Leuchttürme der Prekarisierung

Von Jörn Boewe, neues deutschland, 20. März 2015

Für 1,3 Milliarden Euro hat sich die Europäische Zentralbank (EZB) ihren neuen Hauptsitz in Frankfurt-Ostend errichten lassen. Das war ein Drittel mehr als geplant. In Europas Krisenstaaten, in denen die EZB auf die Umsetzung von »Arbeitsmarktreformen« drängt, die im Kern Lohnsenkungen und den Abbau von Beschäftigtenrechten bedeuten, dürfte der Megabau als obszöne Machtdemonstration verstanden werden. Ob das so beabsichtigt oder einfach nur in Kauf genommen wird, darüber lässt sich nur spekulieren. Fest steht dagegen, dass die EZB nicht nur im großen Maßstab die Prekarisierung der Arbeitsmärkte vorantreibt. Sie tut das auch nach innen, gegenüber den eigenen Mitarbeitern oder genauer: gegenüber einem wachsenden Teil der eigenen Beschäftigten. Weiterlesen

Mitbestimmung als Glaubensfrage

Das Johannische Sozialwerk will nicht wahrhaben, dass ein Betriebsrat gewählt wurde

Die Betriebsratswahl beim Johannischen Sozialwerk wirft ein Schlaglicht auf ein Grundproblem des deutschen Arbeitsrechts – das Privileg der Kirchen, ihre eigenen Gesetze zu machen.

Von Jörn Boewe, neues deutschland, 27. Feb. 2015

»Guten Tag … ich bin erst wieder ab 9. März im Büro«, teilt die telefonische Abwesenheitsansage der Personalchefin des Johannischen Sozialwerks mit. Für die Wohlfahrtseinrichtung der Johannischen Kirche, einer kleinen evangelischen Freikirche mit bundesweit 3000 Mitgliedern, bedeutet das nichts Gutes. Denn auf dem Tisch liegen Anträge des Betriebsrates, und über die sollte bis zum 6. März entschieden sein. Passiert bis dahin nichts, droht ein Konflikt vor dem Arbeitsgericht. Weiterlesen

Dienstplanung per Smartphone

„Die Produktion vernetzt sich. Maschinen werden digital miteinander verbunden, um automatisch auf Sonderwünsche aus dem Internet zu reagieren. Industrie 4.0, Cloud-Working oder Internet der Dinge – die Begriffe, die den Wandel beschreiben, sind unbestimmt und schnelllebig. Es geht letztlich nicht um Datenschnittstellen zwischen technischen Geräten: Die Digitalisierung der Arbeitswelt zielt vor allem auf die Beschäftigten.“ weiterlesen im Magazin Mitbestimmung, 12/2014

Wie Firmen unbequeme Mitarbeiter jagen

Auch in Deutschland hat sich mittlerweile ein weitverzweigtes Netzwerk entwickelt, das daran arbeitet, die kollektive Interessenvertretung abhängig Beschäftigter aus Betrieben zu drängen oder bereits im Keim zu ersticken. Große Anwaltskanzleien wie Helmut Naujoks oder Schreiner und Partner gehören dazu ebenso wie PR-Agenturen, Überwachungsfirmen, Unternehmensstiftungen und arbeitgeberfinanzierte Universitätsinstitute. »Wir Fimen unbequeme Mitarbeiter jagen« – so der Titel unserer aktuellen Besprechung des Buches »Die Fertigmacher« von Elmar Wigand und Werner Rügemer in der Wochenzeitung Der Freitag.

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„Blogs machen unsere Arbeit einfacher“

Timm Boßmann, Betriebsrat bei der Verlagsgruppe Weltbild, über strategische Kommunikation im Internet und den Bedeutungszuwachs gewerkschaftlichen Bloggens. Das Gespräch führten Johannes Schulten und Jörn Boewe, Magazin Mitbestimmung, 11/2014

Warum ist es für Betriebsräte und aktive Gewerkschafter sinnvoll, Öffentlichkeitsarbeit über das Internet zu betreiben?

