Im Minenfeld

Zwischen Friedensbewegung und Rüstungslobby: Die öffentliche Debatte um Kampfdrohnen und Waffenexporte hat eine alte Kontroverse in der IG Metall wieder aufleben lassen.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 10/2014

Die Friedensbotschaft zuerst: Die IG Metall diskutiert wieder über Rüstungskonversion. Und jetzt der Frontbericht: Eine sonderlich friedliche Debatte ist es nicht, die der Zweite Bevollmächtigte aus Ingolstadt, Bernhard Stiedl, Anfang Juli losgetreten hat.

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EuroHawk-Drohne im Landeanflug. Foto: P. Hayer, commons.wikimedia.org

„Ein europäisches Drohnenprogramm würde am bayerischen Standort Manching 1500 Arbeitsplätze sichern“, sagte Stiedl, der für die IG Metall den Rüstungskonzern EADS betreut, der „Welt am Sonntag“. Und Jürgen Kerner, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall und dort zuständig für die Branche, fügte im „Spiegel“ hinzu: „Wenn wir uns über deren Anschaffung einig sind, dann sollten die Drohnen in Deutschland entwickelt werden.“ Weiterlesen

„Da fehlt der strategische Kompass“

Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, über Investitionen und privates Kapital. Das Gespräch in Frankfurt/Main führten Cornelia Girndt und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung 09/2014

Wolfgang Lemb, mehr als die Hälfte der Unternehmen sehen laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft ihre Geschäftsabläufe durch Infrastrukturprobleme beeinträchtigt. Ist die hiesige Infrastruktur nach wie vor eine gute Grundlage für einen erfolgreichen Industriestandort?

Ein klares Nein. Da reden wir nicht nur über Straßeninfrastruktur, sondern auch über das Schienennetz. Wir haben bei beidem einen riesigen Nachholbedarf. Die Investitionsquote – das Verhältnis zwischen Bruttoanlageinvestitionen und Bruttoinlandsprodukt – ist mittlerweile auf 17 Prozent gesunken. Ende der 90er Jahre haben Staat und Unternehmen noch 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die wirtschaftliche Zukunft des Landes investiert, und auch das war im internationalen Vergleich schon wenig. Viele Institute sagen zu Recht: Deutschlands Infrastruktur zehrt von ihrer Substanz. Weiterlesen

Jeder Trend ist umkehrbar

Die Bildungsarbeit gehört zum Kerngeschäft der Gewerkschaften. Jetzt sind neue Häuser zu besichtigen und neue Bildungsideen. Was hat der Turnaround gebracht?

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung 09/2014

Gewerkschaftliche Bildungsstätten boomen wieder. Das sah Mitte der 90er noch ganz anders aus. Die Mitgliederkrise hatte viele Gewerkschaften und speziell den DGB dazu veranlasst, Häuser zu verkaufen. Zudem verloren sie ihr Monopol auf Betriebsrätebildung. Die Schulungen, die in der Regel vom Arbeitgeber bezahlt werden, wurden ein lukrativer Markt, auf dem sich zunehmend auch private Bildungsträger und große Anwaltskanzleien tummeln.

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Lernort für die globale Gewerkschaft

Seit zehn Jahren ist sie für Gewerkschafter ein Ort, global denken zu lernen. An Studienorten wie etwa Pennsylvania, Johannesburg und Kassel. Allerdings sind Deutsche unter den Kurzstudenten immer noch eine Seltenheit.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung 07+08/2014

Vielleicht ist es das, was sich die Organisatoren der Global Labour University vorstellen, wenn sie von einem globalen Dialog auf Augenhöhe sprechen: Neil Coleman, südafrikanischer Gewerkschafter, aktiv in der Anti-Apartheid-Bewegung, Mitglied der Forschungsabteilung des Dachverbandes COSATU, hemdsärmelig, referiert über Probleme der Tarifpolitik in Südafrika. Und darüber, wie sein Land von Brasilien lernen kann: von der dortigen Mindestlohnpolitik, der Formalisierung des Arbeitsmarktes und der Rolle der brasilianischen Gewerkschaften. Ihm lauschen knapp 120 Leute aus Botswana, Indien, China, England oder Deutschland. Die meisten von ihnen sind aktive Gewerkschafter oder gewerkschaftsnahe Wissenschaftler. Prekäre Beschäftigung, fehlende oder zu niedrige Mindestlöhne – das sind auch ihre Probleme.

