Das Feld besetzen

Der Glaubwürdigkeitsverlust der politischen Klasse in Spanien trifft auch die etablierten Medien. Doch diese Krise bietet Chancen für Neues. –

Von JÖRN BOEWE und JOHANNES SCHULTEN, 17. Sept. 2015 , Hintergrund Nachrichtenmagazin

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La marcha del cambio, Madrid, 31. Januar 2015

„Ich möchte mich zuerst bei den Mitarbeitern dieses Hauses bedanken, denn ohne ihren Druck wäre ich nicht hier.“ Die Botschaft, mit der Pablo Iglesias, Vorsitzender der spanischen Linkspartei Podemos, sein erstes und bisher einziges Interview beim spanischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Radiotelevisión Española, RTVE, im Dezember 2014 eröffnete, war eindeutig: Der staatliche Rundfunk in Spanien will neutral sein, doch Podemos wird benachteiligt. Noch nachdem die neue Linkspartei bei den Europawahlen im Mai 2014 wie aus dem Nichts acht Prozent erzielte, hatte sich RTVE über ein halbes Jahr lang geweigert, den Gründer und Vorsitzenden Iglesias zu einem Interview ins Studio einzuladen. Mit seiner als Dank an die Beschäftigten formulierten Kritik an der RTVE-Chefredaktion dürfte Iglesias vielen Spaniern aus der Seele gesprochen haben.
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Vom Straßenköter zum Professor

Spanien Im Herbst wird ein neues Parlament gewählt. Die Podemos-Bewegung hat eine wirtschaftspolitische Agenda vorgelegt und liegt derzeit in allen Umfragen vorn

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Der Freitag, 05/2015

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Auf Griechenland folgt Spanien. Das gilt zumindest für die Wahltermine: Im November wählen die Spanier ein neues Parlament. Und wenn es nach den letzten Umfragen geht, dann werden die iberischen Wähler ebenfalls für einen Linksruck sorgen: Die erst vor einem Jahr gegründete Podemos-Bewegung liegt mit etwa 28 Prozent, je nach Umfrage, mindestens drei Prozentpunkte vor Konservativen (PP) und Sozialisten (PSOE). Weiterlesen

Pragmatische Radikale

Podemos’ Antwort auf die Krise in Europa

Von Johannes Schulten und Jörn Boewe, Sozialismus, Heft 01/2015

»Wir müssen bescheiden bleiben und einen Schritt nach dem anderen setzen, statt in Jubel ausbrechen«, sagte Pablo Iglesias, Kopf der neuen spanischen Linkspartei Podemos Anfang Dezember im Interview mit »Luxemburg online«, dem Internetmagazin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. »Aber die Tendenz zeigt Richtung Wechsel.« In der Tat ist Podemos (»Wir können«) momentan eines der interessantesten – und aus linker Sicht hoffnungsvollsten – Phänomene im Europa der Krise. Bei den Europawahlen im Mai 2014 erreichte sie praktisch aus dem Stand 8%. Laut den letzten Umfragen würden ihr 28,3% der spanischen WählerInnen ihre Stimme geben.

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Versammlung von Podemos in Valecncia, August 2014 / Podem Cuitat Valencia https://www.flickr.com/photos/podemvlc/

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Die Wende schaffen

„Die Wende schaffen“ ist der Titel unserer am Mittwoch in der taz veröffentlichten Geschichte über den Berliner Ökoaktivisten Hartwig Berger. Berger, ein  Urgestein der Berliner Alternativen Liste, unterstützt in diesen Tagen unter der unglaublich heißen andalusischen Sonne gemeinsam mit seiner Kollegin Elisabeth Herrera eine kleine Landgemeinde in der Nähe von Cádiz beim Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Junge Leute sollen einkommensschwache Haushalte und Kleinbetriebe beraten, wie sie mit teurer Energie effizienter umgehen können, denn: „Energiearmut ist hier ein Riesenproblem“, sagt Berger. Weiterlesen

»Die Gewerkschaften müssen sehr hart arbeiten«

Gespräch mit Steffen Lehndorff. Über Möglichkeiten, den nationalen Rahmen linker Politik zu ­überwinden, Spaniens Rückkehr zu einem gescheiterten Wachstumsmodell und Merkels »Agenda-Legende«

 Jörn Boewe und Johannes Schulten, junge Welt, 19./20.Juli 2014
Sie sagen, die linken Kontroversen über die Haltung gegenüber der EU seien zu stark in einem Entweder-Oder-Denken gefangen: entweder Vertiefung der Integration oder Rückkehr zum Europa der Nationalstaaten. Statt dessen plädieren Sie dafür, den Integrationsprozeß als faktisches Handlungsfeld anzuerkennen und gleichzeitig auf nationaler Ebene zu handeln. Das klingt vor dem Hintergrund der Schwäche der Linken in Europa etwas utopisch.