Information und Öffentlichkeitsarbeit sind die Grundlage jeder Interessenvertretung. Und das Medium mit der größten Reichweite ist das Internet. Deshalb ist es nur logisch, dort auch mit der betrieblichen Interessenvertretung präsent zu sein. Dazu kommt, dass ein Blog leicht zu bedienen ist. Verglichen mit dem Aufwand, den man für eine Betriebszeitung braucht, nimmt ein Blog nur zehn Prozent der Zeit in Anspruch. Weiterlesen

Im Minenfeld

Zwischen Friedensbewegung und Rüstungslobby: Die öffentliche Debatte um Kampfdrohnen und Waffenexporte hat eine alte Kontroverse in der IG Metall wieder aufleben lassen.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 10/2014

Die Friedensbotschaft zuerst: Die IG Metall diskutiert wieder über Rüstungskonversion. Und jetzt der Frontbericht: Eine sonderlich friedliche Debatte ist es nicht, die der Zweite Bevollmächtigte aus Ingolstadt, Bernhard Stiedl, Anfang Juli losgetreten hat.

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EuroHawk-Drohne im Landeanflug. Foto: P. Hayer, commons.wikimedia.org

„Ein europäisches Drohnenprogramm würde am bayerischen Standort Manching 1500 Arbeitsplätze sichern“, sagte Stiedl, der für die IG Metall den Rüstungskonzern EADS betreut, der „Welt am Sonntag“. Und Jürgen Kerner, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall und dort zuständig für die Branche, fügte im „Spiegel“ hinzu: „Wenn wir uns über deren Anschaffung einig sind, dann sollten die Drohnen in Deutschland entwickelt werden.“ Weiterlesen

Arbeiterbewegung2.0 online now

Ob bei Amazon, Enercon, Hugendubel oder „neulich bei Netto“ – bei Streiks und gewerkschaftlichen Organisierungsprozessen spielen Blogs und soziale Onlinemedien eine immer wichtigere Rolle. Bestimmten vor wenigen Jahren noch altbackende „Verlautbarungs-Homepages“ der Gewerkschaftsvorstände das Bild, laufen ihnen mittlerweile kollektiv betriebene Blogs und Facebookgruppen den Rang ab. Diese Entwicklung ist Thema unseres Artikels „Bockwurst war gestern“ in der aktuellen Ausgabe des Freitag, die ab sofort an jedem gut sortierten Zeitungskiosk erhältlich ist. Weiterlesen

Im Blog wird’s diskutiert

ver.di online – Beim Einzelhändler Weltbild, und nicht nur dort, setzen immer mehr ver.di-Betriebsgruppen auf Information und Austausch im Netz

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, ver.di publik 05/2014

Nicht alle Kommentare, die dieser Tage auf dem ver.di-Weltbild-Blog gepostet werden, sind lobend: „Mehr persönliche Gespräche“ von Betriebsrat und ver.di fordert Anonym am 23. Juni um 5.32 Uhr, ein ebenfalls anonymer Kollege beklagt, nicht ausreichend informiert zu werden. Andere jedoch danken dem Betriebsrat für seine „Offenheit“ und bestärken ihn darin, „weiterzumachen wie bisher“.

Auch wenn die Kritik manchmal hart ist – Timm Boßmann trägt es mit Fassung. „Mir ist es lieber, als wenn so was nur in der Teeküche geäußert wird. So kann ich die Kritik aufnehmen und dazu Stellung nehmen“, sagt er. Boßmann ist stellvertretender Betriebsratsvorsitzender von Weltbild und eins von fünf Mitgliedern der Redaktion des ver.di-Blogs. Im Juni sitzt er in Verhandlungen mit dem Insolvenzverwalter. „Die Kollegen haben Probleme mit der Ungewissheit und wollen durchgehend informiert werden. Aber wir können nicht jedes Gerücht kommentieren, sondern nur den Stand melden.“

Kommunikation übers Netz

Sechs Monate ist es her, seit die Augsburger Verlagsgruppe Weltbild Insolvenz an gemeldet hat. Die Übernahme durch den Münchner Finanzinvestor Paragon gilt inzwischen zwar als sicher, doch es bleiben noch viele Fragezeichen: Wie viele Beschäftigte werden übernommen? Was passiert mit den Gehältern? Wann gibt es die Abfindungen für die, die in die Transfergesellschaft gewechselt sind?

