Rasant: Von 180 auf 225

Harter Arbeitskampf beim Textildiscounter um die Tarifverträge des Einzelhandels

Von Johannes Schulten und Jörn Boewe, ver.di publik 08/2014

Ob es schon Ermüdungserscheinungen gibt? Michael Ullrich muss fast lachen. „Im Gegenteil“, sagt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der KiK-Logistik GmbH. Die Kolleg/innen, die sich am Streik beim Zentrallager des Textildiscounters in Bönen bei Dortmund beteiligen, werden sogar mehr. „Wir haben mit 180 angefangen, jetzt sind wir 225. Und die Stimmung ist bärenstark.“ Ullrich muss es wissen. Als Mitglied der ver.di-Tarifkommission berät er mit seinen sechs Kolleg/innen von Tag zu Tag, ob der Arbeitskampf fortgeführt wird. Dann wird das Ergebnis mit den Streikenden im Streiklokal im Kurpark abgestimmt – „bisher immer unter Jubel“, sagt er. Um der Geschäftsleitung Zeit zum Nachdenken zu geben, wurde der Streik aber jetzt vorerst ausgesetzt. Weiterlesen

„Blogs machen unsere Arbeit einfacher“

Timm Boßmann, Betriebsrat bei der Verlagsgruppe Weltbild, über strategische Kommunikation im Internet und den Bedeutungszuwachs gewerkschaftlichen Bloggens. Das Gespräch führten Johannes Schulten und Jörn Boewe, Magazin Mitbestimmung, 11/2014

Warum ist es für Betriebsräte und aktive Gewerkschafter sinnvoll, Öffentlichkeitsarbeit über das Internet zu betreiben?

Information und Öffentlichkeitsarbeit sind die Grundlage jeder Interessenvertretung. Und das Medium mit der größten Reichweite ist das Internet. Deshalb ist es nur logisch, dort auch mit der betrieblichen Interessenvertretung präsent zu sein. Dazu kommt, dass ein Blog leicht zu bedienen ist. Verglichen mit dem Aufwand, den man für eine Betriebszeitung braucht, nimmt ein Blog nur zehn Prozent der Zeit in Anspruch. Weiterlesen

Die Starken mit den Schwachen

Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) setzt auf die Solidarität von Seeleuten und Hafen­arbeitern. In Zeiten der Globalisierung inspirieren ihre Erfahrungen auch Gewerkschafter und Beschäftigte in anderen Branchen

Von Jörn Boewe, ver.di publik 07/2014

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Ein Stapel Dokumente liegt auf dem Tisch der Mannschaftsmesse des philippinischen Schüttgutfrachters „Mangan Trader III“: ein Tarifvertrag, Heuerabrechnungen, Überstundennachweise. Mit kritischem Blick prüfen Hamani Amadou und Stefan Kließ die Papiere. Der Kapitän ist freundlich, aber etwas nervös. Amadou ist Inspektor der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) in Rostock, Kließ ist Hafenarbeiter in Lübeck. In dieser Woche Anfang September hat sich Kließ, wie viele seiner Kollegen aus Ostseehäfen in Deutschland, Russland, den baltischen und skandinavischen Staaten, ein paar Tage frei genommen. Nicht um Urlaub zu machen, sondern um die „Baltic Week of Action“ zu unterstützen.

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Unbezahltes Dauerpraktikum rechtens?

Ein Fall, über den wir vor Wochen berichteten, hat eine hässliche Wendung genommen. Anfang Sommer schrieben wir im Hintergrund Nachrichtenmagazin über die Geschichte der Yuliya L., die als 19jährige achteinhalb Wochen in einem Bochumer Rewe-Markt unentgeltlich als „Praktikantin“ gearbeitet hatte. Das Unternehmen hatte ihr einen Ausbildungsplatz versprochen, wenn sie zuvor ein einmonatiges „Schnupperpraktikum“ absolviere – das dann immer wieder verlängert wurde („Das Geschäft mit den Scheinpraktika“). Irgendwann klagte Yuliya L. auf Zahlung des vorenthaltenen Lohns. Das örtliche Arbeitsgericht gab ihr Recht. Jetzt wurde das Urteil in der zweiten Instanz vom Landesarbeitsgericht Hamm aufgehoben. Da das Praktikum im Rahmen einer berufsvorbereitenden Maßnahme der Arbeitsagentur stattgefunden habe, so die Argumentation der Richter, sei daraus kein Arbeitsverhältnis entstanden.