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»Ohne Druck wird sich nichts zum Besseren bewegen«,

sagt die Krankenschwester und Personalrätin Dana Lützkendorf in unserer Geschichte über den jüngsten Tarifkonflikt an der Berliner Charité in der aktuellen Ausgabe des Magazins Mitbestimmung. Die Pflegekräfte an Europas größtem Uniklinikum gehen auf die Barrikaden, weil die Personalausstattung dort einen kritischen Punkt erreicht hat, an dem Patienten wie Beschäftigte hochgradig gefährdet sind. An anderen Krankenhäusern in Deutschland ist es nicht besser, doch die Kolleginnen und Kollegen der Charité zeigen, dass man das nicht tatenlos hinnehmen muss.

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Recht auf Abschalten

Durch das mobile Internet sind Arbeitsaufgaben auch in Freizeitphasen ständig präsent. Bis heute gibt es kaum Betriebsvereinbarungen, die der modernen Arbeit gerecht werden, befindet eine aktuelle Böckler-Studie. Bei Evonik, BMW, VW werden Regelungen erprobt.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 04/2014

Als ihr altes Diensthandy vor einem Jahr beinahe auseinanderfiel, nahm Katja M. das Angebot ihres Arbeitgebers an und tauschte es gegen ein iPhone 5 aus. „Ich habe das zunächst als befreiend empfunden“, sagt die 40-Jährige, die in der Forschungsabteilung eines großen deutschen Chemieunternehmens tätig ist. „Du kannst schneller reagieren, es wurde Druck aus dem dichten Arbeitsalltag genommen.“ Bald bearbeitete sie jeden Abend Mails. Dass sie selbst nicht mehr abschalten konnte, fiel ihr erst auf, als wegen einer Sicherheitslücke im Apple-Betriebssystem sämtliche Firmengeräte ein Software-Update bekamen. Weil dabei technisch etwas schiefging, waren die iPhones des Unternehmens plötzlich auf unbekannte Zeit außer Betrieb. „Wenn ich die Firma verlasse, bin ich jetzt wieder offline“, sagt die Pharmakologin. „Seit zwei Wochen weiß ich wieder, wie sich Feierabend anfühlt.“

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Evonik-Mitarbeiter mit Smartphone: Endlich wieder wissen, wie sich Feierabend anfühlt (Foto: Evonik)


DAS ZEITREGIME DER ARBEIT LÖST SICH AUF Der Einsatz mobiler Endgeräte ist nur die Spitze des Eisbergs, meint der Sozialforscher und Arbeitsrechtler Gerd Nies. „Mindestens genauso wichtig ist die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen selber. Die ortsgebundene Produktion hat sich aufgelöst, heute wird arbeitsteiliger gefertigt, an verschiedenen Orten“, sagt Nies, der lange im Vorstand von IG Medien und ver.di tätig war. Damit löse sich auch das feste Zeitregime der Arbeit auf.

Dem DGB-Index „Gute Arbeit“ von 2011 zufolge müssen 27 Prozent der Beschäftigten „sehr häufig oder oft auch außerhalb ihrer Arbeitszeit für betriebliche Belange erreichbar sein“. Am gravierendsten ist die Situation im Dienstleistungssektor. In Pflege, Bildung und Forschung müssen über 40 Prozent der Beschäftigten regelmäßig außerhalb ihrer Arbeitszeit verfügbar sein, heißt es in einer Analyse von ver.di. Eine aktuelle Expertise der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kommt zu dem Schluss, „dass man für die Mehrheit der deutschen Beschäftigten von einer erweiterten arbeitsbezogenen Erreichbarkeit sprechen kann“. Das hat gesundheitliche Folgen: „Je mehr Arbeitsangelegenheiten ins Privatleben Einzug halten, desto größer sind arbeitsbedingte Befindensbeeinträchtigungen (Burn-out, Stress, Nicht-Abschalten, Schuldgefühle).“

