Rasant: Von 180 auf 225

Harter Arbeitskampf beim Textildiscounter um die Tarifverträge des Einzelhandels

Von Johannes Schulten und Jörn Boewe, ver.di publik 08/2014

Ob es schon Ermüdungserscheinungen gibt? Michael Ullrich muss fast lachen. „Im Gegenteil“, sagt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende der KiK-Logistik GmbH. Die Kolleg/innen, die sich am Streik beim Zentrallager des Textildiscounters in Bönen bei Dortmund beteiligen, werden sogar mehr. „Wir haben mit 180 angefangen, jetzt sind wir 225. Und die Stimmung ist bärenstark.“ Ullrich muss es wissen. Als Mitglied der ver.di-Tarifkommission berät er mit seinen sechs Kolleg/innen von Tag zu Tag, ob der Arbeitskampf fortgeführt wird. Dann wird das Ergebnis mit den Streikenden im Streiklokal im Kurpark abgestimmt – „bisher immer unter Jubel“, sagt er. Um der Geschäftsleitung Zeit zum Nachdenken zu geben, wurde der Streik aber jetzt vorerst ausgesetzt. Weiterlesen

Die Starken mit den Schwachen

Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) setzt auf die Solidarität von Seeleuten und Hafen­arbeitern. In Zeiten der Globalisierung inspirieren ihre Erfahrungen auch Gewerkschafter und Beschäftigte in anderen Branchen

Von Jörn Boewe, ver.di publik 07/2014

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Ein Stapel Dokumente liegt auf dem Tisch der Mannschaftsmesse des philippinischen Schüttgutfrachters „Mangan Trader III“: ein Tarifvertrag, Heuerabrechnungen, Überstundennachweise. Mit kritischem Blick prüfen Hamani Amadou und Stefan Kließ die Papiere. Der Kapitän ist freundlich, aber etwas nervös. Amadou ist Inspektor der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) in Rostock, Kließ ist Hafenarbeiter in Lübeck. In dieser Woche Anfang September hat sich Kließ, wie viele seiner Kollegen aus Ostseehäfen in Deutschland, Russland, den baltischen und skandinavischen Staaten, ein paar Tage frei genommen. Nicht um Urlaub zu machen, sondern um die „Baltic Week of Action“ zu unterstützen.

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Im Blog wird’s diskutiert

ver.di online – Beim Einzelhändler Weltbild, und nicht nur dort, setzen immer mehr ver.di-Betriebsgruppen auf Information und Austausch im Netz

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, ver.di publik 05/2014

Nicht alle Kommentare, die dieser Tage auf dem ver.di-Weltbild-Blog gepostet werden, sind lobend: „Mehr persönliche Gespräche“ von Betriebsrat und ver.di fordert Anonym am 23. Juni um 5.32 Uhr, ein ebenfalls anonymer Kollege beklagt, nicht ausreichend informiert zu werden. Andere jedoch danken dem Betriebsrat für seine „Offenheit“ und bestärken ihn darin, „weiterzumachen wie bisher“.

Auch wenn die Kritik manchmal hart ist – Timm Boßmann trägt es mit Fassung. „Mir ist es lieber, als wenn so was nur in der Teeküche geäußert wird. So kann ich die Kritik aufnehmen und dazu Stellung nehmen“, sagt er. Boßmann ist stellvertretender Betriebsratsvorsitzender von Weltbild und eins von fünf Mitgliedern der Redaktion des ver.di-Blogs. Im Juni sitzt er in Verhandlungen mit dem Insolvenzverwalter. „Die Kollegen haben Probleme mit der Ungewissheit und wollen durchgehend informiert werden. Aber wir können nicht jedes Gerücht kommentieren, sondern nur den Stand melden.“

Kommunikation übers Netz

Sechs Monate ist es her, seit die Augsburger Verlagsgruppe Weltbild Insolvenz an gemeldet hat. Die Übernahme durch den Münchner Finanzinvestor Paragon gilt inzwischen zwar als sicher, doch es bleiben noch viele Fragezeichen: Wie viele Beschäftigte werden übernommen? Was passiert mit den Gehältern? Wann gibt es die Abfindungen für die, die in die Transfergesellschaft gewechselt sind?

