Wirtschaftswunder durch Waffen – bringt Aufrüstung wirklich Wachstum?

Rheinmetall-Chef Armin Papperger hofft, dass Aufrüstung uns den ersehnten Aufschwung bringt. Eine Studie hat nachgerechnet, ob das gelingen kann. Wird Deutschland wirklich Wohlstand gegen Waffen eintauschen?

Armin Papperger, Vorstandschef des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, ließ sich jüngst im Handelsblatt zu einer spektakulären Zahl hinreißen: Bis zu 600.000 Arbeitsplätze könne die Aufrüstungsperspektive in Deutschland schaffen – direkt und indirekt. Das sei die Chance für die deutsche Industrie. Die Verteidigungsindustrie soll nicht mehr nur Reparaturbetrieb der NATO-Strukturen sein, sondern sich als Schlüsselbranche einer neuen deutschen Wirtschaft positionieren. Der Manager Papperger denkt in neuen Märkten, internationalen Lieferketten und visionären Wachstumschancen.

Was ist dran am Traum vom „Kriegswirtschaftswunder“? Können steigende Rüstungsausgaben wirklich als Konjunkturmotor wirken – als deutscher Sonderweg zurück zu Wachstum, Wohlstand und industrieller Stärke? Oder ist das Wunschdenken einer Branche, die sich plötzlich im Zentrum der Macht wiederfindet?

Die Idee, dass staatliche Militärausgaben wirtschaftliche Impulse setzen, geistert als Konzept eines „Rüstungskeynesianismus“ spätestens seit den 1930er Jahren durch die ökonomischen Debatten: öffentliche Aufträge für Panzer und Munition als Ersatzmotor in stagnierenden Konjunkturen. In Deutschland erlebt diese Debatte seit dem Ukrainekrieg eine brisante Renaissance. Doch die wirtschaftliche Lage erzählt eine andere Geschichte.

Über 60 Milliarden Euro umfasst der Verteidigungshaushalt 2025 – mehr als je zuvor

Während der Rheinmetall-Chef von Hunderttausenden neuer Jobs fabuliert, steckt das verarbeitende Gewerbe in der Realität tief in der Krise. Die deutsche Industrieproduktion ist seit 2017 um rund 20 Prozent eingebrochen, Investitionen wandern ins Ausland. Laut Arbeitsagentur gingen allein seit einem Jahr über 150.000 Industriearbeitsplätze verloren – vor allem in Kernbranchen wie Auto- und Maschinenbau. Die wenigen rüstungsnahen Neueinstellungen können das nicht kompensieren.

Dabei steigen die Militärausgaben kontinuierlich: Über 60 Milliarden Euro umfasst der Verteidigungshaushalt 2025 – mehr als je zuvor. Dazu kommen Mittel aus dem Sondervermögen Bundeswehr. Seit Olaf Scholz’ „Zeitenwende“-Rede im Februar 2022 haben sich die tatsächlichen Rüstungsausgaben nahezu verdoppelt. Doch von einem konjunkturellen Sogeffekt ist nichts zu sehen. Die Rüstungsindustrie bleibt eine Nische: Sie trägt weniger als ein Prozent zur Bruttowertschöpfung bei, ihre Beschäftigtenzahl liegt noch im fünfstelligen Bereich.

Dazu kommt: Ein erheblicher Teil der zusätzlichen Ausgaben verpufft in überhöhten Preisen. Beispiel Granatenproduktion: Der Stückpreis für Artilleriemunition hat sich seit 2022 vervielfacht – von unter 2.000 Euro auf bis zu 8.000 Euro je Schuss. Die Bundeswehr bekommt also für ihr Geld nicht signifikant mehr Munition, sondern zahlt das Mehrfache für dasselbe Produkt. Während sich Rüstungsunternehmen über volle Auftragsbücher freuen, leidet das industrielle Rückgrat der Volkswirtschaft unter strukturellen Problemen. Wer in dieser Lage auf Waffen als Konjunkturmotor setzt, ignoriert die empirische Wirklichkeit.