Dass Handlungsbedarf besteht, haben Gewerkschaften, Betriebsräte und mittlerweile auch viele Unternehmen erkannt. Doch die neuen Herausforderungen können mit den herkömmlichen Instrumentarien nur unzureichend bewältigt werden. Gerade hat Nies gemeinsam mit der Arbeitssoziologin Gerlinde Vogl im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung rund 100 betriebliche Vereinbarungen zum Umgang mit mobiler Arbeit untersucht. Das Ergebnis war ernüchternd: „Es gibt kaum Regelungen, die der modernen Arbeit in ihrer Komplexität gerecht werden.“

GRENZEN BETRIEBLICHER REGELUNGEN Eine halbe Stunde nach Ende der Gleitzeit wird bei Volkswagen die Mailsynchronisierung für die 1100 Firmen-Blackberrys abgeschaltet. Die 2011 durchgesetzte Betriebsvereinbarung wurde zunächst überwiegend positiv aufgenommen. Doch mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. „Die Regelung löst das Problem nicht wirklich, sie reduziert ja nicht den Arbeitsumfang“, sagt Nies. „Die Mails, die die Leute abends nicht mehr lesen, haben sie dann morgens geballt.“ Für erfolgversprechender hält er den Weg, den man bei BMW geht: Mitarbeiter können die Mobilarbeit in ihre Arbeitszeitkonten eintragen und als Freizeit ausgleichen. Dies sei „spannend, weil man damit nicht versucht, Menschen, die mobil arbeiten, in ein Zeitkorsett zu stecken“, so der Forscher.

Derart weitgehende Betriebsvereinbarungen gibt es in der Chemie- und Pharmaindustrie bislang nicht. Allerdings will die IG BCE ihren Betriebsräten den Rücken stärken, „damit sie das Thema frühzeitig erkennen und handlungsfähiger werden“, sagt Sören Tuleweit, der beim IG-BCE-Vorstand für „gute Arbeit“ zuständig ist. Für beispielhaft hält er das Konzept „Always on“, das seit Anfang 2013 bei der Essener Evonik Industries verfolgt wird: Führungskräfte werden geschult, um einen bewussteren Umgang mit mobilen Endgeräten zu erreichen. Es gibt die klare Vorgabe, den Mailverkehr außerhalb der Arbeitszeit auf Notfälle zu begrenzen. Eine Kontrollsoftware misst monatlich die Aktivität der einzelnen Endgeräte, aufgeschlüsselt nach Tageszeiten und Wochentagen. Auf diese Weise soll ein „erhöhtes Bewusstsein über alle Ebenen hinweg“ entstehen, sagt der Projektverantwortliche Frank Lelke. Auch wenn es sich dabei um eine „Top-down“-Handlungsanweisung des Unternehmens handele, könne das Konzept richtungweisend für künftige Betriebsvereinbarungen sein, meint Tuleweit.

Tarifpolitisch geht ver.di das Thema bei der Deutschen Telekom an. Seit Herbst verhandelt die Gewerkschaft über einen „Tarifvertrag zur Identifikation und Auflösung betrieblicher Überlastungssituationen“. Was etwas sperrig klingt, ist als Handhabe für Betriebsräte gedacht, konkrete Gefährdungsanalysen und Abhilfemaßnahmen zu entwickeln. Nach den Vorstellungen der Gewerkschaft sollen für jeden Bereich Indikatoren vereinbart werden, mit denen die Belastungssituation gemessen und in einem „Ampelmodell“ abgebildet wird. Geraten Mitarbeiter in den „gelben“ oder „roten“ Bereich, stellen die Betriebsparteien einen verbindlichen Maßnahmen- und Zeitplan auf. Kommt keine einvernehmliche Lösung zustande, wäre eine Entscheidung vor der Einigungsstelle erzwingbar.

RECHT AUF NICHTERREICHBARKEIT Letztlich sei das Problem zu komplex, um es allein auf betrieblicher oder tarifpolitischer Ebene zu lösen, gibt ver.di-Bundesvorstandsmitglied Lothar Schröder zu bedenken. „Über zwei Jahrzehnte hinweg hat man, gesteuert durch Benchmarks, den Menschen in den Betrieben weisgemacht: Leute, ihr seid zu langsam, ihr seid zu ineffektiv, wir sind mit zu viel Personal unterwegs. Das hat zu kulturellen Verwerfungen geführt, die man nicht dadurch repariert, dass man nach 18 Uhr einen Mailserver abschaltet.“ Schröder plädiert für mehr betriebliche Gefährdungsanalysen, für Tarifverträge, die die Arbeitsbelastung begrenzen, und für ein gesetzlich verbrieftes „Recht auf Nichterreichbarkeit“, wie es die Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ 2013 in ihrem Bericht forderte. Anliegen, die auch der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel kürzlich bekräftigte.