Alles klingt utopisch, wenn man von der Frage ausgeht, wie überhaupt diese Grundströmung des Neoliberalismus gestoppt werden kann. Die Frage ist aber, ob eine fortschrittliche soziale Neuorientierung in Europa in einem rein nationalen Rahmen überhaupt noch möglich ist. Der letzte ernsthafte Versuch, in der Europäischen Gemeinschaft eine demokratische und soziale Wende einzuleiten, fand Anfang der 1980er Jahre in Frankreich unter der SP-KP-Regierung von François Mitterrand statt. Er wurde relativ rasch abgebrochen. Im europäischen, im supranationalen Rahmen ist eine solche Wende letztlich eher möglich als isoliert auf nationaler Ebene.  

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Arbeitnehmer zweiter Klasse

Seit Beginn der Eurokrise kommen gut ausgebildete Pflegekräfte aus Südeuropa nach Deutschland. Hier werden einige von ihnen von Medizindienstleistern mit Knebelverträgen und schlechter Bezahlung ausgenutzt. Auch in Berlin.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Berliner Zeitung, 17. Juli 2014

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Iván hat noch Glück gehabt

Viele junge Leute aus EU-Krisenstaaten wollten in Deutschland einen Beruf erlernen. Doch das Förderprogramm „MobiPro-EU“ zog auch windige Geschäftemacher an. Wo es funktionierte, lag das vor allem am Einsatz engagierter Menschen

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, ver.di publik 04/2014

Früh um sieben kommt Iván P. in die Werkstatt in Berlin-Tegel, zieht seinen Overall an, fährt zur Baustelle und montiert Heizungen und Rohre. Um 16 Uhr haben seine Kollegen Feierabend, für den 22-jährigen Spanier gibt es dann nur eine kurze Pause. Von 17 bis 21 Uhr sitzt er in der Volkshochschule und lernt deutsche Grammatik und Vokabeln. 3 000 Kilometer von zu Hause entfernt macht er eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.

„Es ist schwer, in Spanien Arbeit zu finden“, sagt Iván. In seinem Heimatort Paterna de Rivera in Südwest-Andalusien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 75 Prozent. Im Rathaus erfuhr er, dass deutsche Unternehmen Auszubildende suchen und die Regierung in Berlin die Reisekosten, den Sprachkurs und einen Zuschuss zum Lebensunterhalt finanziert. Im Oktober 2013 brach er auf, gemeinsam mit 14 anderen jungen Leuten aus seinem Dorf. Nach einem Praktikum begann er im Februar dieses Jahres mit der Berufsausbildung.

Ministerium vom Andrang überwältigt

„MobiPro-EU“ heißt das Programm, mit dem Iván und seine Freunde nach Deutschland kamen. Im Februar 2013 wurde es unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, CDU, aufgenommen. Jungen Leuten aus EU-Krisenstaaten sollte eine Berufsausbildung in Deutschland ermöglicht werden – in „Mangel- und Engpassberufen“, wie es offiziell hieß. Doch nun, nach 14 Monaten, ist schon wieder Schluss, jedenfalls fürs Erste: „Seit dem 8. April 2014 werden keine neuen Anträge mehr für das Jahr 2014 angenommen“, heißt es auf der Internetseite www.the-jobofmylife.de.

Beim Ministerium und der zuständigen Behörde, der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit (ZAV), heftet man sich den Abbruch als Erfolg ans Revers. Das überwältigende Interesse zeige doch, dass man richtig lag, heißt es. Von Februar bis Dezember 2013 hatten 4 000 junge Menschen Anträge gestellt, allein in den ersten drei Monaten 2014 bewarben sich 5 000. „Das war viel mehr, als zu erwarten war“, sagt ZAV-Sprecherin Beate Raabe.

Über dieses Erstaunen kann man sich wundern, wie über einiges an dem Programm. Obwohl die meisten Interessierten aus Spanien und Portugal kommen, gibt es die Internetseite nur in Deutsch und Englisch. Und offenbar hatte niemand daran gedacht, dass man junge Ausbildungswillige, die als Fremde in unser Land kommen, bei der Wohnungssuche unterstützen müsste.

