Die dunkle Seite der Automobilindustrie

Automobilindustrie in Baden-Württemberg: Da denkt man an Wohlstand, Tarrifbindung, starke Betriebsräte, mehr als gut bezahlte und sichere Jobs „beim Daimler“ oder „beim Bosch“. Es gibt aber auch eine andere Wahrheit, eine Seite der Realität, die nur wahrnimmt, wer hinsieht – oder darin gefangen ist.
Eine Reportage über den Automobilzulieferer SAM (vorm. Binder) in Geislingen an der Steige. >>> Auszug aus dem Buch: Aufrecht gehen. >>>

»Mit der Keule des Rassismusvorwurfs erschlägt man jeden Diskurs«

Warum er die antirassistische Intention des Aufrufs »Solidarität statt Heimat« teilt, aber ihn trotzdem nicht unterzeichnet hat, erklärt Hans-Jürgen Urban vom geschäftsführenden Vorstand der IG Metall in einem Interview, das Johannes Schulten für den Freitag geführt hat.

»Ich bin sicher, dass die übergroße Mehrheit der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einfach ein Zeichen gegen diese eklatante und widerwärtige Rechtsverschiebung in der Gesellschaft setzen wollte und dass das Bedürfnis dominierte, der Arroganz der Mächtigen und ihrem Rechtspopulismus eine laute Stimme der Humanität und Solidarität entgegenzurufen«, sagt Urban. Zugleich enthalte der Appell »neben den offenkundigen anti-rassistischen Botschaften, denen ich mich anschließe, auch eine versteckte Agenda«, so der Gewerkschafter. »Diese will nicht nach außen einigen, sondern nach innen polarisieren und spalten. Und diese Agenda will ich nicht unterstützen, ich halte sie für fatal.«

aufrecht gehen (1): Aufstand in der Komfortzone

Nach dem Dampfablassen hätten jetzt Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung folgen können, mehr oder weniger hinter verschlossenen Türen. InteressenvertreterInnen hätten mit Managern nach einem irgendwie vertretbaren Kompromiss gesucht, hätten externe Sachverständige hinzugezogen und nach zähen Sitzungen ein Ergebnis vorgelegt, für das sie, wie auch immer es ausgesehen hätte, mehr Prügel als Beifall bekommen hätten. Eigentlich hätte es so laufen müssen.

»Es gibt beim Bosch so ein Bild von Betriebsräten und Gewerkschaftern«, sagt Tobias. »Die treffen sich ständig zu irgendwelchen Sitzungen, trinken Kaffee und handeln irgendetwas mit dem Management aus. Zur Tarifrunde stehen sie mit der roten Fahne vorm Tor. Und meistens machen sie ihren Job auch ganz gut. Etwas anderes als Stellvertreterpolitik wird deshalb gar nicht erwartet.« In normalen Zeiten war das bequem und funktionierte, aber die Zeiten waren nicht mehr normal. »Diesmal mussten wir es anders angehen.«

Die Szene aus unserem Buch »aufrecht gehen« beschreibt die Situation im Juni 2015: Die Robert Bosch GmbH hatte beschlossen, einen ihrer traditionellen Kernbereiche, die Starter- und Generatorensparte zu verkaufen.1300 Beschäftigte in Stuttgart und Hildesheim wissen nicht, wie es weitergehen würde. Ihre Arbeitsbedingungen und Sozialstandards sind auch für deutsche Verhältnisse hervorragend – aber würde das so bleiben, wenn die chinesischen Investoren einsteigen? Klar ist: Der Verkauf ist nicht mehr zu verhindern. Also muss es darum gehen, die Standards für die Beschäftigten zu sichern – von der Kantine bis zur Betriebsrente.

Wie eine Handvoll Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen in dieser Situation mit Organizing-Methoden die Belegschaft mobilisieren, wie sich Leute, die über Jahrzehnte nichts anderes als Stellvertreterpolitik gewohnt waren, plötzlich in ihre eigenen Belange einmischen – davon berichten wir in der Reportage »Aufstand in der Komfortzone« im Buch »aufrecht gehen. Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen«.

Betriebsrat und »A-Team« informierten in wöchentlichen Versammlungen über den laufenden Verhandlungsprozess. »Wir haben zusätzlich zur Betriebsratssprechstunde Inforunden organisiert, teilweise im Hof, teils in verschiedenen Abteilungen«, erinnert sich Anna. »An manchen Tagen hatten wir fünf, sechs, sieben Meetings an einem Tag.« Tatsächlich waren die Versammlungen nicht nur reine Informationsveranstaltungen: »Leute haben gesagt: Gib mir eine Aufgabe, sag mir, was ich machen soll.« Einige Aktive bildeten eine »Hintergrundkommission«, die die Betriebsräte bei den Verhandlungen begleitete und unterstützte. Die Entscheidung für 1.300 Kolleginnen und Kollegen in Deutschland und 7.000 weltweit sollten nicht zwei, drei Betriebsräte allein treffen.