Nötig sei letztlich eine Überarbeitung der Mitbestimmungsrechte, insistiert Arbeitsrechtler Nies. Das Betriebsverfassungsgesetz bilde die neuen Anforderungen mobiler Arbeit nicht hinreichend ab. Betriebsräte bräuchten „ein Mitbestimmungsrecht zur Mitgestaltung mobiler Arbeit“, so Nies. „Ich sage das bewusst so pauschal, weil wir es nicht mit Einzelaspekten zu tun haben.“

Mehr Informationen

Gerlinde Vogl/Gerd Nies: Mobile Arbeit. Betriebs- und Dienstvereinbarungen – Analyse und Handlungsempfehlungen. Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung. Frankfurt am Main, Bund-Verlag 2013

Wagnis für wenig Wachstum

Befürworter der Transatlantischen Freihandels- und Investitionspartnerschaft werfen Kritikern Panikmache vor. Doch Erfahrungen mit vergleichbaren Abkommen zeigen: Die Warnungen sind berechtigt.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung 03/2014

Das Chlorhuhn bewegt. Es ist zum Wappentier der Gegner der geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) geworden. Seit Mitte vergangenen Jahres verhandelt die EU-Kommission mit den USA über den Abschluss eines Abkommens, das Zugangsbarrieren für die jeweiligen Märkte senken, Investitionen langfristig absichern und eine Schiedsgerichtsbarkeit installieren soll, vor der Investoren ihre Ansprüche aus dem Abkommen durchsetzen können sollen. Nicht nur diese Schiedsverfahren sollen geheim ablaufen. Auch aus den laufenden Verhandlungen wurde die Öffentlichkeit bislang ausgeschlossen. Sogar Inhalte und Zielrichtung der Gespräche sowie die Zusammensetzung der Verhandlungsgruppe wurden unter Verschluss gehalten – bis es engagierten NGO-Aktivisten gelang, einige Dokumente zu „leaken“.

SKEPSIS BEIM DGB WÄCHST

Die EU-Kommission selbst hat bislang außer optimistischen Prognosen und Statements zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung nichts Konkretes veröffentlicht. „Die TTIP hat Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Ziel“, heißt es auf ihrer Internetseite. Sie könnte „die Wirtschaft der EU um 120 Milliarden Euro“ ankurbeln und „Hunderttausende neue Arbeitsplätze kreieren“. Gelingen soll dies durch die Angleichung unterschiedlicher „Regelwerke, Normen und Zulassungsverfahren“.

Das klingt so plausibel wie harmlos nach DIN und TÜV und Blauer Engel, und fast schien es, als könne keiner etwas dagegen haben. Aber dann hielt Anfang Januar jemand das Chlorhuhn hoch: Um Salmonellen und andere Keime im Hühnchenfleisch abzutöten, dürfen US-Farmer ihr Geflügel in einer Lauge aus Chlordioxid und Natriumchlorit desinfizieren. Nach Europa dürfen die Giftcocktail-Chicken bislang nicht eingeführt werden – doch das würde sich mit der TTIP ändern. Ein Aufschrei ging durch Europa! Was die Argumente der Freihandelskritiker von Attac und NGOs nicht fertiggebracht hatten – das Chlorhuhn rüttelte die Öffentlichkeit wach.

Doch nicht nur Verbraucher- und Umweltschutzstandards kämen durch die TTIP unter Druck, befürchten die Kritiker. Auch Arbeitsschutzbestimmungen und Beschäftigtenrechte sind bedroht. Nach der Logik der Freihandelsdoktrin gelten sie letztlich als „nichttarifäre Handelsbarrieren“, die den Marktzugang erschweren oder Gewinnerwartungen schmälern können. Mitte Januar traten deshalb 60 Gewerkschafter und Intellektuelle mit einem Appell an die Öffentlichkeit, der vor einem Abbau von Arbeitnehmerrechten durch die TTIP warnte. Die Initiatoren, darunter der Publizist Werner Rügemer und der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, fürchten, der Vertrag würde die Koalitionsfreiheit beschneiden und Arbeitsstandards absenken. So hätten die USA „sechs von acht Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht ratifiziert“, heißt es in dem Aufruf.

