Noch mehr schuften

Arbeit: Schlecht bezahlte Dienstleister bekommen jetzt Applaus vom Balkon. Ihre Jobs werden härter. Jörn Boewe, Johannes Schulten, der Freitag 14/2020

Die Spaltung der Arbeitswelt in Arbeiter und Angestellte hat man lange nicht so deutlich gesehen wie in diesen Tagen. Das Coronavirus sortiert die Beschäftigten: Während die einen stundenlang in Videokonferenzen hängen, fahren die anderen Tag für Tag an ihre Arbeitsstätten. Es sind vor allem Angehörige schlecht bezahlter Dienstleistungsberufe, die jetzt die soziale Infrastruktur am Laufen halten und zu Helden verklärt werden, während ihnen die Privilegierteren allabendlich vom Balkon vorm Homeoffice aus kollektiven Applaus spendieren.

Viele unserer neu entdeckten Helden arbeiten zu so niedrigen Löhnen, dass sie sich schlicht kein Auto leisten können. Sie sind auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen – staatliches Abstandsgebot hin oder her. Man darf in Berlin zwar nicht allein mit einem Buch auf der Parkbank sitzen, mit einem Dutzend niesender Mit-Passagiere im U-Bahn-Abteil aber schon. Weiterlesen

Die dunkle Seite der Automobilindustrie

Automobilindustrie in Baden-Württemberg: Da denkt man an Wohlstand, Tarrifbindung, starke Betriebsräte, mehr als gut bezahlte und sichere Jobs „beim Daimler“ oder „beim Bosch“. Es gibt aber auch eine andere Wahrheit, eine Seite der Realität, die nur wahrnimmt, wer hinsieht – oder darin gefangen ist.
Eine Reportage über den Automobilzulieferer SAM (vorm. Binder) in Geislingen an der Steige. >>> Auszug aus dem Buch: Aufrecht gehen. >>>

»Mit der Keule des Rassismusvorwurfs erschlägt man jeden Diskurs«

Warum er die antirassistische Intention des Aufrufs »Solidarität statt Heimat« teilt, aber ihn trotzdem nicht unterzeichnet hat, erklärt Hans-Jürgen Urban vom geschäftsführenden Vorstand der IG Metall in einem Interview, das Johannes Schulten für den Freitag geführt hat.

»Ich bin sicher, dass die übergroße Mehrheit der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einfach ein Zeichen gegen diese eklatante und widerwärtige Rechtsverschiebung in der Gesellschaft setzen wollte und dass das Bedürfnis dominierte, der Arroganz der Mächtigen und ihrem Rechtspopulismus eine laute Stimme der Humanität und Solidarität entgegenzurufen«, sagt Urban. Zugleich enthalte der Appell »neben den offenkundigen anti-rassistischen Botschaften, denen ich mich anschließe, auch eine versteckte Agenda«, so der Gewerkschafter. »Diese will nicht nach außen einigen, sondern nach innen polarisieren und spalten. Und diese Agenda will ich nicht unterstützen, ich halte sie für fatal.«

Blackbox Werkvertrag

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Von links: Meinhard Geiken (Bezirksleiter IG Metall Küste), Stefan Puls (Radio Bremen), Andrea Nahles (Bundesministerin für Arbeit und Soziales), Jörn Boewe (Journalistenbüro work in progress). Foto: Peter Bisping

»Werkverträge – wie weiter?« – das war das Thema einer Diskussionsrunde mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), Meinhard Geiken, Bezirksleiter der IG Metall Küste, Nordmetall-Hauptgeschäftsführer Nico Fickinger, Christiane Brors, Professorin für Arbeitsrecht an der Universität Oldenburg und Jörn Boewe vom Journalistenbüro work in progress am Freitag auf einer Betriebsrätekonferenz der IG Metall Küste in Bremen. Weiterlesen

Arbeitnehmer zweiter Klasse

Seit Beginn der Eurokrise kommen gut ausgebildete Pflegekräfte aus Südeuropa nach Deutschland. Hier werden einige von ihnen von Medizindienstleistern mit Knebelverträgen und schlechter Bezahlung ausgenutzt. Auch in Berlin.

Von Jörn Boewe und Johannes Schulten, Berliner Zeitung, 17. Juli 2014

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Rechtlose Erntehelfer

IG BAU prangert menschenunwürdige Zustände in der Landwirtschaft an. Drastischer Fall in Thüringen offenbart aber auch Schwäche von Kontrollbehörden und Gewerkschaft

Von Jörn Boewe, junge Welt, 17. Juni 2014

Die Erdbeerernte läuft auf Hochtouren und gibt der Debatte um weitere Ausnahmen vom geplanten gesetzlichen Mindestlohn neuen Schwung. Am Donnerstag vergangener Woche trafen sich Vertreter der landwirtschaftlichen Großbetriebe bei Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), um für eine Sonderregelung für Saisonarbeiter zu werben. Die Branche habe »allergrößte Bedenken gegen die Einführung eines Mindestlohns«, sagte Bauernverbandspräsident Joachim Rukwied der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Nach Ansicht des Agrarfunktionärs würde der Anbau von Obst, Gemüse und Wein in Deutschland unter einer gesetzlichen Lohnuntergrenze »erheblich leiden«.