Quellen:
www.juris.de
www.lto.de

Langer Kampf ums Ganze

Seit März 2013 bestreikt ver.di den US-Onlinehandelskonzern Amazon. Der Konflikt wird für die mittelfristige Entwicklung im Einzelhandel richtungsweisend sein – und damit für die Dienstleistungsgewerkschaft

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Hintergrund Nachrichtenmagazin, Heft 4/2014

In der Vorweihnachtszeit, am 15. Dezember 2013 erhielt der US-Konzern Amazon 53 Bestellungen aus Deutschland – nicht in der Stunde, nicht in der Minute sondern pro Sekunde. Es besteht wenig Zweifel, Amazon hat den deutschen Einzelhandel geprägt, wie bisher kein Unternehmen zuvor. Keinem Unternehmen ist es binnen so kurzer Zeit gelungen, so schnell in eine marktbeherrschende Stellung zu kommen wie Amazon.

Seit März 2013 streikt ver.di bei Amazon für einen am Einzelhandel orientierten Tarifvertrag. Zuerst in Bad Hersfeld, inzwischen inzwischen in Leipzig, Graben (Bayern) und Rheinberg (Nordrhein-Westfalen). Doch von medialen Aufregung der ersten Monate ist wenig übriggeblieben. Schafften es die Meldungen über »erneute Streiks bei Amazon« im vergangenen Jahr noch in jede Morgennachrichtensendung – die Bild schickte Reporter zu Streikversammlungen –  findet der Arbeitskampf inzwischen fast unbemerkt von der Öffentlichkeit statt. Das ist problematisch, denn für ver.di geht es nicht nur um Amazon. Es geht um die ganze Branche.

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Im Blog wird’s diskutiert

ver.di online – Beim Einzelhändler Weltbild, und nicht nur dort, setzen immer mehr ver.di-Betriebsgruppen auf Information und Austausch im Netz

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, ver.di publik 05/2014

Nicht alle Kommentare, die dieser Tage auf dem ver.di-Weltbild-Blog gepostet werden, sind lobend: „Mehr persönliche Gespräche“ von Betriebsrat und ver.di fordert Anonym am 23. Juni um 5.32 Uhr, ein ebenfalls anonymer Kollege beklagt, nicht ausreichend informiert zu werden. Andere jedoch danken dem Betriebsrat für seine „Offenheit“ und bestärken ihn darin, „weiterzumachen wie bisher“.

Auch wenn die Kritik manchmal hart ist – Timm Boßmann trägt es mit Fassung. „Mir ist es lieber, als wenn so was nur in der Teeküche geäußert wird. So kann ich die Kritik aufnehmen und dazu Stellung nehmen“, sagt er. Boßmann ist stellvertretender Betriebsratsvorsitzender von Weltbild und eins von fünf Mitgliedern der Redaktion des ver.di-Blogs. Im Juni sitzt er in Verhandlungen mit dem Insolvenzverwalter. „Die Kollegen haben Probleme mit der Ungewissheit und wollen durchgehend informiert werden. Aber wir können nicht jedes Gerücht kommentieren, sondern nur den Stand melden.“

Kommunikation übers Netz

Sechs Monate ist es her, seit die Augsburger Verlagsgruppe Weltbild Insolvenz an gemeldet hat. Die Übernahme durch den Münchner Finanzinvestor Paragon gilt inzwischen zwar als sicher, doch es bleiben noch viele Fragezeichen: Wie viele Beschäftigte werden übernommen? Was passiert mit den Gehältern? Wann gibt es die Abfindungen für die, die in die Transfergesellschaft gewechselt sind?

Kein Wunder, dass viele nervös sind und schnell gereizt reagieren. Der Weltbild-Blog von ver.di ist der zentrale Ort der Diskussion für die Belegschaft, entsprechend geht es hier konkret zur Sache. Den Blog als Informations- und Debatteninstrument schätzt Timm Boßmann gerade in Krisenzeiten. Wer Transparenz wolle, müsse auch mit Kritik umgehen können, sagt er.