Ähnlich kritisch hatte sich bereits im Frühjahr vorigen Jahres der DGB geäußert. Die „Vereinheitlichung von Standards und Normen“ dürfe „nicht zulasten des Gesundheits-, Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutzes“ gehen, forderte der DGB. Zwar seien Wohlfahrtseffekte, die sich aus einem Handelsabkommen ergeben könnten, zu begrüßen. Gleichwohl warnte der DGB vor „übertriebenen Erwartungen“. „Wir waren damals skeptisch“, sagt Florian Moritz, Leiter des Referats Internationale und Europäische Wirtschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand, „und unsere Skepsis ist seitdem gewachsen.“

FRAGWÜRDIGE MODELLRECHNUNGEN

Übertrieben wird in der Tat, und zwar systematisch und mitunter erstaunlich plump. So behauptet die EU-Kommission auf ihrer Internetseite, dass „nach vollständiger Umsetzung dieses Abkommens (…) ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent BIP“ zu erwarten sei. Abgesehen davon, dass es sich bei dem „unabhängigen Bericht“, auf den sich die Kommission beruft, um eine von ihr in Auftrag gegebene Studie des Londoner Centre for Economic Policy Research (CEPR) handelt, sind die Zahlen falsch interpretiert. Bei einer sehr weitreichenden Liberalisierung erwartet das CEPR bis 2027 in der EU ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,48 Prozent – allerdings nicht jährlich, sondern insgesamt. Das entspräche einem jährlichen Effekt von gerade mal 0,03 Prozent.

„Die Wachstumseffekte sind klein und der Beschäftigungszuwachs winzig“, sagt Sabine Stephan vom IMK in der Hans-Böckler-Stiftung. Die Ökonomin hat die drei vorliegenden Studien zu den erwarteten Effekten der TTIP untersucht. Neben der des CEPR gibt es zwei Untersuchungen des Ifo-Instituts München – eine im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums, die andere im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Obwohl derartige Modellrechnungen lediglich mehr oder weniger wahrscheinliche Entwicklungen simulieren, werde der Eindruck erweckt, man hätte exakte und verlässliche Berechnungen. Wie sehr die Ergebnisse von politischen Wunschvorstellungen beeinflusst sind, verdeutlichen die Jobprognosen: Während Bertelsmann 180 000 zusätzliche Arbeitsplätze sieht, kommt das Regierungsgutachten nur auf 25 000. Der Grund: In der Studie für die Bundesregierung verrechnet das Ifo Beschäftigungsauf- und -abbau, in der Bertelsmann-Studie hingegen nicht. Doch selbst bei den 180 000 neuen Jobs der Bertelsmann-Studie handelt es sich wieder um den Gesamteffekt; der Beschäftigungsaufbau pro Jahr beläuft sich auf weniger als 13 000 neue Jobs.

In der Leitbranche Fahrzeugbau etwa könnten laut Bertelsmann 12 143 Arbeitsplätze entstehen – innerhalb von 15 Jahren. „Wir sollten zwar jeden neuen Arbeitsplatz begrüßen, doch das Risiko der TTIP ist enorm hoch“, sagt Beate Scheidt von der Abteilung Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik der IG Metall: „Die geringen Effekte sind das Wagnis nicht wert.“

REGRESSPFLICHT DES STAATES?

Und was ist von der geplanten Investitionsschutzklausel zu halten? Können ausländische Unternehmen künftig eine europäische Regierung etwa wegen der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns vor einem nichtöffentlichen Schiedsgericht auf Schadenersatz verklagen? Derartige Verfahren sind im Kontext anderer Freihandelsabkommen längst Realität. So fordert der französische Mischkonzern Veolia derzeit von der ägyptischen Regierung eine Kompensationszahlung von 82 Millionen Dollar wegen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Anhängig ist auch eine Forderung von Vattenfall gegen die Bundesrepublik. Wegen des Atomausstiegs will der schwedische Energieriese über eine Milliarde Euro Schadenersatz. Laut Statistik der UNO-Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD steigt die Zahl sogenannter Investor-Staat-Klagen seit Mitte der 90er Jahre an. 2012 wurden 58 neue Klagen erhoben – ein neuer Rekord. Bislang wurden 512 solcher Verfahren bekannt. In 70 Prozent der Fälle bekam der Investor Recht.