Kein Wunder, dass viele nervös sind und schnell gereizt reagieren. Der Weltbild-Blog von ver.di ist der zentrale Ort der Diskussion für die Belegschaft, entsprechend geht es hier konkret zur Sache. Den Blog als Informations- und Debatteninstrument schätzt Timm Boßmann gerade in Krisenzeiten. Wer Transparenz wolle, müsse auch mit Kritik umgehen können, sagt er.

Kommunikation über das Netz ist für Gewerkschaft, Betriebsrat und Belegschaft bei Weltbild nicht ganz neu. Seit 2009 wird unter weltbild-verdi.blogspot.de gepostet, diskutiert und informiert. Boßmann war von Anfang an dabei, er gilt als einer der Pioniere des gewerkschaftlichen Bloggens.

Das Beispiel wirkt

Dem Beispiel der ver.di-Blogger bei Weltbild sind andere gefolgt. Ob bei Weltbild, Amazon, Edeka, Netto oder Hugendubel – Gewerkschaft und Aktive setzen heute immer öfter auf kollektiv betriebene Blogs, ebenso wie auf Facebook-Gruppen und Twitter. Und die Erfahrungen zeigen: Gerade in Arbeitskämpfen und harten Auseinandersetzungen machen Social Media die Gewerkschaften stärker. So zuletzt in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes: Als Kitas schlossen und Busse in ihren Depots blieben, erklärten Erzieherinnen und Busfahrer bei facebook und Twitter, warum sie sich zum Streik entschlossen hatten. Die Klickzahlen sprechen für sich: 1,34 Millionen mal wurde hugendubelverdi.blogspot.de seit Gründung im November 2010 aufgerufen, beim ver.di-Blog des Gartenbaucenters Dehner sind es 620 000 Klicks.

„Blogs helfen uns, Defizite traditioneller Formen der Gewerkschaftsarbeit zu kompensieren“, sagt Hubert Thiermeyer, der Leiter des ver.di-Fachbereichs Handel in Bayern. „Besonders dort, wo die Gewerkschaften in den letzten zwei Jahrzehnten durch Flexibilisierung, Outsourcing und Prekarisierung geschwächt wurden, wie im Handel.“ Verlängerte Öffnungszeiten und oft sehr kleinteilige Filialstrukturen führen dazu, dass die Leute sich kaum noch über ihre Arbeit austauschen können. „Doch die gemeinsame Reflexion ist Voraussetzung dafür, aktiv zu werden“, sagt Thiermeyer. Raum dafür könne heute virtuell zumindest zum Teil wiederhergestellt werden, so in einem gemeinsamen Blog.

Argumente für die Öffentlichkeit

In den Blogs bei Amazon, Edeka, Netto oder Hugendubel geht es aber nicht nur darum, die eigene Belegschaft zu mobilisieren. Auch für die Auseinandersetzung in den Medien sind sie ein wichtiges Instrument, denn sie bieten die Möglichkeit, die Probleme der Beschäftigten detailliert und direkt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Die Unternehmer haben fast so viel Angst vor Blogs wie vor Streiks“, sagt Thiermeyer. Wer sich skandalös verhalte, scheue schließlich nichts so sehr wie die Öffentlichkeit.