Kommunikation über das Netz ist für Gewerkschaft, Betriebsrat und Belegschaft bei Weltbild nicht ganz neu. Seit 2009 wird unter weltbild-verdi.blogspot.de gepostet, diskutiert und informiert. Boßmann war von Anfang an dabei, er gilt als einer der Pioniere des gewerkschaftlichen Bloggens.

Das Beispiel wirkt

Dem Beispiel der ver.di-Blogger bei Weltbild sind andere gefolgt. Ob bei Weltbild, Amazon, Edeka, Netto oder Hugendubel – Gewerkschaft und Aktive setzen heute immer öfter auf kollektiv betriebene Blogs, ebenso wie auf Facebook-Gruppen und Twitter. Und die Erfahrungen zeigen: Gerade in Arbeitskämpfen und harten Auseinandersetzungen machen Social Media die Gewerkschaften stärker. So zuletzt in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes: Als Kitas schlossen und Busse in ihren Depots blieben, erklärten Erzieherinnen und Busfahrer bei facebook und Twitter, warum sie sich zum Streik entschlossen hatten. Die Klickzahlen sprechen für sich: 1,34 Millionen mal wurde hugendubelverdi.blogspot.de seit Gründung im November 2010 aufgerufen, beim ver.di-Blog des Gartenbaucenters Dehner sind es 620 000 Klicks.

„Blogs helfen uns, Defizite traditioneller Formen der Gewerkschaftsarbeit zu kompensieren“, sagt Hubert Thiermeyer, der Leiter des ver.di-Fachbereichs Handel in Bayern. „Besonders dort, wo die Gewerkschaften in den letzten zwei Jahrzehnten durch Flexibilisierung, Outsourcing und Prekarisierung geschwächt wurden, wie im Handel.“ Verlängerte Öffnungszeiten und oft sehr kleinteilige Filialstrukturen führen dazu, dass die Leute sich kaum noch über ihre Arbeit austauschen können. „Doch die gemeinsame Reflexion ist Voraussetzung dafür, aktiv zu werden“, sagt Thiermeyer. Raum dafür könne heute virtuell zumindest zum Teil wiederhergestellt werden, so in einem gemeinsamen Blog.

Argumente für die Öffentlichkeit

In den Blogs bei Amazon, Edeka, Netto oder Hugendubel geht es aber nicht nur darum, die eigene Belegschaft zu mobilisieren. Auch für die Auseinandersetzung in den Medien sind sie ein wichtiges Instrument, denn sie bieten die Möglichkeit, die Probleme der Beschäftigten detailliert und direkt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Die Unternehmer haben fast so viel Angst vor Blogs wie vor Streiks“, sagt Thiermeyer. Wer sich skandalös verhalte, scheue schließlich nichts so sehr wie die Öffentlichkeit.

Neben seiner Betriebsratstätigkeit engagiert sich Timm Boßmann in der gewerkschaftlichen Bildung, er organisiert Blogger-Schulungen und Schreib-Workshops. Viele der ver.di-blogs hat er in ihrer Startphase beraten. Sein Credo: „Blogs machen kann jeder, es braucht nur ein paar Regeln. Die Sätze sollten verständlich und kurz sein, der Inhalt muss regelmäßig aktualisiert werden.“ Wichtig ist ihm auch: „Die Blogs müssen von unten kommen. Die Aktiven müssen die Linie bestimmen.#

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Tipp: Das nächste Blogger-Seminar mit Timm Boßmann findet vom 29. September bis 1. Oktober in der ver.di-Bildungsstätte Brannnenburg statt.

www.haus-brannenburg.de

Zu den Blogs:

hugendubelverdi.blogspot.de
edeka-nst-verdi.blogspot.com
weltbild-verdi.blogspot.com

Gnadenlos billig

Verlierer des historischen Strukturwandels im  Einzelhandel sind die BeschäftigtenVon Jörn Boewe und Johannes Schulten, Lunapark21,Heft 26 vom Sommer 2014