Als Reaktion auf die Kritik hat Wettbewerbskommissar Karel de Gucht nun angekündigt, das geplante Investitionsschutzkapitel im März offenzulegen. Die Debatte dürfte damit nicht beendet sein, im Gegenteil. „Wenn die Klausel so rigoros wie beabsichtigt implementiert wird, müssen wir uns dagegenstellen“, sagt IG-Metallerin Scheidt. „Das dürfen wir nicht zulassen.“

Mehr Informationen

Präsentation der IMK-Ökonomin Sabine Stephan: http://bit.ly/1hPAbeI

Schritt für Schritt zur kollektiven Aktion

Etwa 50 eingetaktete Zulieferer machen rund um Leipzig die Handreichungen für BMW und Porsche – zum Billiger-Tarif und oft ohne Mitbestimmung und Betriebsrat. Die IG Metall trifft auf eine neue Generation von Facharbeitern, die das nicht mehr so einfach hinnehmen will.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Magazin Mitbestimmung, 03/2014

Wie Kampfdroiden aus George Lucas‘ „Krieg der Sterne“ hängen die vormontierten Auspuffanlagen dicht gedrängt und hochkant in ihren Gestellen. Neben einer Säule in der Mitte der Fabrikhalle steht ein Drucker. Er summt und spuckt ein Blatt Papier aus. René Lange steht auf einer Empore oberhalb der Halle und schaut hinunter. „Der Drucker gibt den Takt vor, nach dem sich hier alles richtet“, sagt der 29-Jährige.

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Die Zahlen der Verkaufsstrategen

Das seit Frühjahr 2013 zwischen EU und USA verhandelte Transatlantische Handels und Investitionsabkommen (TTIP) beunruhigt die Frankfurter Allgemeine Zeitung („In den Krallen des Chlorhuhns“, Printausgabe vom 20. Februar). Es sind aber weder der anvisierte Abbau sogenannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse, also die Angleichung von Verbraucher- und Umweltschutzvorschriften auf niedrigstem Niveau, noch der komplette Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen, die der FAZ Kopfschmerzen machen. „Anlass zur Sorge bereitet, dass es der EU-Kommission immer weniger gelingt, den Bürgern die Freihandelsgespräche mit Amerika als Chance zu verkaufen“, schreibt das Blatt und zeigt gleich, wie man’s richtig macht: „Die Öffnung der Märkte könnte allein in Deutschland 100 000 neue Arbeitsplätze schaffen, jeder Haushalt hätte jährlich 550 Euro mehr zur Verfügung, erwarten Ökonomen.“

Nun ist das mit den Prognosen so eine Sache. Das Münchner Ifo Institut prophezeit in einer Studie für die Bertelsmann-Stiftung sogar 180 000 neue Jobs. In einer anderen Studie kommt dasselbe Ifo Institut – diesmal im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums – nur noch auf die deutlich bescheidenere Zahl von 25 000. Der Grund: Während in exportorientierten Branchen voraussichtlich Beschäftigung aufgebaut wird, ist in anderen Bereichen mit Arbeitsplatzverlusten zu rechnen. In der Studie für das Ministerium hat das Ifo Plus und Minus halbwegs ordentlich gegengerechnet. In der Bertelsmann-Studie war das offenbar vom Auftraggeber nicht gewünscht.