Das Angebot einer zunächst kleinen Gruppe an die Vielen, sich an einem Konflikt zu beteiligen, der zwar hart, aber im Prinzip gewinnbar war, verhindert, dass die Leute in Apathie verfallen:

Nach dem Schock vom Juni, nach der spontanen Empörung und dem großen Dampfablassen war etwas geblieben: die Bereitschaft, sich gemeinsam mit anderen zu bewegen, um zu retten, was zu retten war. Und diese Bereitschaft ging weit über den Bereich der IG Metall-Mitglieder hinaus: Auch zahlreiche Ingenieure und andere technische Angestellte gingen auf einmal zu Versammlungen und beteiligten sich an Aktionen. Viele von ihnen hatten sich jahrelang lustig gemacht über die Deppen, die ein Prozent ihres Einkommens an die Gewerkschaft abführen, für etwas, was doch ohnehin alle bekamen – die tariflichen Leistungen, die betrieblichen Sozialstandards.

Wie sie am Ende erfolgreich sind und was, über das materielle Ergebnis hinaus, vielleicht bestehen bleibt und als neue betriebspolitische Kultur fortwirkt, könnt ihr nachlesen ab Seite 76 ff. in:

IG Metall Bezirk Baden-Württemberg (Hrsg.)
aufrecht gehen
Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen
VSA-Verlag Hamburg, 2018
160 Seiten | Hardcover | EUR 16.80
ISBN 978-3-89965-781-4

 

 

Read and organize!

Anregende Diskussionen, großes Interesse, viele alte Bekannte und neue Gesichter am Donnerstagabend in Rastatt bei der Vorstellung des Buches „aufrecht gehen – wie Beschäftige durch Organizing zu ihrem Recht kommen“, herausgegeben von der IG Metall Baden-Württemberg.  In zehn Betriebsreportagen haben wir Geschichten aufgeschrieben, die zeigen: Menschen, die zusammenhalten, sich organisieren und bewegen, können gemeinsam Dinge verändern. Infos zum Buch und eine Leseprobe gibt’s auf der Seite des VSA-Verlags.

Johannes Schulten (li.) im Gespräch mit Roman Zitzelsberger, Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg

Write, read and organize: Jörn Boewe liest Passagen aus "aufrecht gehen"

Write, read and organize: Jörn Boewe liest Passagen aus „aufrecht gehen“

Der Saal „Staffelschnatzer“ in der Badner Halle in Rastatt war voll

„Ökonomie jenseits der schwäbischen Hausfrau“

Wir möchten auf eine interessante Veranstaltung hinweisen:

„Ökonomie jenseits der schwäbischen Hausfrau“: Prof. Heiner Flassbeck zur Situation der Eurokrise

Donnerstag, 14. Juni 2018, 19:00 bis 21:00 Uhr in Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Seminarraum 1, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Heiner Flassbeck (Foto: Wikipedia)

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Und jetzt alle

»Und jetzt alle« steht über dem Text von Jörn Boewe zur aktuellen Tarifrunde im Öffentlichen Dienst in der Wochenzeitung Der Freitag (13/2018). Denn leider gelten die Forderungen der Gewerkschaften nicht für alle Beschäftigten der Öffentlichen Hand:

»Das ist der ›blinde Fleck‹ dieser Tarifrunde: So offensiv und legitim die Forderungen der Gewerkschaften sind – einige der drängendsten strukturellen Probleme der Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden nicht mal angesprochen: die outgesourcten, tariflosen oder mit Billigtarifverträgen abgespeisten Tochtergesellschaften kommunaler Unternehmen, die unterschiedlichen Standards für Beschäftigte, die die gleiche Arbeit machen, der jahrzehntelange Vormarsch atypischer Arbeitsverhältnisse beim einstigen Musterarbeitgeber. Mehr als ein Drittel aller Staatsbeschäftigten sind mittlerweile atypisch beschäftigt – meist befristet oder in unfreiwilliger Teilzeit. Hat Verdi wirklich Mut, muss sich die Gewerkschaft da ranwagen.«

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Insourcing mit Tücken

Vor einem Jahrzehnt lagerte das Land Berlin zahlreiche Beschäftigte in tariflose Tochterfirmen aus. Das will der rot-rot-grüne Senat jetzt umkehren. Doch gleichen Lohn für gleiche Arbeit bedeutet das noch lange nicht. Von Jörn Boewe, Hintergrund IV/2017

Es war eine Erfolgsmeldung mit »aber«: Das Land Berlin kauft die 2006 ausgegliederte und teilprivatisierte Servicegesellschaft CFM des Berliner Universitätsklinikums Charité zurück, hatte der rot-rot-grüne Senat im März 2017 beschlossen. Inzwischen ist klar: Trotz Insourcings wird es auf lange Sicht weiter Beschäftigte verschiedener Klassen geben. Eine Angleichung ans Lohnniveau des Tarifvertrags für den Öffentlichen Dienst (TVÖD) »können wir uns nicht leisten «, stellte Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) Ende August in der Presse klar.