Neben seiner Betriebsratstätigkeit engagiert sich Timm Boßmann in der gewerkschaftlichen Bildung, er organisiert Blogger-Schulungen und Schreib-Workshops. Viele der ver.di-blogs hat er in ihrer Startphase beraten. Sein Credo: „Blogs machen kann jeder, es braucht nur ein paar Regeln. Die Sätze sollten verständlich und kurz sein, der Inhalt muss regelmäßig aktualisiert werden.“ Wichtig ist ihm auch: „Die Blogs müssen von unten kommen. Die Aktiven müssen die Linie bestimmen.#

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Tipp: Das nächste Blogger-Seminar mit Timm Boßmann findet vom 29. September bis 1. Oktober in der ver.di-Bildungsstätte Brannnenburg statt.

www.haus-brannenburg.de

Zu den Blogs:

hugendubelverdi.blogspot.de
edeka-nst-verdi.blogspot.com
weltbild-verdi.blogspot.com

Betriebsräte werden erpresst

Unternehmer sind kreativ, geht es um die Verhinderung der Übernahme von Leiharbeitern

Erstmals können Leiharbeiter tariflichen Anspruch auf Festeinstellung anmelden. Doch viele Unternehmen nutzen ein Schlupfloch im Tarifvertrag.


Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, neues deutschland, 13. Juni 2014

Der Juni sollte für viele Leiharbeiter in der Metallindustrie ein guter Monat werden. Dieser Tage tritt eine Regelung des Tarifvertrages Leih-/Zeitarbeit in Kraft. Danach haben Leiharbeitsbeschäftigte, die länger als 24 Monate in einem Betrieb sind, einen Anspruch auf eine unbefristete Übernahme. Allerdings scheinen viele Unternehmen sehr findig zu werden, wenn es darum geht, die vereinbarten Einstellungen zu umgehen. Nach »nd«-Recherchen stehen Betriebsräte vielerorts unter Druck, kurzfristig Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Der tarifliche Übernahmeanspruch gilt nämlich nur, sofern in Betriebsvereinbarungen zum Einsatz von Leiharbeitern nichts anderes festgelegt ist.

Die IG Metall betrachtet die Entwicklung mit Sorge. »Es vergeht kein Tag, an dem nicht Betriebsräte unter Druck gesetzt werden, den Tarifvertrag zu unterlaufen«, sagt Bodo Grzonka, der beim IG Metall Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen für Leiharbeit zuständig ist. Den gleichen Trend beobachtet man auch im Bezirk Baden-Württemberg. In welchem Umfang dies geschieht, könne man jedoch noch nicht sagen. »Wir haben deshalb unsere Verwaltungsstellen aufgefordert, alle Informationen zusammenzutragen, um uns ein Bild machen zu können«, sagte eine Sprecherin auf Anfrage.

Anderswo wurden Leiharbeiter in großem Maßstab nach Hause geschickt. So etwa in Bielefeld: Anstatt ihnen ein Angebot auf eine unbefristete Stellen vorzulegen, meldete der Automobilzulieferer Gestamp in den letzten Wochen etwa 80 Leiharbeiter ab und ersetzte sie durch neue, schlechter entlohnte. »Viele der Betroffenen waren vier bis fünf Jahre im Betrieb«, sagt Gewerkschaftssekretär Oguz Önal von der IG Metall Bielefeld. »Die Abmeldungen kamen völlig überraschend.« Denn auch bei Gestamp gab es eine Betriebsvereinbarung. Die sah für die Leiharbeiter eine kontinuierliche Lohnsteigerung von rund zehn auf 15,40 Euro pro Stunde vor, machte allerdings eine Übernahme nach 24 Monaten nicht zwingend. »Offenbar hat die Geschäftsführung rechtliches Risiko gesehen und gehandelt, wie sie gehandelt hat«, vermutet Önal.