Kein Wunder, dass viele nervös sind und schnell gereizt reagieren. Der Weltbild-Blog von ver.di ist der zentrale Ort der Diskussion für die Belegschaft, entsprechend geht es hier konkret zur Sache. Den Blog als Informations- und Debatteninstrument schätzt Timm Boßmann gerade in Krisenzeiten. Wer Transparenz wolle, müsse auch mit Kritik umgehen können, sagt er.

Kommunikation über das Netz ist für Gewerkschaft, Betriebsrat und Belegschaft bei Weltbild nicht ganz neu. Seit 2009 wird unter weltbild-verdi.blogspot.de gepostet, diskutiert und informiert. Boßmann war von Anfang an dabei, er gilt als einer der Pioniere des gewerkschaftlichen Bloggens.

Das Beispiel wirkt

Dem Beispiel der ver.di-Blogger bei Weltbild sind andere gefolgt. Ob bei Weltbild, Amazon, Edeka, Netto oder Hugendubel – Gewerkschaft und Aktive setzen heute immer öfter auf kollektiv betriebene Blogs, ebenso wie auf Facebook-Gruppen und Twitter. Und die Erfahrungen zeigen: Gerade in Arbeitskämpfen und harten Auseinandersetzungen machen Social Media die Gewerkschaften stärker. So zuletzt in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes: Als Kitas schlossen und Busse in ihren Depots blieben, erklärten Erzieherinnen und Busfahrer bei facebook und Twitter, warum sie sich zum Streik entschlossen hatten. Die Klickzahlen sprechen für sich: 1,34 Millionen mal wurde hugendubelverdi.blogspot.de seit Gründung im November 2010 aufgerufen, beim ver.di-Blog des Gartenbaucenters Dehner sind es 620 000 Klicks.

„Blogs helfen uns, Defizite traditioneller Formen der Gewerkschaftsarbeit zu kompensieren“, sagt Hubert Thiermeyer, der Leiter des ver.di-Fachbereichs Handel in Bayern. „Besonders dort, wo die Gewerkschaften in den letzten zwei Jahrzehnten durch Flexibilisierung, Outsourcing und Prekarisierung geschwächt wurden, wie im Handel.“ Verlängerte Öffnungszeiten und oft sehr kleinteilige Filialstrukturen führen dazu, dass die Leute sich kaum noch über ihre Arbeit austauschen können. „Doch die gemeinsame Reflexion ist Voraussetzung dafür, aktiv zu werden“, sagt Thiermeyer. Raum dafür könne heute virtuell zumindest zum Teil wiederhergestellt werden, so in einem gemeinsamen Blog.

Argumente für die Öffentlichkeit

In den Blogs bei Amazon, Edeka, Netto oder Hugendubel geht es aber nicht nur darum, die eigene Belegschaft zu mobilisieren. Auch für die Auseinandersetzung in den Medien sind sie ein wichtiges Instrument, denn sie bieten die Möglichkeit, die Probleme der Beschäftigten detailliert und direkt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Die Unternehmer haben fast so viel Angst vor Blogs wie vor Streiks“, sagt Thiermeyer. Wer sich skandalös verhalte, scheue schließlich nichts so sehr wie die Öffentlichkeit.

Neben seiner Betriebsratstätigkeit engagiert sich Timm Boßmann in der gewerkschaftlichen Bildung, er organisiert Blogger-Schulungen und Schreib-Workshops. Viele der ver.di-blogs hat er in ihrer Startphase beraten. Sein Credo: „Blogs machen kann jeder, es braucht nur ein paar Regeln. Die Sätze sollten verständlich und kurz sein, der Inhalt muss regelmäßig aktualisiert werden.“ Wichtig ist ihm auch: „Die Blogs müssen von unten kommen. Die Aktiven müssen die Linie bestimmen.#