Wer wissen will, wohin sich der deutsche Einzelhandel entwickelt, sollte dieser Tage genau nach Ingolstadt und in den Großraum Bonn schauen. Dort ließ die Deutsche Post vor vielen Hauseingängen Paketboxen aufstellen. Der DHL-Bote, so die Idee der Post-Tochter, kann die Plastikkisten mit einem elektronischen Schlüssel öffnen und die Pakete deponieren, danach nimmt er die Retouren des Kunden wieder mit. Die Logistikbranche sucht nach Wegen, die Bestellflut übers Internet in den Griff bekommen.
Eigentlich sind DHL, GLS oder UPS die großen Gewinner des Internetbooms. Die Bewältigung der Millionen Sendungen täglich stößt allerdings an logistische Grenzen, besonders auf den letzten Metern vor der Wohnungstür: Wenn der Postbote klingelt, ist meist niemand da. Der große Verlierer des Onlinebooms dürfte indes der traditionelle Einzelhandel sein – und mit ihm Millionen Beschäftigte.>>> weiterlesen >>>

Das Geschäft mit den Scheinpraktika

Mit der Hoffnung auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz werden Jugendliche und Langzeiterwerbslose als billige Arbeitskräfte geködert. Eine wirksame Kontrolle gibt es nicht. Der geplante Mindestlohn könnte zumindest den größten Missbrauch eindämmen.

Jörn Boewe und Johannes Schulten in der aktuellen Ausgabe des Hintergrund Nachrichtenmagazins.

 

Zeit für klare Regeln

Jörn Boewe kritisiert die guten Absichten der Industrie nach dem Fabrikunglück in Bangladesch. neues deutschland, 25. April 2014

Viel wird in diesen Tagen über die Textilbeschäftigten in Bangladesch berichtet. Ein Jahr nach dem Einsturz des Rana-Plaza-Fabrikgebäudes, bei dem mehr als 1130 Menschen getötet und 2500 verletzt wurden, ist das Medieninteresse groß. Doch wie so oft in der »Informationsgesellschaft« gehen die entscheidenden Fragen in der Fülle der Berichte verloren. Jahrestage von Katastrophen sind die große Zeit der Absichtserklärungen, aber nicht unbedingt der Übernahme von Verantwortung.

Entwicklungsminister Gerd Müller, ein Mann, den außerhalb der CSU noch nicht viele kennen, hat für nächste Woche zu einem »Runden Tisch« geladen, an dem über ökologische und soziale Standards in der Textilindustrie geredet werden soll. Das könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, hätte der Minister nicht bereits vor Beginn der Gespräche klargestellt, dass eine gesetzliche Regelung kein Thema sein wird – bis auf Weiteres zumindest. Allenfalls wenn es nicht zu transparenten Selbstverpflichtungen des Handels komme, könne man ein Gesetz in Erwägung ziehen.

Statt klarer Regeln und wirksamer Kontrollen wird es lediglich Vorzeigeprojekte geben, mit denen sich die Ministerialbürokratie für die erste Hälfte der Legislaturperiode gut beschäftigen kann. Dabei hat gerade die Rana-Plaza-Katastrophe bewiesen, dass Selbstverpflichtungen völlig unzureichende Instrumente sind, wenn es darum gehen soll, den Beschäftigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie versagen selbst bei der akuten Nothilfe, wie der immer noch hoffnungslos unterfinanzierte Entschädigungsfonds für die Rana-Plaza-Opfer zeigt. Sollen sich die Arbeitsbedingungen der internationalen Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter nachhaltig verbessern, braucht es nicht nur einen langen Atem, sondern Regeln, die für alle gelten und bei Verstößen klare straf- und zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Letztlich ist dies auch im Sinne der Branche selbst – zumindest jener Unternehmen, die sich den Forderungen der Beschäftigten nicht völlig verschließen. Denn das Prinzip der Freiwilligkeit bestraft immer die Gutwilligen und belohnt jene, die sich auf Kosten der Mitbewerber aus der Verantwortung stehlen. Zudem haben freiwillige Vereinbarungen die Arbeitsbedingungen für Textilbeschäftigte in den vergangenen Jahren kaum verbessert. Abhilfe schaffen kann nur ein strengeres Haftungsrecht. Handelsketten, die die betriebswirtschaftlichen Vorteile der Zerstückelung von Wertschöpfungsketten in Anspruch nehmen, müssen für die Einhaltung von Mindeststandards bei ihren Zulieferern verantwortlich gemacht werden. Geschädigte und Hinterbliebene brauchen einen international gültigen Rechtsanspruch auf Wiedergutmachung. So steht es seit 2011 in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Es wäre Zeit, dass Deutschland diese Beschlüsse endlich umsetzt.