Doch Iván P. hatte Glück: „Compañero Thomas“, erzählt er, der Betriebsratsvorsitzende seines Ausbildungsbetriebs, half ihm bei der Suche. Zusammen mit zwei anderen jungen Männern aus seinem Dorf wohnt Iván jetzt in einer Wohngemeinschaft. Von den 15, die sie am Anfang waren, sind nur noch sieben übriggeblieben. Die anderen fanden in Berlin keine Wohnung zu einer erschwinglichen Miete.

Teure Baracken

Andere Ausbildungswillige gerieten an windige Geschäftemacher. In Rostock wandten sich Ende Februar zwei Dutzend junge Leute aus Spanien und Osteuropa an die IHK und Arbeitsagentur. Ihr Bildungsträger kassiere zwar das Fördergeld, schrieben sie, doch Unterricht und Vermittlung seien schlecht. Untergebracht waren sie zu sechst in düsteren, kaum beheizbaren Räumen. Für einen Schlafplatz im Doppelstockbett hatte man ihnen 362 Euro monatlich abgenommen. „Das war nur eine Baracke, das hat mich auf die Palme gebracht“, sagt Rostocks IHK-Präsident Claus Madsen, der selbst vor 20 Jahren als junger Mann „nur mit einem Koffer in der Hand“ aus Dänemark nach Deutschland gekommen ist.

Oder in Thüringen: Dort hatten sich Anfang Oktober drei junge Spanier an das „Welcome Center Thuringia“ in Erfurt gewandt, eine gerade erst von der Landesregierung gegründete Anlaufstelle für Migranten. Auch sie waren mit der Aussicht auf Ausbildungsplätze angeworben worden. 500, höchstens 1 000 Euro müssten sie mitbringen, dann würden die Zuschüsse aus „MobiPro“ fließen, hatte man ihnen versprochen. Jetzt arbeiteten sie als Praktikanten bei einer Gartenbaufirma, Ausbildungsplätze und Förderung waren nicht in Sicht. Untergebracht hatte man sie „in Baracken und mit relativ hohen Mietkosten“, wie sich Andreas Knuhr, der Leiter des Welcome Centers, erinnert. Die drei blieben nicht die einzigen. „Schließlich standen wir mit 128 Spanierinnen und Spaniern da.“

Ein Geschäft für private Anbieter

Von einem Riesengeschäft für private Anbieter spricht ein Insider. Arbeitsvermittler, gut vernetzt mit Bildungsträgern, warben Jugendliche im Ausland an, immer mit dem Hinweis auf das bald fließende Fördergeld. Dann wurde kassiert: 600 Euro Reisekostenpauschale, 2 000 Euro für den Sprachkurs, überhöhte Mieten für billige Absteigen, 1 200 Euro Vermittlungsgebühren von den Ausbildungsbetrieben und nochmal Prozente von den Azubis. Kontrolliert hat niemand. „Wenn jemand einen Vertrag mit einem privaten Anbieter
schließt, haben wir damit nichts zu tun“, sagt ZAV-Sprecherin Raabe. Seit 2002 brauchen private Arbeitsvermittler keine behördliche Erlaubnis mehr, um tätig zu werden, erfährt man bei der Arbeitsagentur in Nürnberg. Beim Ministerium gibt es keine Pläne, das zu ändern.

Wo das Programm funktionierte, war das oft dem Engagement beherzter Menschen zu verdanken: Andreas Knuhr und seinem Team, die in Erfurt unbürokratisch Überbrückungsgeld auszahlten, dem dänischem Einwanderer Madsen, der sich in Rostock dahinterklemmte, anständige Ausbildungsplätze für die Jugendlichen zu finden, und „Compañero Thomas“, der Iván und seinen Freunden Carlos und Antonio in Berlin eine Wohnung besorgte.

Iván P. wälzt in der Berufsschule indessen Fachbücher über Klimatechnik. Was er in Berlin lernt, könnte er in Andalusien gut gebrauchen, wo zwar weniger geheizt wird als hier, dafür aber umso mehr gekühlt. Voraussetzung ist, dass die spanische Wirtschaft sich erholt. „Ich könnte mir aber auch vorstellen hierzubleiben“, sagt Iván. Seine Freundin aus Paterna würde gern nach Berlin kommen und eine Lehre in einer Bäckerei beginnen. Einen Antrag bei „MobiPro“ hat sie gestellt, glücklicherweise noch vor dem Förderstopp am 8. April. „Wir hoffen, dass es klappt“, sagt Iván. Alle förderfähigen Anträge, die vor diesem Termin gestellt wurden, würden wahrscheinlich bewilligt, heißt es aus dem Ministerium.