Massenabmeldungen als Umgehungsstrategie scheinen allerdings die Ausnahme zu sein. Haupttrend sei auch in seiner Region, dass Unternehmen Betriebsräte unter Druck setzen. »Es werden Drohszenarien aufgebaut«, sagt der Gewerkschaftssekretär. In solchen Abkommen kann dann die 24-Monate-Frist erweitert werden, oder es wird nur ein Teil der Leiharbeiter übernommen, die eigentlich einen Anspruch hätten. Das Phänomen ist nicht auf kleine und mittlere Betriebe beschränkt: »Wir beobachten das in Unternehmen mit 150 Beschäftigten, aber auch in solchen mit 1500.« Um nicht auf die Flexibilität, die Leiharbeit bietet, verzichten zu müssen, sind die Unternehmen häufig bereit, Zugeständnisse für die Leiharbeitsbeschäftigten bis hin zu »Equal Pay« zu akzeptieren. Viele Betriebsräte lassen sich auf Vereinbarungen ein, so Önal. Der Anspruch des Tarifvertrages, Leiharbeit als dauerhaftes Instrument aus der Welt zu schaffen, wird in jedem Fall unterlaufen.

Es gibt aber auch Beispiele, wo der Tarifvertrag vergleichsweise problemlos umgesetzt wird. So sollen beim Eisenbahnbauer Bombardier in Hennigsdorf bei Berlin in diesen Tagen etwa 30 Leiharbeiter eingestellt werden, weil sie mehr als 24 Monate im Unternehmen beschäftigt sind. Die Regel ist das allerdings nicht, sagt Gewerkschaftssekretär Grzonka. Viele Betriebsräte in unserem Zuständigkeitsbereich werden erpresst, den Tarifvertrag zu unterlaufen.«

Gesamtmetall empfiehlt seinen Mitgliedsunternehmen ausdrücklich, Vorkehrungen zu treffen, um den Übernahmeanspruch zu vermeiden. »Verpflichten Sie das Zeitarbeitsunternehmen, Ihnen die Überlassungsdauer eines Zeitarbeitnehmers nach zum Beispiel 16 beziehungsweise 22 Monaten schriftlich mitzuteilen«, heißt es in einem »Handlungsleitfaden Zeitarbeit« des Unternehmerverbandes. »Möglich wäre auch die Vereinbarung, dass die Einsatzzeit 24 Monate nicht erreichen darf.«

Allerdings sei der Einsatz von Leiharbeitern momentan zumindest in Teilen auch konjunkturbedingt rückläufig, gibt Witich Roßmann, Bevollmächtigter der IG Metall Köln-Leverkusen, zu Bedenken. Viele Abmeldungen erfolgen daher nicht nur unter dem Zwang der 24-Monate-Regel, sondern wegen einer moderaten Auftragsauflage. Zugleich gebe es einen Trend zur »Qualifiziertenauswahl« unter den Leiharbeitern. Ein Teil wird übernommen, ein Teil wird abgemeldet und durch andere ersetzt.

Entgegen aller Unkenrufe scheint die Leiharbeitsbranche ganz gut mit den Regulierungen leben zu können. Die größten deutschen Leiharbeitsunternehmen rechnen in diesem Jahr mit einem Umsatzwachstum von 8,2 Prozent, wie eine aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstituts Lünendonk ergab. War die Zahl der Leiharbeitnehmer im vergangenen Jahr noch um fünf Prozent gesunken, habe sich die Nachfrage der Unternehmen Anfang dieses Jahres wieder stabilisiert. 2014 dürfte die Zahl der Leiharbeiter wieder steigen.

Recht auf Abschalten

Durch das mobile Internet sind Arbeitsaufgaben auch in Freizeitphasen ständig präsent. Bis heute gibt es kaum Betriebsvereinbarungen, die der modernen Arbeit gerecht werden, befindet eine aktuelle Böckler-Studie. Bei Evonik, BMW, VW werden Regelungen erprobt.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 04/2014