Derweil leiden derzeit vor allem Saisonarbeiter aus Osteuropa, weil es in der Landwirtschaft bislang keinen verbindlichen Mindestlohn gibt und sie sich in der Praxis ganz allgemein in einer weitgehend rechtlosen Situation befinden. Auf einen besonders drastischen Fall machte die zuständige Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt am Freitag aufmerksam. Rumänische Erntehelfer, die auf dem Erdbeerhof Gebesee in Thüringen eingesetzt waren, hatten sich mit einem Hilferuf an den Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen gewandt, eine gewerkschaftliche Organisation, die sich speziell um Saisonarbeiter kümmert und vor einigen Jahren auf Initiative der IG BAU gegründet worden war.

In dem Großbetrieb 20 Kilometer nördlich von Erfurt waren den Angaben der Gewerkschaft zufolge rund 700 Erntehelfer eingesetzt und – so der Notruf – unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Jeweils rund 20 Menschen hätten sich Zimmer von etwa zehn Quadratmetern geteilt, für alle zusammen gebe es nur drei Sanitärbereiche, hieß es. Für gut 230 Personen habe es je eine Dusche und WC gegeben, hieß es in der Erklärung der IG BAU. Die Erntehelfer hätten die »Behausungen« auch noch von ihrem kargen Akkordlohn bezahlen müssen. Auf die Stunde gerechnet habe dieser bei »nicht einmal drei Euro« gelegen.

»Solche Skandale können einem den Appetit auf Erdbeeren gründlich vermiesen«, erklärte der stellvertretende IG-BAU-Bundesvorsitzende Harald Schaum. »Leider sind sie in der Landwirtschaft kein Einzelfall.« Die Gewerkschaft erlebe »immer wieder, daß Erntehelfer auf das übelste ausgebeutet werden«.

Die Stimmung unter den Saisonarbeitern, die den Angaben zufolge überwiegend aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien kommen, war explodiert, nachdem am Pfingstmontag zwei Arbeiterinnen von einem Traktor gestürzt und von einem Anhänger überrollt worden waren. Die beiden Frauen mußten laut Polizei mit einem Rettungshubschrauber in ein Krankenhaus geflogen werden. Wie es bei der Gewerkschaft hieß, soll Angehörigen untersagt worden sein, die Verletzten im Krankenhaus zu besuchen, statt dessen habe man sie zur Weiterarbeit angehalten.

Nach Informationen einer Erntehelferin, die sich an den Wanderarbeiterverein wandte, reagierte das Unternehmen am Mittwoch vergangener Woche rigoros: Zwei rumänische Saisonkräfte, die des Englischen mächtig waren und die man offenbar als Rädelsführer ansah, seien vom Betriebsgelände verwiesen und zum Erfurter Hauptbahnhof gebracht worden.

Sekretäre der zuständigen IG-BAU-Gliederung in Magdeburg fuhren zu dem Betrieb, konnten aber keinen direkten Kontakt zu den Beschäftigten herstellen, war bei der Gewerkschaft zu erfahren. Die Beratungsstelle »Faire Mobilität« beim DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg wurde in Kenntnis gesetzt. Doch auch dort fehlte es offenbar an Personal, Leute nach Thüringen zu schicken und sich in den Konflikt einzuschalten. So habe man die zuständige Ermittlungsbehörde, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung informiert. Ob diese inzwischen Ermittlungen eingeleitet hat, war am Montag nicht in Erfahrung zu bringen.

Informiert wurden auch die Fraktionen der Linken und der SPD im Thüringer Landtag. Die SPD stellte am Freitag eine entsprechende parlamentarische Anfrage an die Landesregierung, über die die lokale Presse berichtete. Das Unternehmen wies daraufhin die Vorwürfe als »haltlos« zurück. Die effektive Arbeitszeit betrage rund neun Stunden am Tag, die von einem früheren Internatsbetrieb übernommenen Zimmer seien mit zwei bis acht Erntehelfern belegt, sagte der geschäftsführende Gesellschafter des Erdbeerhofes, laut Nachrichtenportal ­insüdthüringen.de.­ Der Verdienst der Erntehelfer liege bei 1000 bis 1500 Euro im Monat, wovon ihnen sechs Euro pro Tag für Unterkunft und Verpflegung abgezogen würden. Ein Unternehmenssprecher sagte der Thüringer Allgemeinen, es gebe »Anstifter, die Unruhe unter den Helfern provozierten«.

Laut IG BAU sind derzeit deutschlandweit rund 300000 Saisonarbeiter in der Landwirtschaft im Einsatz. Bei einem großen Teil sparen sich die Unternehmer nach Gewerkschaftsangaben die Sozialversicherungsbeiträge, indem sie eine Gesetzeslücke ausnutzen. Danach entfällt für Beschäftigungsverhältnisse die auf maximal 50 Tage befristet sind, die Versicherungspflicht. Die Regelung war ursprünglich für Ferientätigkeiten von Schülern und Studenten gedacht.