriebsräten den Rücken stärken, „damit sie das Thema frühzeitig erkennen und handlungsfähiger werden“, sagt Sören Tuleweit, der beim IG-BCE-Vorstand für „gute Arbeit“ zuständig ist. Für beispielhaft hält er das Konzept „Always on“, das seit Anfang 2013 bei der Essener Evonik Industries verfolgt wird: Führungskräfte werden geschult, um einen bewussteren Umgang mit mobilen Endgeräten zu erreichen. Es gibt die klare Vorgabe, den Mailverkehr außerhalb der Arbeitszeit auf Notfälle zu begrenzen. Eine Kontrollsoftware misst monatlich die Aktivität der einzelnen Endgeräte, aufgeschlüsselt nach Tageszeiten und Wochentagen. Auf diese Weise soll ein „erhöhtes Bewusstsein über alle Ebenen hinweg“ entstehen, sagt der Projektverantwortliche Frank Lelke. Auch wenn es sich dabei um eine „Top-down“-Handlungsanweisung des Unternehmens handele, könne das Konzept richtungweisend für künftige Betriebsvereinbarungen sein, meint Tuleweit.

Tarifpolitisch geht ver.di das Thema bei der Deutschen Telekom an. Seit Herbst verhandelt die Gewerkschaft über einen „Tarifvertrag zur Identifikation und Auflösung betrieblicher Überlastungssituationen“. Was etwas sperrig klingt, ist als Handhabe für Betriebsräte gedacht, konkrete Gefährdungsanalysen und Abhilfemaßnahmen zu entwickeln. Nach den Vorstellungen der Gewerkschaft sollen für jeden Bereich Indikatoren vereinbart werden, mit denen die Belastungssituation gemessen und in einem „Ampelmodell“ abgebildet wird. Geraten Mitarbeiter in den „gelben“ oder „roten“ Bereich, stellen die Betriebsparteien einen verbindlichen Maßnahmen- und Zeitplan auf. Kommt keine einvernehmliche Lösung zustande, wäre eine Entscheidung vor der Einigungsstelle erzwingbar.

RECHT AUF NICHTERREICHBARKEIT Letztlich sei das Problem zu komplex, um es allein auf betrieblicher oder tarifpolitischer Ebene zu lösen, gibt ver.di-Bundesvorstandsmitglied Lothar Schröder zu bedenken. „Über zwei Jahrzehnte hinweg hat man, gesteuert durch Benchmarks, den Menschen in den Betrieben weisgemacht: Leute, ihr seid zu langsam, ihr seid zu ineffektiv, wir sind mit zu viel Personal unterwegs. Das hat zu kulturellen Verwerfungen geführt, die man nicht dadurch repariert, dass man nach 18 Uhr einen Mailserver abschaltet.“ Schröder plädiert für mehr betriebliche Gefährdungsanalysen, für Tarifverträge, die die Arbeitsbelastung begrenzen, und für ein gesetzlich verbrieftes „Recht auf Nichterreichbarkeit“, wie es die Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ 2013 in ihrem Bericht forderte. Anliegen, die auch der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel kürzlich bekräftigte.

Nötig sei letztlich eine Überarbeitung der Mitbestimmungsrechte, insistiert Arbeitsrechtler Nies. Das Betriebsverfassungsgesetz bilde die neuen Anforderungen mobiler Arbeit nicht hinreichend ab. Betriebsräte bräuchten „ein Mitbestimmungsrecht zur Mitgestaltung mobiler Arbeit“, so Nies. „Ich sage das bewusst so pauschal, weil wir es nicht mit Einzelaspekten zu tun haben.“

Mehr Informationen

Gerlinde Vogl/Gerd Nies: Mobile Arbeit. Betriebs- und Dienstvereinbarungen – Analyse und Handlungsempfehlungen. Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2013