Die im Juni 2025 veröffentlichte Studie Wirtschaftliche Auswirkungen von Militärausgaben in Deutschland (PDF) von Tom Krebs und Patrick Kaczmarczyk unternimmt erstmals eine umfassende Analyse deutscher Verteidigungsausgaben und ihrer Effekte auf Wachstum und Beschäftigung. Ihr zentrales Ergebnis: Der fiskalische Multiplikator für Militärausgaben liegt im besten Fall bei etwa 0,5 – ein in Rüstung investierter Euro produziert höchstens 50 Cent zusätzliche Wirtschaftsleistung, im Extremfall gar keinen Effekt. Zum Vergleich: Investitionen in öffentliche Infrastruktur erreichen Multiplikatoren von 2, im Bildungsbereich sogar bis zu 3. Langfristig könnten Militärausgaben positive Effekte auf Produktivität haben, doch empirisch belegbar sei dies nicht. Die Autoren kommen zu einem harschen Schluss:

Aus ökonomischer Sicht ist die geplante Militarisierung der deutschen Wirtschaft eine risikoreiche Wette mit niedriger gesamtwirtschaftlicher Rendite. 
Tom Krebs, Patrick Kaczmarczyk

Ein besonders „hippes“ Wachstumsnarrativ, das derzeit in sicherheitspolitischen Thinktanks und Verteidigungsausschüssen kursiert, ist das des „innovativen Rüstungs-Ökosystems“. Junge Tech-Unternehmen, sogenannte Defense-Start-ups, sollen mit KI, Drohnentechnologie, Sensorik und Cyber-Anwendungen das verstaubte Image der Rüstungsindustrie abstreifen und für technologischen Fortschritt sorgen – mit zivilen Spillover-Effekten als Bonus.

Was nach Hightech-Zukunft klingt, bleibt bisher weitgehend symbolisch. Zwar haben einige Start-ups – etwa Helsing (KI für Gefechtsführung) oder Quantum Systems (Aufklärungsdrohnen) – mediale Aufmerksamkeit und Risikokapital eingesammelt. Doch ihr realwirtschaftlicher Beitrag zur deutschen Industrie ist bislang marginal. Ihre Beschäftigtenzahl bleibt im dreistelligen Bereich, Wertschöpfungsketten sind kurz, Produktionskapazitäten gering.

Noch gravierender: Die erhoffte zivilwirtschaftliche Ausstrahlung bleibt aus. Bisher gibt es keine empirischen Hinweise darauf, dass technologische Innovationen aus dem Defense-Sektor signifikante Impulse für benachbarte Branchen wie Maschinenbau, Fahrzeugtechnik oder Software-Entwicklung entfalten. Die Innovationslogik militärischer Start-ups folgt anderen Kriterien: Sicherheit statt Effizienz, Geheimhaltung statt Open Source, Exklusivvergabe statt Wettbewerb. Der Transfer in breite industrielle Anwendungen ist strukturell gehemmt.

Der Sozialstaat schrumpft leise, während der Sicherheitsstaat laut expandiert

Auch die Mannheimer Studie dämpft die Erwartungen: Zwar seien technologieorientierte Rüstungsausgaben grundsätzlich in der Lage, wachstumswirksame Investitionen auszulösen. Aber nur, wenn sie systematisch mit einer breiten industriellen Wertschöpfung und zivilem Technologietransfer gekoppelt würden. Genau das ist bei bisherigen Defense-Start-ups nicht der Fall. So bleibt das Militär-Tech-Narrativ bislang vor allem Marketing. Es dient dazu, sicherheitspolitische Aufrüstung mit wirtschaftspolitischer Legitimation zu versehen – als vermeintliche Investition in Zukunft, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit.

Während der Verteidigungshaushalt jährlich wächst und das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr nahezu vollständig verplant ist, wird an anderer Stelle gespart – oder genauer: ausgelagert. Das betrifft zunehmend staatliche Infrastrukturinvestitionen. Sichtbar wird dies ausgerechnet am Sondervermögen „Infrastruktur und Klimaneutralität“ (SVIK). Offiziell handelt es sich dabei um einen Topf für zukunftsgerichtete Investitionen in Schiene, Straße, Digitalisierung und klimaneutrale Energie. Doch de facto ist der Fonds ein haushaltspolitisches Ausweichmanöver.

Was früher aus dem regulären Etat finanziert wurde, wird heute in Nebenhaushalte verschoben. Ein aktueller Kurzbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) kritisiert deutlich, das SVIK werde gezielt genutzt, um reguläre Infrastrukturaufgaben aus dem klassischen Haushalt auszulagern und Luft für andere Prioritäten zu schaffen. Während Panzerkäufe, Raketenprogramme und digitale Gefechtszentren weiter über den Kernhaushalt oder das Sondervermögen Bundeswehr laufen, wird der Neu- und Ausbau von Schienenstrecken oder Glasfasernetzen ins Nebenbuch verbannt. So wächst ein politisches System, das Prioritäten per fiskalischer Architektur verschiebt, ohne die politische Debatte offen zu führen. Der Sozialstaat schrumpft leise, während der Sicherheitsstaat laut expandiert.