Aber auch die Kommission selbst hat’s nicht so mit ihren eigenen Zahlen. „Nach vollständiger Umsetzung dieses Abkommens“, schreiben ihre PR-Strategen, „wird ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5% BIP (…) erwartet.“

Screenshot-EU-Kommission-Prognose-Wachstum-2014-02-02-22.56.11Die Zahl steht tatsächlich in einer von Brüssel in Auftrag gegebenen Studie des Londoner Centre for Economic Policy Research (CEPR). Allerdings handelt es um den prognostizierten, kumulativen Gesamteffekt nach 15 Jahren. Aufs Jahr gerechnet macht das nur 0,03 Prozent und liegt damit unterhalb der statistischen Wahrnehmbarkeitsschwelle. Mehr zu diesen Taschenspielertricks und anderen versteckten Implikationen des TTIP in einem Artikel von Boewe/Schulten in der kommenden Ausgabe des Magazins Mitbestimmung (erscheint am 15. März).

Tuchfühlung mit Energiewende

Der Klimawandel ist längst da, die Medizin auch. Doch noch immer weigert sich der Patient, die Pillen auch zu schlucken. Zwei aktuelle Bücher leisten Überzeugungshilfe. 

Von Jörn Boewe, Magazin Mitbestimmung 12/2013

Die Sache könnte so einfach sein. Öl, Gas und Kohle sind endlich. Wenn man sie verbrennt, verursachen sie Treibhausgase und die gefährden das Klima. Mit erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne stehen, trotz ihrer Schwächen, brauchbare Alternativen zur Verfügung. Doch die Sache ist nicht so einfach, wie ein Blick in die Tageszeitungen der letzten Monate zeigt. Dass EU-Energiekommissar Günther Oettinger den Ausbau von Solar und Wind als Antreiber einer »Deindustrialisierung« diffamiert, möchte man noch als populistisches Geschwätz abtun. Wenn aber dem Großteil der Medien zur Energiewende wenig anderes einfällt als »Luxusstrom« (Spiegel), »gigantische Umverteilung« und »Öko-Planwirtschaft« (beides FAZ), gibt das schon zu denken.

Denjenigen, die beim Lesen solcher Diagnosen skeptisch werden, aber längst den Überblick über das Zustandekommen ihrer gestiegenen Stromrechnung verloren haben, sei die Lektüre von Claudia Kemferts Buch »Kampf um Strom« ans Herz gelegt. Für die an der Hertie School of Governance lehrende Energieökonomin befinden wir uns tatsächlich in einem solchen Kampf, einer »Fehde« zwischen Politik, Wirtschaftslobbyisten und »Ökologen« um die zukünftige Energiepolitik Deutschlands, die allerdings mit sehr ungleichen Waffen und haufenweise falschen Argumenten ausgetragen wird. Diese »Mythen« greift Kemfert auf, überprüft, rechnet nach, widerlegt und erklärt. Das geschieht vor allem nüchtern, bisweilen bissig, aber immer äußerst kenntnisreich und differenziert.

Beispiel »explodierende Strompreise«: Seit 2001 ist der Strompreis von 14,23 Cent pro Kilowattstunde auf 28 gestiegen. Daran lässt sich wenig drehen. Wer die Energiewende will, so Kemfert, müsse auch bezahlen.

Allerdings könnte es weniger sein: Denn 2011 sind die Preise an der Strombörse EEX in Leipzig um zehn bis 20 Prozent gefallen. Beim Verbraucher kam davon allerdings nichts an. Zwei Cent billiger könnte der Strom sein, so Kemfert, hätten die Energiemultis diese Effekte weitergegeben. Ähnliches gilt für die Befreiung zahlreicher Unternehmen von der EEG-Umlage. Dass einige energieintensive Industrien geschont werden, ist für sie durchaus vertretbar. Allerdings handele es sich dabei um eine klassische Subvention. Und Subventionen seien Aufgabe des Staates und nicht der Verbraucher. Kemfert: »Hier wird der Bürger betrogen.«

Auch die garantierten Vergütungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes werden anders als in anderen Ländern direkt von den Verbrauchern gezahlt. Die konventionelle Energieversorgung und ihre Folgekosten (Kohleverstromung, Atomkraft inklusive Sicherheits-, Entsorgungs- und Rückbauproblemen) wurde dagegen jahrzehntelang aus Steuermitteln gefördert.