Als ihr altes Diensthandy vor einem Jahr beinahe auseinanderfiel, nahm Katja M. das Angebot ihres Arbeitgebers an und tauschte es gegen ein iPhone 5 aus. „Ich habe das zunächst als befreiend empfunden“, sagt die 40-Jährige, die in der Forschungsabteilung eines großen deutschen Chemieunternehmens tätig ist. „Du kannst schneller reagieren, es wurde Druck aus dem dichten Arbeitsalltag genommen.“ Bald bearbeitete sie jeden Abend Mails. Dass sie selbst nicht mehr abschalten konnte, fiel ihr erst auf, als wegen einer Sicherheitslücke im Apple-Betriebssystem sämtliche Firmengeräte ein Software-Update bekamen. Weil dabei technisch etwas schiefging, waren die iPhones des Unternehmens plötzlich auf unbekannte Zeit außer Betrieb. „Wenn ich die Firma verlasse, bin ich jetzt wieder offline“, sagt die Pharmakologin. „Seit zwei Wochen weiß ich wieder, wie sich Feierabend anfühlt.“

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Evonik-Mitarbeiter mit Smartphone: Endlich wieder wissen, wie sich Feierabend anfühlt (Foto: Evonik)


DAS ZEITREGIME DER ARBEIT LÖST SICH AUF Der Einsatz mobiler Endgeräte ist nur die Spitze des Eisbergs, meint der Sozialforscher und Arbeitsrechtler Gerd Nies. „Mindestens genauso wichtig ist die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen selber. Die ortsgebundene Produktion hat sich aufgelöst, heute wird arbeitsteiliger gefertigt, an verschiedenen Orten“, sagt Nies, der lange im Vorstand von IG Medien und ver.di tätig war. Damit löse sich auch das feste Zeitregime der Arbeit auf.

Dem DGB-Index „Gute Arbeit“ von 2011 zufolge müssen 27 Prozent der Beschäftigten „sehr häufig oder oft auch außerhalb ihrer Arbeitszeit für betriebliche Belange erreichbar sein“. Am gravierendsten ist die Situation im Dienstleistungssektor. In Pflege, Bildung und Forschung müssen über 40 Prozent der Beschäftigten regelmäßig außerhalb ihrer Arbeitszeit verfügbar sein, heißt es in einer Analyse von ver.di. Eine aktuelle Expertise der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kommt zu dem Schluss, „dass man für die Mehrheit der deutschen Beschäftigten von einer erweiterten arbeitsbezogenen Erreichbarkeit sprechen kann“. Das hat gesundheitliche Folgen: „Je mehr Arbeitsangelegenheiten ins Privatleben Einzug halten, desto größer sind arbeitsbedingte Befindensbeeinträchtigungen (Burn-out, Stress, Nicht-Abschalten, Schuldgefühle).“

Dass Handlungsbedarf besteht, haben Gewerkschaften, Betriebsräte und mittlerweile auch viele Unternehmen erkannt. Doch die neuen Herausforderungen können mit den herkömmlichen Instrumentarien nur unzureichend bewältigt werden. Gerade hat Nies gemeinsam mit der Arbeitssoziologin Gerlinde Vogl im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung rund 100 betriebliche Vereinbarungen zum Umgang mit mobiler Arbeit untersucht. Das Ergebnis war ernüchternd: „Es gibt kaum Regelungen, die der modernen Arbeit in ihrer Komplexität gerecht werden.“

GRENZEN BETRIEBLICHER REGELUNGEN Eine halbe Stunde nach Ende der Gleitzeit wird bei Volkswagen die Mailsynchronisierung für die 1100 Firmen-Blackberrys abgeschaltet. Die 2011 durchgesetzte Betriebsvereinbarung wurde zunächst überwiegend positiv aufgenommen. Doch mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. „Die Regelung löst das Problem nicht wirklich, sie reduziert ja nicht den Arbeitsumfang“, sagt Nies. „Die Mails, die die Leute abends nicht mehr lesen, haben sie dann morgens geballt.“ Für erfolgversprechender hält er den Weg, den man bei BMW geht: Mitarbeiter können die Mobilarbeit in ihre Arbeitszeitkonten eintragen und als Freizeit ausgleichen. Dies sei „spannend, weil man damit nicht versucht, Menschen, die mobil arbeiten, in ein Zeitkorsett zu stecken“, so der Forscher.