Was Deutschland statt eines rüstungsgetragenen Wirtschaftswunders braucht

Selbst wenn rüstungsgetriebenes Wachstum in Teilen denkbar wäre – es wäre teuer erkauft. Eine Ökonomie, deren Impulse von Panzerfabriken und Munitionslinien ausgehen, verändert den politischen Maßstab: Öffentliche Investitionen werden nicht mehr primär daran gemessen, wie sie Bildung, Klimaschutz oder soziale Teilhabe stärken, sondern wie „kriegstüchtig“ sie machen. Was unter dem Label „Sicherheit“ firmiert, meint nicht mehr soziale Absicherung, sondern militärische Abschreckung.

Gleichzeitig wird der Verteilungskonflikt stumm geschaltet. Während Milliarden in die Rüstung fließen, fehlen sie an anderer Stelle: bei der Sanierung von Schulen, im öffentlichen Nahverkehr, in der Pflege. Statt dass die Debatte offen geführt wird, wird sie umgedeutet: Wer Investitionen in Rüstung kritisiert, gefährdet die Sicherheit – und macht sich mit dem Aggressor gemein. Ein solches Klima schwächt die öffentliche wie die parlamentarische Debatte, diszipliniert soziale Bewegungen und normalisiert autoritäre Töne. Ein Aufschwung auf dieser Grundlage wäre kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt – ökonomisch fragil, sozial regressiv, politisch gefährlich.

Statt der gefährlichen Illusion von einem rüstungsgetragenen Wirtschaftswunder braucht Deutschland eine sozial-ökologische Industriestrategie: Investitionen in Infrastruktur, Energie, Bildung, Pflege, Verkehr – gestützt auf demokratische Kontrolle und langfristige Gerechtigkeitsziele. Nur so entsteht ein echter Aufbruch. Wer auf Panzer als Konjunkturmotor setzt, spielt mit der Zukunft. Nicht nur der der Wirtschaft, sondern der der demokratischen Gesellschaft.

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Industrie im Rückwärtsgang

Die Regierung Merz propagiert Standortstärkung, doch die Realität ist geprägt von Entlassungen, Investitionsverlagerungen und sozialem Rückbau

„Der Jobabbau in der Industrie schaltet vom dritten in den fünften Gang: Von Juli 2024 bis Juli 2025 sind – nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit – in Deutschland 154.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor – von Juli 2023 bis Juli 2024 – waren es noch 65.000, und das war schon viel. Die Geschwindigkeit, mit der Jobs in der deutschen Industrie verschwinden, hat sich binnen Jahresfrist mehr als verdoppelt […]

Zugleich geht die Industrieproduktion deutlich zurück: Sie lag im August um 3,9 Prozent unter dem Output ein Jahr zuvor. […] Seit ihrem Höchststand im November 2017 ist die Industrieproduktion in Deutschland um fast 20 Prozent, also ein Fünftel, geschrumpft.[…]

Die Merz-Regierung steht an einem neuralgischen Punkt: eingekeilt zwischen einer eskalierenden geopolitischen Lage, einem globalen Wettlauf um technologische Vorherrschaft und dem sichtbaren Bedeutungsverlust des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Doch statt Antworten auf die komplexen Herausforderungen der Gegenwart zu liefern, verfängt sich die Bundesregierung zunehmend in einem autoritären Reaktionsmuster: Sozialabbau, Deregulierung, Kriegshysterie.“

>>> Freitag, 42/2025 >>>

 

Wie Politik, Militär und Industrie die Demokratie umbauen

Rüstung boomt, Kritik verstummt. Die „Zeitenwende“ wird zur Chiffre für eine neue Machtordnung: autoritär, konzernnah, kriegsbereit. Jörn Boewe zeigt im aktuellen Freitag (33/2025), was das für Demokratie, Sozialstaat – und die Gewerkschaften bedeutet. Wer nicht mitrüstet, gilt als illoyal. Wer widerspricht, als verdächtig.