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Tipp: Das nächste Blogger-Seminar mit Timm Boßmann findet vom 29. September bis 1. Oktober in der ver.di-Bildungsstätte Brannnenburg statt.

www.haus-brannenburg.de

Zu den Blogs:

hugendubelverdi.blogspot.de
edeka-nst-verdi.blogspot.com
weltbild-verdi.blogspot.com

Iván hat noch Glück gehabt

Viele junge Leute aus EU-Krisenstaaten wollten in Deutschland einen Beruf erlernen. Doch das Förderprogramm „MobiPro-EU“ zog auch windige Geschäftemacher an. Wo es funktionierte, lag das vor allem am Einsatz engagierter Menschen

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, ver.di publik 04/2014

Früh um sieben kommt Iván P. in die Werkstatt in Berlin-Tegel, zieht seinen Overall an, fährt zur Baustelle und montiert Heizungen und Rohre. Um 16 Uhr haben seine Kollegen Feierabend, für den 22-jährigen Spanier gibt es dann nur eine kurze Pause. Von 17 bis 21 Uhr sitzt er in der Volkshochschule und lernt deutsche Grammatik und Vokabeln. 3 000 Kilometer von zu Hause entfernt macht er eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.

„Es ist schwer, in Spanien Arbeit zu finden“, sagt Iván. In seinem Heimatort Paterna de Rivera in Südwest-Andalusien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 75 Prozent. Im Rathaus erfuhr er, dass deutsche Unternehmen Auszubildende suchen und die Regierung in Berlin die Reisekosten, den Sprachkurs und einen Zuschuss zum Lebensunterhalt finanziert. Im Oktober 2013 brach er auf, gemeinsam mit 14 anderen jungen Leuten aus seinem Dorf. Nach einem Praktikum begann er im Februar dieses Jahres mit der Berufsausbildung.

Ministerium vom Andrang überwältigt

„MobiPro-EU“ heißt das Programm, mit dem Iván und seine Freunde nach Deutschland kamen. Im Februar 2013 wurde es unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, CDU, aufgenommen. Jungen Leuten aus EU-Krisenstaaten sollte eine Berufsausbildung in Deutschland ermöglicht werden – in „Mangel- und Engpassberufen“, wie es offiziell hieß. Doch nun, nach 14 Monaten, ist schon wieder Schluss, jedenfalls fürs Erste: „Seit dem 8. April 2014 werden keine neuen Anträge mehr für das Jahr 2014 angenommen“, heißt es auf der Internetseite www.the-jobofmylife.de.

Beim Ministerium und der zuständigen Behörde, der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit (ZAV), heftet man sich den Abbruch als Erfolg ans Revers. Das überwältigende Interesse zeige doch, dass man richtig lag, heißt es. Von Februar bis Dezember 2013 hatten 4 000 junge Menschen Anträge gestellt, allein in den ersten drei Monaten 2014 bewarben sich 5 000. „Das war viel mehr, als zu erwarten war“, sagt ZAV-Sprecherin Beate Raabe.

Über dieses Erstaunen kann man sich wundern, wie über einiges an dem Programm. Obwohl die meisten Interessierten aus Spanien und Portugal kommen, gibt es die Internetseite nur in Deutsch und Englisch. Und offenbar hatte niemand daran gedacht, dass man junge Ausbildungswillige, die als Fremde in unser Land kommen, bei der Wohnungssuche unterstützen müsste.

Doch Iván P. hatte Glück: „Compañero Thomas“, erzählt er, der Betriebsratsvorsitzende seines Ausbildungsbetriebs, half ihm bei der Suche. Zusammen mit zwei anderen jungen Männern aus seinem Dorf wohnt Iván jetzt in einer Wohngemeinschaft. Von den 15, die sie am Anfang waren, sind nur noch sieben übriggeblieben. Die anderen fanden in Berlin keine Wohnung zu einer erschwinglichen Miete.