Derart weitgehende Betriebsvereinbarungen gibt es in der Chemie- und Pharmaindustrie bislang nicht. Allerdings will die IG BCE ihren Betriebsräten den Rücken stärken, „damit sie das Thema frühzeitig erkennen und handlungsfähiger werden“, sagt Sören Tuleweit, der beim IG-BCE-Vorstand für „gute Arbeit“ zuständig ist. Für beispielhaft hält er das Konzept „Always on“, das seit Anfang 2013 bei der Essener Evonik Industries verfolgt wird: Führungskräfte werden geschult, um einen bewussteren Umgang mit mobilen Endgeräten zu erreichen. Es gibt die klare Vorgabe, den Mailverkehr außerhalb der Arbeitszeit auf Notfälle zu begrenzen. Eine Kontrollsoftware misst monatlich die Aktivität der einzelnen Endgeräte, aufgeschlüsselt nach Tageszeiten und Wochentagen. Auf diese Weise soll ein „erhöhtes Bewusstsein über alle Ebenen hinweg“ entstehen, sagt der Projektverantwortliche Frank Lelke. Auch wenn es sich dabei um eine „Top-down“-Handlungsanweisung des Unternehmens handele, könne das Konzept richtungweisend für künftige Betriebsvereinbarungen sein, meint Tuleweit.

Tarifpolitisch geht ver.di das Thema bei der Deutschen Telekom an. Seit Herbst verhandelt die Gewerkschaft über einen „Tarifvertrag zur Identifikation und Auflösung betrieblicher Überlastungssituationen“. Was etwas sperrig klingt, ist als Handhabe für Betriebsräte gedacht, konkrete Gefährdungsanalysen und Abhilfemaßnahmen zu entwickeln. Nach den Vorstellungen der Gewerkschaft sollen für jeden Bereich Indikatoren vereinbart werden, mit denen die Belastungssituation gemessen und in einem „Ampelmodell“ abgebildet wird. Geraten Mitarbeiter in den „gelben“ oder „roten“ Bereich, stellen die Betriebsparteien einen verbindlichen Maßnahmen- und Zeitplan auf. Kommt keine einvernehmliche Lösung zustande, wäre eine Entscheidung vor der Einigungsstelle erzwingbar.

RECHT AUF NICHTERREICHBARKEIT Letztlich sei das Problem zu komplex, um es allein auf betrieblicher oder tarifpolitischer Ebene zu lösen, gibt ver.di-Bundesvorstandsmitglied Lothar Schröder zu bedenken. „Über zwei Jahrzehnte hinweg hat man, gesteuert durch Benchmarks, den Menschen in den Betrieben weisgemacht: Leute, ihr seid zu langsam, ihr seid zu ineffektiv, wir sind mit zu viel Personal unterwegs. Das hat zu kulturellen Verwerfungen geführt, die man nicht dadurch repariert, dass man nach 18 Uhr einen Mailserver abschaltet.“ Schröder plädiert für mehr betriebliche Gefährdungsanalysen, für Tarifverträge, die die Arbeitsbelastung begrenzen, und für ein gesetzlich verbrieftes „Recht auf Nichterreichbarkeit“, wie es die Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ 2013 in ihrem Bericht forderte. Anliegen, die auch der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel kürzlich bekräftigte.

Nötig sei letztlich eine Überarbeitung der Mitbestimmungsrechte, insistiert Arbeitsrechtler Nies. Das Betriebsverfassungsgesetz bilde die neuen Anforderungen mobiler Arbeit nicht hinreichend ab. Betriebsräte bräuchten „ein Mitbestimmungsrecht zur Mitgestaltung mobiler Arbeit“, so Nies. „Ich sage das bewusst so pauschal, weil wir es nicht mit Einzelaspekten zu tun haben.“

Mehr Informationen

Gerlinde Vogl/Gerd Nies: Mobile Arbeit. Betriebs- und Dienstvereinbarungen – Analyse und Handlungsempfehlungen. Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2013