Unsere Rüstungsausgaben steigen, die Debatten verrohen, und in den Talkshows sitzen Verteidigungsminister, Rüstungslobbyisten und Generäle zunehmend auf einer ideologischen Bank. Wer aufmerksam zuhört, dem fällt auf: Die Sprache wird kriegerischer, die Narrative disziplinierender. Und die Verflechtungen zwischen Politik, Militär und Rüstungsindustrie enger. Ist die sogenannte „Zeitenwende“ dabei, das Machtgefüge der Bundesrepublik neu zu justieren? Weiterlesen

Gewalt ist mehr als ein Schlag ins Gesicht

Gewalt beginnt nicht mit Fäusten, sondern mit Worten – und mit Macht. Christian Neuhäuser spricht im Freitag 26/2025 über die alltägliche Brutalität der Ungleichheit, über diffamierende Diskurse, entwürdigende Bürokratien und moralische Überheblichkeit von oben. Wer Demokratie ernst meint, muss soziale Gewalt erkennen – und handeln. Ein Gespräch über Repräsentation, Eigentum und kulturelle Teilhabe. >>> Interview als PDF >>>

Wolfgang M. Schmitt über Moral: „Wir erleben eine Kränkung des westlichen Subjekts“

Der Neoliberalismus ist nicht tot, sagt der Kulturkritiker Wolfgang M. Schmitt – und er passe sehr gut zum neuen Rüstungspatriotismus. Ein Gespräch über Krieg, Klima, Corona – und die Frage, was Anlass zu Optimismus gibt

„Disneyland-Ökonomie“ statt Wirtschaftsstabilität: Tom Krebs über Deutschlands fatale Krisenpolitik

Tom Krebs, Professor für Makroökonomik und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim, forscht zu den Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf Wachstum und Lebensqualität und ist Mitglied der Mindestlohnkommission. In seinem Buch „Fehldiagnose. Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“ kritisiert er die marktliberale Krisenpolitik und warnt vor langfristigen Folgen, die Deutschlands Wirtschaft bedrohen. Jörn Boewe hat mit ihm für die Wochenzeitung der Freitag (44/2024) gesprochen: über das Scheitern der Ampel-Koalition, die gefährliche Rolle der Mainstream-Ökonomen und die Folgen für unsere Gesellschaft.

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Planlos ins Desaster

Die EU macht mit Einfuhrzöllen auf chinesische E-Autos ernst – doch welchen Preis zahlen wir dafür? In unserem Artikel „Planlos ins sozial-ökologische Desaster: Das Versagen der europäischen Autoindustrie“ in der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik analysieren wir, wie Brüssel mit einer neuen protektionistischen Strategie versucht, europäische Automobilkonzerne zu schützen. Doch statt der heimischen Industrie zu helfen, könnte die Maßnahme Millionen Arbeitsplätze gefährden und den Fortschritt in der ökologischen Verkehrswende bremsen. Ist die europäische Autoindustrie dabei, den Anschluss endgültig zu verlieren? Was sind die Hintergründe für die Krise der traditionellen europäischen Hersteller? Welche Rolle spielt die Industriepolitik? >>>

Wer in der Krise am Lenkrad sitzt

Alarm in der Autoindustrie: Ausgerechnet bei Bosch, dem weltgrößten Zulieferer, geht die Belegschaft auf die Barrikaden – aus Angst vor Stellenabbau und Wut über die Abkehr des Managements von der Sozialpartnerschaft. Bei den Protesten gegen den Stellenabbau beim weltgrößten Automobilzulieferer Bosch geht es auch um die Frage: Kann die IG Metall verhindern, dass die Beschäftigten unter die Räder der Transformation kommen? Unsere Hintergrundstory im aktuellen Freitag (13/2024). Am Kiosk und im Abo.
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Wut und Würde

Um Wut und Würde geht es in zwei Interviews, die Jörn Boewe für den Freitag (04/2024) geführt hat – eines mit Hans-Jürgen Urban vom IG-Metall-Vorstand und eines mit Jana Costas, Professorin für People, Work and Management an der Viadrina-Universität Frankfurt (Oder), die ein halbes Jahr als Reinigungskraft am Potsdamer Platz in Berlin gearbeitet und darüber ein Buch geschrieben hat.

„Wenn die Menschen mit einer schlechten Politik unzufrieden sind“, sagt Urban, “ ist das […] eher positiv als negativ. Selbst Wut kann Positives bewirken. Wichtig ist, dass
der Unzufriedenheit Aufklärung antwortet und dass aus Wut linke Wut wird.“

Das ist nicht weit weg von einer Beobachtung, die Jana Costas reflektiert: „Um zu sagen, ich kann gemeinsam mit anderen etwas verändern, muss ich erst mal das Gefühl haben, ich bin wer und kann etwas sagen.[…] Wenn du permanent nicht als Subjekt wahrgenommen wirst, kostet es ziemliche Kraftanstrengungen, zu sagen: Ja, wir können was verändern, und auch meine Stimme zählt.“

Ab sofort im gut sortierten Zeitungs- und Zeitschriftenhandel.