Teure Baracken

Andere Ausbildungswillige gerieten an windige Geschäftemacher. In Rostock wandten sich Ende Februar zwei Dutzend junge Leute aus Spanien und Osteuropa an die IHK und Arbeitsagentur. Ihr Bildungsträger kassiere zwar das Fördergeld, schrieben sie, doch Unterricht und Vermittlung seien schlecht. Untergebracht waren sie zu sechst in düsteren, kaum beheizbaren Räumen. Für einen Schlafplatz im Doppelstockbett hatte man ihnen 362 Euro monatlich abgenommen. „Das war nur eine Baracke, das hat mich auf die Palme gebracht“, sagt Rostocks IHK-Präsident Claus Madsen, der selbst vor 20 Jahren als junger Mann „nur mit einem Koffer in der Hand“ aus Dänemark nach Deutschland gekommen ist.

Oder in Thüringen: Dort hatten sich Anfang Oktober drei junge Spanier an das „Welcome Center Thuringia“ in Erfurt gewandt, eine gerade erst von der Landesregierung gegründete Anlaufstelle für Migranten. Auch sie waren mit der Aussicht auf Ausbildungsplätze angeworben worden. 500, höchstens 1 000 Euro müssten sie mitbringen, dann würden die Zuschüsse aus „MobiPro“ fließen, hatte man ihnen versprochen. Jetzt arbeiteten sie als Praktikanten bei einer Gartenbaufirma, Ausbildungsplätze und Förderung waren nicht in Sicht. Untergebracht hatte man sie „in Baracken und mit relativ hohen Mietkosten“, wie sich Andreas Knuhr, der Leiter des Welcome Centers, erinnert. Die drei blieben nicht die einzigen. „Schließlich standen wir mit 128 Spanierinnen und Spaniern da.“

Ein Geschäft für private Anbieter

Von einem Riesengeschäft für private Anbieter spricht ein Insider. Arbeitsvermittler, gut vernetzt mit Bildungsträgern, warben Jugendliche im Ausland an, immer mit dem Hinweis auf das bald fließende Fördergeld. Dann wurde kassiert: 600 Euro Reisekostenpauschale, 2 000 Euro für den Sprachkurs, überhöhte Mieten für billige Absteigen, 1 200 Euro Vermittlungsgebühren von den Ausbildungsbetrieben und nochmal Prozente von den Azubis. Kontrolliert hat niemand. „Wenn jemand einen Vertrag mit einem privaten Anbieter
schließt, haben wir damit nichts zu tun“, sagt ZAV-Sprecherin Raabe. Seit 2002 brauchen private Arbeitsvermittler keine behördliche Erlaubnis mehr, um tätig zu werden, erfährt man bei der Arbeitsagentur in Nürnberg. Beim Ministerium gibt es keine Pläne, das zu ändern.

Wo das Programm funktionierte, war das oft dem Engagement beherzter Menschen zu verdanken: Andreas Knuhr und seinem Team, die in Erfurt unbürokratisch Überbrückungsgeld auszahlten, dem dänischem Einwanderer Madsen, der sich in Rostock dahinterklemmte, anständige Ausbildungsplätze für die Jugendlichen zu finden, und „Compañero Thomas“, der Iván und seinen Freunden Carlos und Antonio in Berlin eine Wohnung besorgte.

Iván P. wälzt in der Berufsschule indessen Fachbücher über Klimatechnik. Was er in Berlin lernt, könnte er in Andalusien gut gebrauchen, wo zwar weniger geheizt wird als hier, dafür aber umso mehr gekühlt. Voraussetzung ist, dass die spanische Wirtschaft sich erholt. „Ich könnte mir aber auch vorstellen hierzubleiben“, sagt Iván. Seine Freundin aus Paterna würde gern nach Berlin kommen und eine Lehre in einer Bäckerei beginnen. Einen Antrag bei „MobiPro“ hat sie gestellt, glücklicherweise noch vor dem Förderstopp am 8. April. „Wir hoffen, dass es klappt“, sagt Iván. Alle förderfähigen Anträge, die vor diesem Termin gestellt wurden, würden wahrscheinlich bewilligt, heißt es aus dem Ministerium.