2011: Beschäftigte der unter Rot-Rot teilprivatisierten Charité-Servicegesellschaft streiken für einen Tarifvertrag. Foto: Frank Eßers (CC BY-NC-SA 2.0)

Der Fall zeigt ein grundsätzliches Dilemma von Berlins Mitte-Links Regierung. In ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2016 hatten sich SPD, Linke und Grüne versprochen, sich dafür einzusetzen, dass »für Landesunternehmen und ihre Tochterunternehmen, die bisher noch nicht tarifgebunden sind, zügig mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung und der Angleichung an den TVöD Tarifverträge abgeschlossen werden«. Insbesondere das über Jahre praktizierte »Outsourcing in öffentlichen Einrichtungen und Betrieben mit lediglich dem Ziel, sich aus Tarifbindungen zu lösen« wolle man künftig »unterbinden«, heißt es dort.i

Das klingt gut, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Senat an die Lösung von Problemen geht, die eine andere Mitte-Linksregierung – Rot-Rot zwischen 2002 und 2011 – erst geschaffen hatte. Nicht wenige der heutigen politischen Akteure waren damals schon in Verantwortung. Doch nun zeigt sich: Selbst wo es kurz- und mittelfristig zu einer Kommunalisierung ausgelagerter Unternehmen kommt, bedeutet das noch lange keine Angleichung der Einkommens- und Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Einmal etabliert, erweisen sich prekäre Verhältnisse als ausgesprochen langlebig – an der Charité und anderswo.
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Tarifverträge für die Welt

Online-Handel: Die Streiks bei Amazon haben zentrale Bedeutung für die Zukunft der Arbeiterrechte im digitalen Kapitalismus

Jörn Boewe, Johannes Schulten, der Freitag, 47/2017

Seit viereinhalb Jahren kämpfen Amazon-Beschäftigte mit ihrer Gewerkschaft Verdi in den deutschen Versandzentren des größten Onlinehändlers der Welt für einen Tarifvertrag. Zählt man die Streiktage zusammen, kommt man auf mehr als ein halbes Jahr. In diesen Tagen, da das Weihnachtsgeschäft an Fahrt aufnimmt, türmt sich schon die nächste Streikwelle auf. Seit Ende September legten in den meisten deutschen Versandzentren Hunderte Beschäftigte die Arbeit nieder. Und das, obwohl Amazon die Stundenlöhne gerade erst um 26 Cent angehoben hat. Offenkundig ein unmittelbarer Effekt des Arbeitskampfes, der – so viel steht jetzt schon fest – als einer der zähsten und langwierigsten in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen wird.

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Schwäbische Gewerkschaftshasser

Automobilzulieferer versuchte vergeblich, gewerkschaftliche Vertretung seiner US-Beschäftigten zu verhindern

Von Jörn Boewe, neues deutschland, 18. Nov. 2017

»Wir legen Wert auf faires Miteinander.« Und: »Unsere Mitarbeiter genießen große Freiräume.« So sieht sich das Familienunternehmen Eberspächer aus dem malerischen Esslingen am Neckar selbst. So kann man es zumindest auf der Internetpräsenz der Firma lesen.

Vielleicht ist das gar nicht ernst gemeint, so wie der »Code of Conduct«, den sich das Unternehmen erst vor zwei Monaten gab, und in dem man sich gleich auf drei internationale Konventionen beruft, die das Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung garantieren. Denn die Praxis sieht bei Eberspächer ganz anders aus. Schon innerhalb Deutschlands gibt es ein Zwei-Klassen-System: Während an den Altstandorten Esslingen und Neunkirchen (Saar) noch der Flächentarifvertrag der IG Metall gilt, weigert sich das Unternehmen im ostdeutschen Torgelow seit Jahren, über einen Tarifvertrag auch nur zu verhandeln – die Löhne liegen hier nur knapp über der Hälfte des Westniveaus.

Arbeiter aus Torgelow unterstützen ihre Kollegen in Brighton (MI)

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The Amazon strikes: Laboratory of resistance

Amazon, the No. 1 online retailer in the world is one of the most important trendsetter for work place organization and labour relations in the 21st century. And so the perspectives of industrial action, unionization and collective bargaining at that company are a crucial issue for the labour movement of today and tomorrow.

We will discuss these points at this year’s conference of the journal Historical Materialism: Research in Critical Marxist Theory, at the SOAS University in London on Friday, 2 p. m. re (look here for conference timetable).

For all who cannot attend or may be interested in a brief overview, here’s our presentation for download.