Für Kemfert ist die Energiewende aber nicht nur ökologisch notwendig. Sie biete auch die Chance, den oligopolisierten Energiemarkt zu demokratisieren: Anders als bei Atom-, Kohle und Gaskraftwerken kann Energie aus Wind und Sonne in kleinen Mengen produziert werden. »Mit den neuen Energieformen drängen daher kleine und mittelständische Unternehmer in den Wettbewerb, die den großen Energieversorgern Marktanteile und Gewinne wegnehmen.« Überflüssig zu sagen, dass sich die Großen wehren, die in den letzten Jahren – Energiewende hin oder her – mehr als gut verdient haben: REW, E.ON und EnBW konnten ihre Gewinne zwischen 2002 und 2010 versiebenfachen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen – hier schreibt keine Ökoaktivistin. Kemfert war Beraterin von EU-Kommissions-Präsidenten José Manuel Barroso, sie gehörte dem Schattenkabinett des geschassten Bundesumweltministers und CDU-Spitzenkandidaten Norbert Röttgen im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2012 an und leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Von der anderen Seite des politischen Spektrums und mit ganz anderem Handwerkszeug gehen die taz-Journalisten Hannes Koch, Bernhard Pötter und Peter Unfried an die Sache heran. »Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen«, heißt ihr 2012 beim Frankfurter Westend Verlag erschienenes Buch. Mit den Mitteln der Reportage versuchen die Autoren zu »erzählen, wie die Energiewende Realität wird, wer sie vorantreibt und wer sie hintertreibt (…), wer sie finanziert und wer von ihr finanziert wird«. Bis 2050 will Deutschland seinen Strom zu 80 Prozent aus regenerativen Energiequellen erzeugen – »kein anderes Industrieland, dessen Fabriken, Krankenhäuser oder Zugverbindungen auf bezahlbare und sichere Stromversorgung angewiesen sind«, habe bislang eine derartige »Operation am offenen Herzen« gewagt.

Man spürt die typische Neugierde und Unbekümmerheit von Tageszeitungsjournalisten, wenn sich die drei Autoren auf die Reise zu den Brennpunkten und Protagonisten der Energiewende machen. Sie besuchen den ehemaligen Atomkraftwerksingenieur Jörg Müller, der als 22-Jähriger in Moskau studierte und dessen geplantes Praktikum im Kernkraftwerk Tschernobyl 1986 wegen der bislang größten zivilen Atomkatastrophe nicht mehr zustande. In den 90er Jahren begann Müller mit Projektierung und Bau von Windparks in Nordostbrandenburg. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 430 Mitarbeiter und überwacht und steuert von seiner Zentrale in der Uckermark 1300 Windkraftanlagen in Deutschland, Polen, Tschechien, Frankreich und Großbritannien.

Die Autoren fahren auf die Nordsee zum Versuchswindpark Alpha Ventus, interviewen den Chef der Deutschen Energieagentur Stephan Kohler und den Vorsitzenden der Solarworld AG Franz Asbeck, treffen sich mit oberschwäbischen Landräten, Energiegenossenschaftlern und Aktivisten einer Bürgerinitiative, die gegen den Bau einer Hochspannungsleitung kämpft, die norddeutschen Windstrom in die süddeutschen Industriegebiete bringen soll. Diese Unmittelbarkeit ist die Stärke des Buches. Koch, Pötter und Unfried gehen auf Tuchfühlung mit der konkreten Energiewende, wie sie sich tatsächlich vollzieht. Und das heißt vor allem: Mit den Akteuren, die sie vorantreiben und mit Forscher- und Unternehmergeist, Ingenieurskunst und politischer Klugheit den Grundstein für die Energieversorgung des 21. und 22. Jahrhunderts legen.

Das Buch hat aber auch Schwächen. So lässt die Begeisterung der Autoren für ihren Gegenstand die Diktion des Buches mitunter in eine Sprache umschlagen, wie man sie eher von einer Werbeagentur erwarten würde. Dass die Beschäftigten in Windkraft- und Solarindustrie ihren Beitrag zur Energiewende oft unter prekären und Niedriglohnkonditionen leisten, fehlt gänzlich. Es passte offenbar nicht ins Bild.

Claudia Kemfert: Kampf um Strom. Mythen, Macht und Monopole.
Hamburg, Murmann Verlag, 7. Auflage 2013. 140 Seiten, 16,90 Euro

Hannes Koch/Bernhard Pötter/Peter Unfried: Stromwechsel . Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen.
Frankfurt, Westend Verlag 2012. 192 Seiten, 12,99 Euro